Archiv für Juni 12th, 2015

“FAZ” verkalkuliert sich beim unkalkulierbaren Griechen-Risiko

Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” schlägt in ihrer heutigen Ausgabe Alarm:

Eines der Probleme: Das durchschnittliche Renteneinstiegsalter der Griechen soll so verdammt niedrig sein:

Die griechische Regierung von Alexis Tsipras spricht in ihrer Vorlage für die Reformpartner und Gläubiger Griechenlands davon, dass man für das kommende Jahr als Zielgröße ein durchschnittliches Renteneintrittsalter von 56,3 Jahren ansteuern wolle

Okay, dann noch einmal extra für die “FAZ”: Das stimmt nicht.

Die ausführliche Erklärung haben wir gestern hier aufgeschrieben. Zusammengefasst: Die 56,3 Jahre, die die “FAZ” als geplantes “durchschnittliches Renteneintrittsalter” Griechenlands verkauft, beziehen sich nicht auf alle Griechen, sondern nur auf Angestellte im öffentlichen Dienst. Das steht so auch in einer Tabelle (Rententräger “PS Δημóσιο”) der “Vorlage für die Reformpartner” (PDF), auf die sich die “FAZ” beruft. Hätte die Redaktion vier Spalten weiter rechts geguckt, hätte sie gesehen, dass das gleiche Papier das für 2016 geplante Renteneinstiegsalter für Angestellte in der griechischen Privatwirtschaft (Rententräger “IKA-ETAM”) mit 60,6 Jahren angibt.

Schon vor drei Tagen hatte die “FAZ” den Quark mit den 56,3 Jahren verbreitet:

In der heutigen Ausgabe setzt die “FAZ” aber noch einen drauf:

In Deutschland liegt der durchschnittliche Rentenbeginn derzeit bei 64 Jahren.

Auch das stimmt nicht. Eine Statistik der Deutschen Rentenversicherung (PDF) sagt zwar, dass das durchschnittliche Zugangsalter bei Renten “wegen Alters” 64,1 Jahre betrage. Rechnet man jedoch all die Fälle hinzu, die “wegen verminderter Erwebsfähigkeit” früher in Rente gehen (durchschnittlich mit 51 Jahren), sinkt der Wert auf 61,3 Jahre.

Die “FAZ” baut also zwei Schnitzer — zufälligerweise genau die, die auch “Bild” gemacht hat. Und wer klammert sich wiederum an die “FAZ”, um seinen eigenen Mist zu rechtfertigen? Na klar:

Mit “Bild” beim Teenie-Sex im Spaßbad

Fassen wir die Geschichte zur Sicherheit einmal trocken zusammen: Ein junges Pärchen (volljährig) war im vergangenen Winter im Schwimmbad, hatte dort (so eine Art) Sex, wurde erwischt, angezeigt und schließlich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt.

Und jetzt in den Worten von “Bild”-Mann Jörg Völkerling:

Das war wirklich ungezogen, was diese liebestollen Teenager ausgezogen in der Erlebnisgrotte abzogen …

(kurze Pause, bis sich das Johlen im Publikum gelegt hat … so, weiter geht’s)

Feucht-fröhliche Liebesspiele im Spaßbad […] brachten Paul R.* (18) und seine Freundin Lisa M.* (19, *Namen geändert) jetzt vor das Augsburger Amtsgericht. Wegen (heftiger) Erregung öffentlichen Ärgernisses!

Besonders einsichtig zeigten sich die beiden nicht. Zum Prozess kam das Paar 15 Minuten zu spät, fläzte sich frech auf die Anklagebank. Als Richter Bernhard Kugler nachfragte, antwortete Paul R. lässig: „Ich bin wegen dem Verkehr zu spät.“

Mit dem Verkehr hat der junge Mann offenbar so seine Probleme.

(…)

Paul R. zeigt sich weiter uneinsichtig. Deshalb entschließt sich der Richter, die Videos der Unterwasserkameras zu zeigen.

Dafür schickt er die Öffentlichkeit aus dem Saal (was Völkerling erst in einem späteren Artikel erwähnt) und lässt sie erst danach wieder rein.

Er verurteilt Paul R. zu einem Dauerarrest von zwei Wochen, die Angeklagte zu einem Freizeitarrest und zu 32 Stunden Hilfsdienst – so viel Strafe hatte nicht einmal die Staatsanwaltschaft gefordert. Doch in diesem Fall wollte das Gericht wohl ein (S)Exempel statuieren.

So weit Völkerlings Pointenfeuerwerk — erschienen am Dienstagabend in vergleichsweise dezenter Aufmachung:

Im Normalfall hätten die Leute von “Bild” es vermutlich dabei belassen oder höchstens noch die ein oder andere Sammlung heißer Sex-Urteile oder ein paar Promi-Zitate zu pikanten Jugend-Sünden hinterhergeschoben, doch keine vier Stunden später veröffentlichte Bild.de schon den nächsten Artikel zu dem Fall, wieder von Völkerling, aber viel größer aufgemacht. Im Grunde genau der gleiche Text, doch diesmal mit einem ganz speziellen Extra: Fotos!

Von den Teenis!

Beim Sex!


(Verpixelung von uns. Gilt auch für alle folgenden Screenshots.)

Allerdings gab’s die „scharfen Unterwasser-Fotos“ (Bild.de) nur für zahlende Kunden:

Sehen Sie mit BILDplus, wie wild es Paul R. (18) und seine Freundin Lisa M. (19) wirklich trieben!

Am nächsten Morgen dann auch „Porno pur“ für alle Print-Leser, nahezu halbseitig auf dem Titelblatt:

Im Innenteil dann noch mal in aller Ausführlichkeit:

Und am Mittag, endlich:

Über eine Minute lang sind die (unkenntlich gemachten) Sex-Versuche aus mehreren Perspektiven zu sehen — aber wieder nur gegen Bezahlung:

Sehen Sie mit BILDplus die delikaten Videoaufnahmen. Was wirklich geschah, und warum das als Beweismittel so wichtig ist – schauen Sie selbst!

Hereinspaziert, hereinspaziert. Sehen Sie junge Amateure beim Unterwasser-Fummeln, exklusiv bei Deutschlands weltgrößtem News- Informations- Dings-Portal!

Zwischendurch gab’s tatsächlich noch den halbherzigen Versuch einer sinnvollen Annäherung an das Thema, diesmal auch ohne Paywall:

Bebildert — natürlich — so:

Im Text kommt ein Herr “von der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen e.V.” zu Wort und erzählt allerlei vom “Recht am eigenen Bild” und Datenschutz, aber unter Wasser muss man das ja alles nicht so eng sehen:

Unproblematisch hingegen seien die Unterwasser-Aufnahmen. Michael Weilandt: „Die Unterwasserkameras zur Aufsicht sind nicht so ein großes Problem, weil die Qualität nicht so gut ist und die Personen ja nicht wirklich erkennbar sind.“

(Man beachte auch, wie Bild.de aus einem nicht so großen Problem gar keins mehr macht.)

Wie es um die anschließende Veröffentlichung solcher Aufnahmen bestellt ist, erklärt der Mann nicht. Aber danach haben ihn die “Bild”-Leute bestimmt auch nicht gefragt.

Die machen auf jeden Fall munter weiter, so lange das Eisen noch feucht, äh, ja. Völkerling, Ihr Stichwort.

Online gibt’s das alles selbstverständlich wieder nur bei “Bild-Plus”:

Wie es zu dem wilden Unterwasser-Sex kam, was die Teenager über ihr Liebesleben sagen und warum sie sich von den Bademeistern schlecht behandelt fühlen – das lesen Sie hier!

Fehlt eigentlich nur noch die Sammlung heißer … ach, schau an:

Selbst einen Brief von Franz-Josef Wagner hat der “liebe Sex im Schwimmbad” inzwischen bekommen (“Sex ist die Nähe zum Glück. Lassen wir doch die beiden Liebenden schwimmen. Herzlichst”).

Woher „Bild“ die Bilder der Überwachungskameras hat, ist indes unklar.

Das Gericht schrieb uns auf Anfrage, es habe „das fragliche Bild- und Videomaterial nicht an die ‘Bild’-Zeitung oder an Bild.de ausgehändigt“. Auch der Geschäftsführer des Schwimmbads erklärte gegenüber BILDblog, das Video nicht weitergegeben zu haben. Zurzeit werde noch überprüft, wie das Blatt an die Bilder kommen konnte. Ein Anwalt sei bereits eingeschaltet.

Warum „Bild“ die Bilder der Überwachungskameras, die das Gericht bewusst nicht der Öffentlichkeit zeigte, seit Tagen bewusst der Öffentlichkeit zeigt, ist allerdings nicht schwer zu erraten:

Mit Dank an Lukas H., Tobias H., Daniel K. und Thomas D.

Bild, Bild.de, dpa, Reuters  etc.

Déjà-vu mit Merkels Grexit-Plan

Griechenlands Schuldenproblem verschärft sich — die Bundesregierung denkt daher über neue Schritte nach: Wie die “Zeit” und die Nachrichtenagentur Reuters berichten, arbeitet das Finanzministerium an einem Notfallplan für eine Pleite Griechenlands. “Sie haben begonnen, das Undenkbare zu denken”, sagte ein Insider zu Reuters. Deutschland wolle dies nicht, stelle sich aber auf eine solche Situation ein. “Sie wären sonst nicht vorbereitet auf die Folgen für die Banken.”

Diese Zeilen sind viereinhalb Jahre alt. Und ob der Insider nun recht hatte oder nicht — es wäre doch zumindest fahrlässig, wenn sich die Bundesregierung nicht ständig auf alle Eventualitäten einstellen würde, also auch auf eine faktische Insolvenz Griechenlands.

Wie auch immer. Zehn Monate später, im November 2011, schrieb dann auch „Bild“:

Merkel lobte [den damaligen Griechenland-Premier] Papandreou, stellte weitere Hilfen in Aussicht. Doch in Wirklichkeit geht die Bundesregierung nach BILD-Informationen inzwischen davon aus, dass Griechenland pleitegehen wird – und zwar warscheinlich [sic] noch vor Weihnachten, wenn auch die nächste Hilfs-Rate aufgebraucht ist.

„Wir versuchen, eine Insolvenz Griechenlands zu vermeiden. Ich kann das aber nicht ausschließen“, sagte Merkel am Nachmittag laut Teilnehmern in der Sitzung der Fraktion von CDU/CSU.

Insofern übersetzt man das “Jetzt” in der heutigen (!) “Bild”-Schlagzeile also am besten mit: “seit vier Jahren”.

“Bild” schreibt:

Sie hat monatelang um Griechenland gekämpft. Doch seit vorletzter Nacht weiß Angela Merkel (60, CDU): Es war vielleicht umsonst …

Gut zwei Stunden verhandelte die Kanzlerin in Brüssel mit Frankreichs Staatspräsident François Hollande (60) und Griechen-Premier Alexis Tsipras (40).

Als das Trio gestern um 0.20 Uhr auseinanderging, war klar, was die deutsche Regierungschefin bisher nie wahrhaben wollte: Die Staatspleite Griechenlands ist womöglich nicht mehr aufzuhalten!

Darüber wird in vertraulicher Runde in Berlin jetzt offen gesprochen.

Aus, vorbei, GREXIT …!

Die einzige Quelle für die Behauptung ist wieder ein Insider, ein „Top-Diplomat“, der gesagt haben soll: „Auch die Kanzlerin weiß jetzt, dass die Zeit nicht mehr reichen wird …!“

Obwohl es da ja noch einen kleinen Haken gibt, wie “Bild” am Ende zugeben muss:

Eine letzte Frist hat Athen noch: Kommenden Donnerstag treffen sich in Brüssel die Finanzminister der Euro-Zone zur entscheidenden Sitzung. Sie wollen dann ein Konzept sehen, das bereits vom griechischen Parlament verabschiedet ist.

Egal, “Bild” hat trotzdem schonmal den Sekt kaltgestellt und ihn jetzt endgültig ausgerufen, den

Ach nee. Das war 2011.

Mit Dank an Andreas H.

Nachtrag, 13 Uhr: Aber im deutschen Medienbetrieb ist bekanntlich keine Meldung alt oder falsch genug, als dass sich nicht doch irgendwer finden würde, der sie blind abschreibt.

Die dpa vermeldete heute pünktlich um Mitternacht:

Berlin (dpa) – Nach einem Bericht der «Bild»-Zeitung bereitet sich Berlin auf eine Staatspleite Griechenlands vor.

Die Agentur zaubert sogar noch ein paar zusätzliche Quellen aus dem Hut:

Unter Berufung auf mehrere mit den Vorgängen vertraute Personen berichtet die Zeitung (Freitag), es gebe konkrete Beratungen, was im Falle einer Pleite zu tun sei.

„Mehrere mit den Vorgängen vertraute Personen“? Wir haben (wenn überhaupt) nur eine gezählt: den angeblichen Insider.

Auch Reuters sprach 20 Minuten später von „mehrere[n] mit den Vorgängen vertraute[n] Personen“ — und titelte:

Und schwupps — wird der alte Hut wieder überall als neu verkauft:


(handelsblatt.com)


(merkur.de)


(stern.de)


(n24.de)


(blick.ch)


(t-online.de)


(tagesspiegel.de)


(derstandard.at)


(abendzeitung-muenchen.de)

Bei FAZ.net finden sie zwar immerhin, dass es „wenig plausibel“ erscheine, „dass die deutsche Regierung sich jetzt erstmals mit einem solchen Szenario befasst“ — die „Bild“-Geschichte haben sie aber trotzdem mal abgeschrieben:

Derweil will die Bild-Zeitung erfahren haben, dass nun auch die deutsche Kanzlerin eine Staatspleite Griechenlands nicht mehr ausschließt.

Nachtrag, 15.05 Uhr: Nachdem sich die dpa über zwölf Stunden lang auf “Bild” verlassen hatte, ist ihr inzwischen doch noch aufgefallen, dass die vermeintliche Neuigkeit gar keine ist. Die aktuellste Meldung zum Thema (erschienen um 12.49 Uhr) ist überschrieben mit:

«Grexit»: Bundesregierung hat keine neue Haltung

Daily Mail, Blome, Augstein

1. “Boykott: Keine ‘Bild’ mehr an der Tanke”
(ndr.de, Video, 5:07 Minuten)
Ein Besuch bei einem Zeitschriftenhändler in Papenburg, der entschieden hat, keine “Bild”-Zeitung mehr zu verkaufen: “Vorher hatte er ca. 20 Exemplare der Zeitung pro Tag verkauft. Daraufhin stellte allerdings der Pressegrossist ‘Nordwestpresse’, der als Monopolist für die Belieferung mit Presseerzeugnissen im Raum Oldenburg, Wilhelmshaven, Papenburg zuständig ist, die Belieferung sämtlicher Presseerzeugnisse ein.”

2. “How A Fake News Story Wrecked Three People’s Lives”
(buzzfeed.com, Alan White, englisch)
Zdzislaw Mołodyński lädt Fotos eines Unfalls auf einer Website hoch. Am Tag darauf sieht er sie in einer Story der “Daily Mail”, inklusive Zitate von ihm: “‘When I read it,’ he says, ‘I was completely broken.’ (…) But the thing he couldn’t understand was that none of it was true. For a start, Mołodyński hadn’t given any quotes to any reporters.”

3. “Journalismus ist keine heile Welt”
(daserste.ndr.de, Andrej Reisin)
Andrej Reisin hat aus dem “Gesprächsversuch mit Kritikern” nicht viel ziehen können: “Mit denjenigen unter den Kritikern, die eine systematisch und absichtsvoll verzerrte Darstellung der Realität durch die Medien vermuten, ist schlechterdings kein verständigendes Gespräch möglich. Unter den kritischen Kommentatoren stellt diese Gruppe aber leider die Mehrheit dar.”

4. “Gefälligkeitsbeiträge? Fragwürdige Recherchemethoden bei Frontal 21”
(achim-tack.org)
Achim Tack übt Kritik am Frontal-21-Beitrag “Grundschulsterben in Deutschland” (zdf.de, Video, 10 Minuten).

5. “Jakob Augsteins Baukasten”
(umblaetterer.de, Josik)
Was Jakob Augstein über Frank Schirrmacher schreibt: 2006, 2007, 2010, 2012, 2014 und 2015.

6. “‘Am liebsten reiße ich noch immer Artikel heraus'”
(krautreporter.de, Christoph Koch)
Ex-“Bild”- und Ex-“Spiegel”-Mitarbeiter Nikolaus Blome erläutert seinen Medienkonsum: “Was Blogs betrifft: Eine Zeit lang habe ich das Bildblog regelmäßig angeschaut, aber die schwächeln nun schon seit geraumer Zeit. Ansonsten lasse ich mich gern auf Blogs verweisen, ohne sie regelmäßig zu verfolgen.”