Archiv für Januar 21st, 2014

Post aus Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht muss sich zwar öfter mal mit Härtefällen herumschlagen, doch vor Kurzem kam es so richtig dicke für die obersten Richter. Denn diesmal ging es um die gedruckten Gedanken von Franz Josef Wagner.

Der Brief, mit dem sich das Gericht befasst hat, stammt aus dem Jahr 2007 und richtete sich an die “Liebe Latex-Landrätin” Gabriele Pauli. Kurz zuvor war in der (inzwischen eingestellten) “Park Avenue” eine Fotoserie erschienen, in der die ehemalige CSU-Landrätin mit Lackhandschuhen posierte. Das gefiel Wagner ganz und gar nicht. Er schrieb:

Die Fotos sind klassische Pornografie. Der pornografische Voyeur lebt in der Qual, Ihnen die Kleider vom Leib zu reißen. Kein Foto löst in mir den Impuls aus, Sie zu lieben bzw. zärtliche Worte mit Ihnen zu flüstern. Kein Mann liebt eine Frau in einem Porno-Film.

Er fragte: “Warum machen Sie das? Warum sind Sie nach Ihrem Stoiber-Triumph nicht die brave, allein erziehende Mutter geblieben?” — und antwortete selbst:

Ich sage es Ihnen: Sie sind die frustrierteste Frau, die ich kenne. Ihre Hormone sind dermaßen durcheinander, dass Sie nicht mehr wissen, was wer was ist. Liebe, Sehnsucht, Orgasmus, Feminismus, Vernunft.

Sie sind eine durchgeknallte Frau, aber schieben Sie Ihren Zustand nicht auf uns Männer.

Pauli klagte gegen diese Äußerungen und bekam in erster Instanz recht: Das Landgericht Traunstein entschied 2012, Wagner habe in seinem Brief die “Grenze zur Schmähkritik” überschritten. Eine Geldentschädigung bekam Pauli aber nicht zugesprochen.

Nachdem beide Parteien Berufung eingelegt hatten, wies das Oberlandesgericht München Paulis Klage im Herbst 2012 jedoch ganz ab: Wagners Äußerungen seien von der Meinungsfreiheit gedeckt, begründeten die Richter.

Das sieht man in Karlsruhe anders. Nach Ansicht der Verfassungsrichter handelt es sich bei dem Brief “um einen bewusst geschriebenen und als Verletzung gewollten Text”. Wagner ziele mit seinen Formulierungen bewusst darauf ab, Pauli “nicht nur als öffentliche Person und wegen ihres Verhaltens zu diskreditieren, sondern ihr provokativ und absichtlich verletzend jeden Achtungsanspruch gerade schon als private Person abzusprechen”. Daher könne sich hier “die Meinungsfreiheit nicht durchsetzen”.

Das Oberlandesgericht muss nun erneut über den Fall entscheiden.

Mit Dank auch an Christos, Mirko V. und Felix R.

AP  etc.

Fackellauf und Fahnenfluch

Beim olympischen Fackellauf in Russland ist am Wochenende ein Mann festgenommen worden. Den Grund dafür beschreibt die Nachrichtenagentur AP so:

Ein homosexueller Aktivist ist bei dem Staffellauf mit der olympischen Fackel in Russland festgenommen worden, weil er eine Regenbogenfahne zeigte. Von seinen Freunden ins Internet gestellte Fotos zeigen Pawel Lebedew, wie er die Fahne herausholt und dann von Sicherheitsleuten überwältigt wird.

Viele deutsche Medien griffen die Meldung auf:
Schwuler Demonstrant bei Olympia-Fackellauf festgenommen - Bei einem Staffellauf mit der olympischen Fackel ist ein homosexueller Aktivist festgenommen worden. Er hatte am Rande der Strecke eine Regenbogenfahne gezeigt.

(Screenshot: abendblatt.de)

In den Artikeln entsteht der Eindruck, als hätten die Sicherheitskräfte den Mann plötzlich in der Menge entdeckt und sofort festgenommen — nur “weil er eine Regenbogenfahne zeigte.”

Was der Leser aber nicht erfährt: Es gibt noch mehr Fotos von dem Vorfall. Und die legen einen etwas anderen Schluss nahe. Denn der Aktivist hat die Flagge nicht etwa nur “am Rande der Strecke” gezeigt, sondern die Absperrung durchbrochen:Screenshot: https://vk.com/wall-38905640_219636?&offset=20Screenshot: https://vk.com/wall-38905640_219636?&offset=20Screenshot: https://vk.com/wall-38905640_219636?&offset=20Screenshot: https://vk.com/wall-38905640_219636?&offset=20

Auch eine Sprecherin der Aktivistengruppe erklärte später:

“[Lebedew] wurde festgenommen, weil die Straße für den Fackellauf gesperrt war und niemand vor die Absperrung durfte.”

(Übersetzung von uns.)

Die Regenbogenflagge war in diesem Fall also offensichtlich doch nicht der (alleinige) Grund für das Einschreiten der Sicherheitsleute — auch wenn so etwas durchaus zu Putins Umgang mit Homosexuellen passen würde.

Mit Dank an Uwe S.

Nachtrag, 23. Januar: Queer.de hat sich kritisch mit unserem Beitrag auseinandergesetzt: “Die Absperrung in unseren Köpfen”

Kabul, Todesspiel, Expertenwesen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der 2014-Reflex”
(blog.zeit.de/kabul, Ronja von Wurmb-Seibel)
Der Anschlag auf das Restaurant Taverna in Kabul. “‘Mehrere Deutsche in Kabul getötet’, lese ich im Google-Teaser von faz.net. Ich erschrecke. Weil es bedeuten würde, dass ich wahrscheinlich einen der Toten kenne.”

2. “Das Internet ist nicht kaputt”
(faz.net, Oliver Georgi)
Oliver Georgi antwortet auf einen Artikel von Sascha Lobo: “Durch Edward Snowden, das ist sein großes Verdienst, ist Sascha Lobo, sind wir alle lediglich in der digitalen Realität angekommen.”

3. “Das Ende der allwissenden Fachleute”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
“Das Internet ist mitverantwortlich dafür, dass das Expertenwesen heute stärker in Frage gestellt wird als im vergangenen Jahrhundert”, schreibt Martin Weigert. “Die Öffentlichkeit hat gelernt, dass ein Dr. oder ein Prof. vor dem Namen genauso wenig den Wahrheitsgehalt einer wissenschaftlichen Feststellung oder einer scheinbar fundierten Prognose garantiert wie Dekaden in einer bestimmten Branche.”

4. “Schlüpfrige Panne bei SRF-Untertiteln”
(werbewoche.ch)
Die Sendung “Sport Aktuell” des Schweizer Fernsehens wird mit Untertiteln des Spielfilms “Jungfrau (40), männlich, sucht” ausgestrahlt.

5. “Es wird nicht lange dauern”
(freitag.de, Matthias Dell)
Matthias Dell bespricht die “Tatort”-Folge “Todesspiel”: “Das Schwierige bei diesem allerhöchsten Lob, das auf Todesspiel formuliert werden muss, ist die Frage: Wo anfangen?”

6. “Der Mann aus dem Wald”
(fr-online.de, Gesa Fritz)
Ein Mann, der seit zwei Jahren in einem Wald bei Wiesbaden lebt: “Paul H. investiert viel Zeit, um den Schein zu wahren. Er ist bekannt in der Stadt, niemand soll sein Scheitern auch nur erahnen. Er erzählt, wie er im Wald seine Wäsche schrubbt, sie an Kleiderbügeln trocknet. ‘Nass aufgehängt, unten mit Gewichten beschwert, wird sogar mein lachsfarbenes Hemd glatt.'”