Archiv für März 4th, 2014

Werben mit den Opfern

In der vergangenen Woche sind bei einem Wohnungsbrand in Mannheim drei kleine Kinder gestorben. Bundesweit wurde über den traurigen Fall berichtet, natürlich auch in “Bild”, blatthoch in der Bundesausgabe:

Reporterin Janine Wollbrett schildert, wie “qualvoll” die Kinder ums Leben gekommen sind, lässt Zeugen, Feuerwehr und Oberbürgermeister zu Wort kommen und spekuliert über die Brandursache. Im Grunde tut sie also das, was auch andere Medien tun — mit einem Schuss mehr Sensationsgeilheit, versteht sich, und mit der Besonderheit, dass auch die Namen der Opfer genannt werden, das ist für das Blatt ja üblich in solchen Fällen und macht “Bild” nun mal zu “Bild”.

Genau wie das, was ein paar Tage später passierte. Gestern nämlich erschien in der “Bild”-Zeitung und bei Bild.de Folgendes:

Stolz präsentiert Janine Wollbrett “eines der letzten Fotos der 3 toten Kinder”, das sie offenbar im Verwandten- oder Freundeskreis der Familie aufgetrieben hat. “Witwenschütteln” hieß das früher mal, das Blatt selbst umschreibt es aber lieber so:

Jetzt sprach BILD erstmals mit der bulgarischen Familie über die Tragödie!

Mit wem genau sie gesprochen hat, verrät die Reporterin nicht. Zitiert werden lediglich “eine Verwandte” und “eine Freundin” — mit der Mutter aber, die “Bild” ebenfalls im Foto zeigt, hat sie sich offenbar nicht unterhalten. Wie auch? Sie “steht bis heute unter Schock”, wie “Bild” selbst schreibt, “muss starke Medikamente nehmen” und liegt vermutlich noch im Krankenhaus. Es ist also sehr fraglich, ob die Mutter ihr Einverständnis für die Veröffentlichung der Fotos gegeben hat. Es ist ja sogar fraglich, ob sie überhaupt davon wusste.

Dabei gibt es, gerade in solchen Fällen, strenge Regeln für Journalisten. Erst im vergangenen Jahr hat der Presserat Ziffer 8 des Pressekodex (“Schutz der Persönlichkeit”) überarbeitet, um die Opfer von Straftaten und Unglücken besser vor identifizierender Berichterstattung zu schützen. Es wurde sogar extra eine neue Richtlinie (8.3) hinzugefügt, in der die Journalisten darauf hingewiesen werden, “dass insbesondere bei der Berichterstattung über Straftaten und Unglücksfälle Kinder und Jugendliche in der Regel nicht identifizierbar sein sollen”.

Generell gilt:

Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

Ob “Bild” in diesem Fall die Erlaubnis hatte, die Namen und Fotos zu veröffentlichen, wissen wir nicht. Wir gehen aber — schon allein aus Erfahrung — eher nicht davon aus.

Mit den Fotos lässt sich dann, wenn man genügend wenig Skrupel hat, sogar für den Verkauf des eigenen Blattes werben, nämlich so:

via @KaeptnEmo.

@BonitoTV, 9/11, Meinungsfreiheit

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Bild’ fällt erneut auf falschen Harald Schmidt herein”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Wieder einmal hält “Bild” @BonitoTV für das Twitter-Konto von Harald Schmidt: “Wie oft ein falscher Twitter-Account auch nach mehr als einem halben Jahrzehnt noch große Medien-Marken in die Irre führen kann, ist verblüffend und erschreckend zu gleich.”

2. “Jetzt amtlich – 89.0 RTL musste Gewinnspielbetrug zugeben”
(fair-radio.net, Sandra Müller)
Der Radiosender 89.0 RTL wird von der Landesmedienanstalt verpflichtet, öffentlich bekanntzugeben, “dass seine Aktion ‘Tankwahnsinn’ im vergangenen September gesetzeswidrig war”. Ausgestrahlt wurde die Bekanntgabe am 3.März, um 6:24 Uhr morgens, ohne Entschuldigung.

3. “‘Ich habe eine Meinung'”
(journalist.de, Stefan Niggemeier)
Dürfen Journalisten Aktivisten sein? Stefan Niggemeier schreibt: “Natürlich muss ein Journalist unabhängig sein, natürlich darf er sich nicht einem Verein, einem Unternehmen, einer Person verpflichtet fühlen, sondern nur einer Sache. Natürlich darf er kein Lobbyist sein. Aber er darf Überzeugungen haben und leidenschaftlich dafür kämpfen.”

4. “Einer von uns, irgendwie”
(sueddeutsche.de, Martin Wittmann)
Martin Wittmann zweifelt daran, dass US-Präsident Barack Obama Zeit findet, die Webserie “House Of Cards” zu schauen: “Wahrscheinlicher ist, dass hier ein paar PR-Profis nicht konsequent zu Ende gedacht haben, als sie Obama als volksnahen Hipster verkaufen wollten.”

5. “Verschwörungstheorie!”
(heise.de/tp, Paul Schreyer)
Journalist Paul Schreyer erlaubt sich, den Wikipedia-Artikel zu 9/11 zu editieren. Und berichtet, was dann passiert. “Meine Frage an die selbsternannten Gralshüter der Wahrheit, nach welchen spezifischen Kriterien denn ‘verschwörungstheoretische’ Texte von solchen unterschieden würden, die man als Quelle bei Wikipedia akzeptiert, blieb unbeantwortet. Man sei nicht da, um Auskünfte zu erteilen, hieß es dazu nur knapp. Die gesuchten Kriterien solle ich ‘durch eigene Lektüre herausfinden’.”

6. “Wie man die Demokratie ruiniert”
(cicero.de, Alexander Marguier)
Alexander Marguier greift den Abbruch einer Podiumsdiskussion mit Thilo Sarrazin auf: “Eine Diskussion über Meinungsfreiheit zu verhindern, weil einem die Meinung eines der Beteiligten nicht passt, darauf muss man erst einmal kommen. Ob die Randalierer jetzt zufrieden sind? Der Sieg, den sie nach Abbruch der Veranstaltung gestern vor dem Berliner Ensemble feierten, war ein Triumph der Denkfaulheit, der Intoleranz, der Sprechverbote. So ruiniert man eine Demokratie.” Siehe dazu auch ein Interview mit Claus Peymann (welt.de, Lucas Wiegelmann).