Archiv für Juli 16th, 2015

Vom “beliebtesten Lehrling der Schweiz” zum “faulsten Azubi aller Zeiten”

Gestern ging eine sympathische Geschichte auf Viral-Tour durch die Schweiz. Ergebnis:

Und das kam so: Weil Cyril, der Lehrling einer Werbeagentur, seine Abschlussprüfung bestanden hatte, schrieben ihm seine Chefs ein paar Zeilen auf Facebook …

… und posteten ein paar seiner kreativsten “Entschuldigungen”:

Eine Rache-Aktion der Chefs am verträumten Lehrling? “Nein, im Gegenteil”, erklärte Benjamin Franz (der Empfänger der Ausreden) dem Schweizer Portal “Watson”: Der Post sei …

eine Hommage an einen herzlichen und ehrlichen Lehrling und die spannenden Jahre, die wir mit ihm erleben durften. (…) Cyril ist ein äusserst talentierter junger Gestalter und rundum ein guter und sympathischer Mitarbeiter. Wir haben dem immer mehr Gewicht zugemessen als seiner Pünktlichkeit. Und selbst bei seinen “Entschuldigungen” hat er sich ja noch durch Kreativität hervorgetan. (…) Und wenn er mal wieder zu spät kam, dann blieb er auch tatsächlich immer länger. So ist das mit dem Biorhythmus halt …

Der Lehrling selbst habe die Sache “mit seinem üblichen Humor genommen”.

Was er jedoch nicht mitbekommen hat, ist, dass der Post plötzlich viral ging und er über Nacht zum bekanntesten Lehrling der Schweiz wurde.

Mehrere Tausend Likes bekam der Eintrag, die Kommentare überwiegend positiv. Alles lustig, alles schön.

Bis die deutsche “Huffington Post” kam.

“Unglaublich plump” und “frech” und “dreist”, schreibt die “Huffington Post” und clickbaitet:

Das veranlasste die Agentur, den Post zu löschen und eine Stellungnahme zu veröffentlichen:

Immerhin: Inzwischen zitiert die “Huffington Post” unter dem Artikel den Geschäftsführer der Agentur mit den Worten, Cyril habe sich “nie vor der Arbeit gedrückt” und sei keinesfalls faul. Und den “faulsten Azubi aller Zeiten” in der Überschrift hat die Redaktion gnädigerweise in Anführungsstriche gesetzt.

Mit Dank an Andreas für den Hinweis und watson.ch für die Screenshots.

Nachtrag, 28. Juli: Die “Huffington Post” hat den Artikel inzwischen erneut geändert. Die Überschrift lautet jetzt: “Die Ausreden dieses Azubis werden Sie so bald nicht vergessen”, und auch sonst klingt der Text viel versöhnlicher; von “faul” und “dreist” und “plump” ist keine Rede mehr, dafür spricht die “Huffpo” nun von “durchaus charmanten Ausreden”.

Recht auf Vergessenwerden, verärgerte Griechen, Vertrauen

1. „Chatting in secret while we’re all being watched“
(firstlook.org/theintercept, Micah Lee, englisch)
Blogger und Aktivist Micah Lee gibt eine Anleitung, wie mit „Jabber” und „Tor“ Edward Snowden-like private Kommunikation geschützt werden kann.

2. „Vergiss mich, Google!”
(correctiv.org, Sylvia Tippmann)
Das Recherchebüro “Correctiv” wirft gemeinsam mit dem “Guardian“ (Artikel auf Englisch) einen Blick auf die Zahlen hinter das Recht auf Vergessen “Recht auf Vergessenwerden”. Google äußere sich zu den Löschanfragen bisher sehr eingeschränkt und mit „drastischen Beispielen”, die „kontroverse Anfragen, von Kriminellen bis hin zu fragwürdig agierenden Politikern“ bebildern. Der Großteil der Anfragen würde sich aber auf „Privates und Persönliches“ beziehen.

3. „Griechen ärgern sich über deutsche Medien“
(srf.ch, Camilla Alabor)

4. „Deutschland muss für eine Prise Sex und Perversion herhalten“
(meedia.de, Alexander Becker)
Nach dem Motto „Wir zeigen die Welt, wie sie wirklich ist” plaudert Benjamin Ruth, Herausgeber der deutschen „Vice“, im Interview. Anlass ist das zehnjährige Bestehen des Ablegers hierzulande. Dazu auch: „10 unfassbar geile und gute Geschichten, für die wir Vice dankbar sind“ (editionf.com, Nora-Vanessa Wohlert).

5. „Der fragwürdige Erfolg von Restaurant-Coach Rosin“
(ndr.de/zapp, Gita Datta, Video, 7:36 Minuten)
Für „Zapp“ hinterfragt Gita Datta das „Kabel eins“-Coaching-Format „Rosins Restaurants”: „Zahlreiche ehemalige Teilnehmer beklagen sich gegenüber Zapp über fragwürdige Methoden bei den Dreharbeiten, über erfundene Geschichten und gestellte Situationen.“

6. Trau, schau, wem!
(punktmagazin.ch, Ronnie Grob, David Fehr, Boris Gassmann)
Die goldenen 1980er und 1990er des Journalismus sind passé. In einer umfassenden Analyse gehen die Autoren der Frage nach: „Wem kann man noch trauen?“

Auch wenn ein Unternehmen die Rechnung bezahlt: Unabhängiger oder zumindest teilweise unabhängiger Journalismus ist durchaus möglich. Es kommt ganz darauf an, wie viel Freiheit den Journalisten zugestanden wird.