Archiv fü 2013

Plagiorious

Der Eurovision Song Contest rückt näher. Wird mal wieder Zeit für:PLAGIATSALARM!

Es ist eine seit Jahrzehnten fast schon liebevoll gepflegte ESC-Tradition. Und in diesem Jahr geben sich die “BamS”-Reporter besonders viel Mühe bei dem Versuch, den deutschen ESC-Teilnehmern ein Plagiat nachzuweisen. Es geht um die Band “Cascada”, die Deutschland beim diesjährigen ESC in Malmö mit ihrem Song “Glorious” vertreten wird, der für viele, nun ja, gewisse Ähnlichkeiten mit dem Sieger-Song aus dem letzten Jahr aufweist.

In der gestrigen Ausgabe fragte “BamS” dann:PLAGIATSALARM! - Muss Cascada vor dem Grand Prix zurücktreten?

Die letzten Takte des Siegertitels perlten noch in der Luft, da musste sich die Gewinnerin schon Plagiatsvorwürfe anhören. Klingt “Glorious”, also unser Lied für Malmö, nicht genau wie “Euphoria”, also der ESC-Siegertitel von 2012?

Um diese Frage zu beantworten, holt sich “BamS” diesmal sogar professionelle Unterstützung:

BILD am SONNTAG übergab “Euphoria” und “Glorious” als Musikdateien dem Institut für Sprachwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität in Kiel.

Vermutlich waren alle Musikwissenschaftler Deutschlands gerade auf einem gemeinsamen Musikwissenschaftlerausflug, weshalb “BamS” auf ein sprachwissenschaftliches Institut zurückgreifen musste. Aber was soll’s – es sind ja Wissenschaftler. Und die kennen sich aus. Es klingt zumindest so:

Ein Sprachanalyse-Programm warf den ESC-Sieger von 2012 und den deutschen Beitrag von 2013 als Oszillogramm und Sonagramm in dreidimensionaler Frequenzdarstellung aus: ein akustischer Fingerabdruck, bei dem sich Laustärke, Grundfrequenz und Spektraldaten penibel genau vermessen und vergleichen lassen.

Scheinbar hat sich der ganze Aufwand gelohnt, denn:

Das Ergebnis ist eindeutig. “‘Glorious’ wirkt wie eine Kopie von ‘Euphoria’ mit kleinen, raffinierten stilistischen Änderungen”, sagt die Phonetikerin Dr. Tina John, 31.

Aufbau der Beats, Gesangsdynamik und Pausensetzung stimmten in weiten Teilen überein. “Am Anfang ist der Gesang absolut identisch, der Refrain benutzt die gleiche Akzentuierung, der Schluss gipfelt in einer identischen Kombination. Die Sängerinnen benutzen sogar die gleiche Atemstylistik.”

Kurz: ein Plagiat in einem Atemzug! ESC-Experte Jan Feddersen, 55: “Wenn es sich bei ‘Glorious’ um eine Kopie von ‘Euphoria’ handelt, dürfte Cascada nicht antreten.”

Andere Medien fanden das alles offenbar schlüssig und griffen die Nachricht rasch auf. Dabei macht die “Bild am Sonntag” allein mit dem lieblos drangeklatschten Schlusssatz ziemlich deutlich, worauf sie hier hinauswill: Auch dem letzten Skeptiker soll klar werden suggeriert werden, dass es auf die in der Überschrift gestellte Frage letztlich nur eine Antwort gibt. Und die steht für “BamS” längst fest.

Jan Feddersen “bereut” es derweil, dem “BamS”-Reporter diesen “banalen, immerwahren Satz” gesagt zu haben, wie er im Eurovision-Blog des NDR zugibt. Laut seinen Angaben hatte der Reporter ihm gegenüber behauptet, die Analyse gehe auf “eine Kieler musikwissenschaftliche Abteilung” zurück.

Ich antwortete jedenfalls, ich hielte die Debatte für Unfug, schwachsinnig und doof – weil Loreen und Natalie Horler [Sängerin von “Cascada”] möglicherweise sich der gleichen überlieferten Tonfolgen bedienten, wie die meisten Musiker auch. Aber die Titel hörten sich für mich ähnlich an, allerdings einschränkend, dass ich persönlich kaum in der klassischen Musik differenzieren könne, ebenso wenig im Techno oder im Bereich der Dancegeschichten.

“Glorious” klinge “für dance-ungeübte Ohren wie alle Musik, die in Großdissen so gespielt wird” — ebenso wie sich für Menschen, “die kein Gefühl für Jazz oder Blues haben”, alle “Blues-Songs oder Jazzdinger vollständig gleich” anhörten.

Insofern: In der Frage der “Bild am Sonntag” steckt bereits eine dümmliche Unterstellung, die naiv tut und doch nur Skandal will.

Davon mal abgesehen ist die Methode, mit der “BamS” hier auf vermeintlich wissenschaftliche Weise ein Plagiat nachgewiesen haben will, natürlich mehr als fragwürdig.

Wir haben den Musikwissenschaftler Dr. Klaus Frieler gefragt, was er von der in “BamS” beschriebenen Untersuchungsmethode hält. Frieler ist seit Jahren als musikwissenschaftlicher Gutachter tätig, insbesondere wenn Plagiatsverdacht erhoben wird. Derzeit ist er für ein Forschungsprojekt an der Hochschule für Musik “Franz Liszt” in Weimar tätig. Er hat uns unter anderem beschrieben, wie er im Fall eines offiziellen Plagiatsgutachtens vorgeht. Er schreibt etwa:

Ein Sonagramm ist kein adäquates Mittel, um Musikwerke zu vergleichen, dazu sind die dort enthaltenen Informationen bei einem komplexen Musikstück mit einem Mix vieler Instrumente viel zu sehr miteinander verschränkt, als dass eine einfache Zuordnung der spektralen Anteile zu den einzelnen Instrumenten möglich wäre. (…)

Für ein Plagiatseinschätzung bedarf es viel musikwissenschaftliches Hintergund- und Fachwissen, sorgfältige Abschätzung der Werkteile im jeweiligen musikalischen und stilistischen Kontext usw. Kurz, ein seriöses Plagiatsgutachten basiert immer auf menschlichem Expertenwissen, mit manueller, maximal semiautomatischer Transkription der melodischen Anteile. Diese Arbeit kann zwar durch die Hilfe des Computers im Einzelfall erleichtert, aber bisher (und wahrscheinlich auch in Zukunft) durch diese nicht ersetzt werden.

Frieler hat sich die beiden Songs selbst mal angehört. Für eine “hieb- und stichfeste Einschätzung” müsste er zwar erst “eine genauere Analyse (vor allem der Melodien)” durchführen, doch nach einem ersten Höreindruck schreibt er:

Ich denke mittlerweile, wenn ich das noch weiter analysieren würde, käme ich wohl eher zu dem Schluss, dass es sich **nicht** um ein Plagiat handelt, sondern wahrscheinlich um ein Soundalike. Ein Soundalike ist ein Werk, das einen sehr ähnlichen Gesamteindruck wie ein Original bewirken soll, aber in den entscheidenden, geschützten musikalischen Details abweicht. Sehr üblich in der Werbung, um Lizenzgebühren zu sparen. Hier wahrscheinlich mit der (bewussten oder unbewussten) Absicht geschehen, an dem Vorjahreserfolg von Loreen anzuknüpfen.

(Die ausführliche Version dieser Einschätzung ist hier nachzulesen.)

Der NDR hat nach Aufkommen der Vorwürfe mittlerweile ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben, wie ARD-Unterhaltungschef Thomas Schreiber am Wochenende mitteilte. Er fügte hinzu:

Im Übrigen gehören Versuche, den ESC zu skandalisieren und Plagiatsvorwürfe nach den Sendungen zur Folkore des ESC: Im vergangenen Jahr wurde Loreen und ihren Produzenten vorgeworfen, dass “Euphoria” bei drei verschiedenen Titeln “geklaut” sei, unter anderem bei Rihanna und David Guetta.

Diese Anschuldigungen hätten sich aber als haltlos erwiesen. So wie im Übrigen fast alle Plagiatsvorwürfe, die bisher im Rahmen des ESC erhoben wurden. Dem Jagdfieber im Hause Springer tut das aber keinen Abbruch. Schon am Tag nach dem Vorentscheid stöhnte Bild.de:Haben wir wirklich nichts Besseres für den Grand Prix?

Und liebäugelte am selben Tag noch mit den Zweitplatzierten des Vorentscheids, mit den “verrückten Jungs” von “LaBrassBanda”, die für viele ja die “Sieger der Herzen” seien. Die Leser werden ohne große Umschweife gefragt: “Hätten Sie lieber LaBrassBanda beim ESC 2013 gesehen?” Das Ergebnis — mal wieder eindeutig:Umfrage: "Hätten Sie lieber LABrassBanda beim ESC 2013 gesehen?" - Antwort a: "Ja, die Band hat im Vorentscheid überzeugt." - 100 Prozent. Antwort b: "Nein, Cascada wird uns würdig in Schweden vertreten." - 0 Prozent.

Wobei die Umfrage doch ein wenig an Überzeugungskraft verliert, wenn man sieht, wie viele Leute sich an ihr beteiligt haben:
Beendet am: 16.02.2013 - Stimmen: 1

Mit Dank an Dennis, Holger K. und Monika G.

Nachtrag, 26. Februar: Inzwischen ist auch der vom NDR beauftragte Gutachter zu einem Ergebnis gekommen. Auf der deutschen ESC-Seite heißt es:

Cascadas ESC-Song “Glorious” ist kein Plagiat von Loreens Vorjahres-Siegertitel “Euphoria” – das hat ein vom NDR in Auftrag gegebenes Gutachten ergeben. “Es lässt sich zusammenfassen, dass ‘Glorious’ und ‘Euphoria’ keine urheberrechtlich bedeutsamen Übereinstimmungen aufweisen. Sie sind lediglich stilistisch ähnlich und zeigen nur im Arrangement eine oberflächliche Berührung ohne urheberrechtlichen Belang”, so das Fazit von Matthias Pogoda, der seit 1992 als Musikgutachter und Sachverständiger für Plagiatsfragen tätig ist und unter anderem Musikverlage und Urheberrechtskammern als Gerichtsgutachter berät.

(…)  In seiner Bewertung schreibt der Musikexperte abschließend: “Für einen begründeten Plagiatsvorwurf müssten meines Erachtens detaillierte Übereinstimmungen einer längeren Begleitpassage vorliegen und weitere Arrangementbestandteile passgenau übereinstimmen. Dies ist hier nicht der Fall.”

Bis dass der Tod sie eint

Um keine Nachahmer zu animieren, sind die Medien angehalten, zurückhaltend über Suizide zu berichten. So sollten sie jede Bewertung von Suiziden als “heroisch, romantisch oder tragisch” vermeiden, keine Details über die Betroffenen und ihre Tat nennen und vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten. Auch sollten sie auf “romantische Überhöhungen” verzichten, beispielsweise auf Formulierungen wie “ihre Liebe war stärker als der Tod”, “jetzt auf ewig vereint” oder “nun hat sie erreicht, was sie schon immer wollte”. Die Medien halten sich häufig nicht an diese Empfehlungen.

Das, was stern.de da heute veröffentlich hat, wirkt allerdings ein bisschen, als habe ein Mitarbeiter die Empfehlungen, was man bei der Suizid-Berichterstattung unterlassen solle, als Aufforderung verstanden, möglichst viel davon aufzuschreiben. Und so schreibt er schon im Vorspann, der Suizid einer in Deutschland weitgehend unbekannten US-Country-Sängerin sei “das traurige Ende einer verkorksten Karriere”.

Er beschreibt einigermaßen minutiös die (mutmaßliche) Auffindesituation und Todesursache, referiert dann kurz den Aufstieg und Fall der Sängerin, ihre Krankengeschichte und ihre Familiensitation.

Dann wird es richtig schlimm:

Warum sie den Freitod wählte, darüber kann derzeit nur spekuliert werden. Offenbar haben zahlreiche private Probleme die Sängerin in den Selbstmord getrieben: Drogensucht und ein Ex-Ehemann, der sie misshandelte und psychisch unter Druck gesetzt haben soll. Kurz vor ihrem Tod habe er [ihr] das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn entziehen wollen. Als dann im Januar der Vater ihres zweiten Kindes, der Produzent […], tot aufgefunden wurde – er soll ebenfalls Selbstmord begangen haben – , zerbrach offenbar ihr Lebensmut.

Der Tod ihres Partners brach den Lebensmut
“Er war mein Leben. Jeder war ein Teil des anderen. Ich kann gar nicht sagen, wo einer von uns begann und der andere endete. Wir sind jeden Abend Händchen halten zusammen eingeschlafen”, sagte [sie] im Januar in einem Fernsehinterview mit dem Sender NBC. Jetzt sind sie wieder vereint.

Mit Dank an Hermann L.

Blick, Frank Schirrmacher, Amazon

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der ‘Blick’ von innen”
(dasmagazin.ch, Daniel Ryser)
Die Boulevardzeitung “Blick” macht einen Taxifahrer zu Unrecht zu einem “Taxivergewaltiger”. “Kunden, die mich seit Jahren kannten, liefen plötzlich weiter, stiegen in andere Taxis ein. Taxifahrer zeigten auf mich, sagten: Das ist der Vergewaltiger. Jugendliche pöbelten mich an.”

2. “Jeder Satz falsch: Kein Bug, sondern Feature!”
(blogs.taz.de/hausblog, Sebastian Heiser)
Sebastian Heiser entfernt alle Vereinfachungen in einem eigenen Artikel und fragt darauf die Leser, ob sie das wirklich so wollen.

3. “Widerspruch zwecklos”
(derbund.ch, Daniel Di Falco)
Schweizer Medien verkaufen der Öffentlichkeit bekannte Dokumente als neu: “Der breiten Öffentlichkeit unbekannt – das ist der Satz, in dem sich beide Seiten fanden. Für die Medien heisst er: Also sind die Bilder eine Entdeckung. Für den Experten dagegen: Aber uns sind sie bekannt. Die Medien: neu! Der Experte: nicht neu.”

4. “Die Strategie für die Zeitung von Morgen, Teil 1: Das Modell HBO”
(blog.tagesanzeiger.ch, Constantin Seibt)
Das Vorgehen des Pay-TV-Senders HBO könnte ein Vorbild für die Zeitungsbranche sein, findet Constantin Seibt: “Im Business der Zukunft geht es zunehmend nicht mehr um Nicht-Enttäuschung, sondern um die Erzeugung von Begeisterung.”

5. “Sorgfaltspflichten. Wenn Frank Schirrmacher einen Bestseller schreibt”
(merkur-blog.de, Joachim Rohloff)
Lektor Joachim Rohloff prüft das 2009 erschienene Buch “Payback” von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Zu Schirrmachers neu erschienenem Buch “EGO – Das Spiel des Lebens” siehe “Die Monster des Doktor Frank” (welt.de, Cornelius Tittel).

6. “Welchen Schaden Amazon durch den Shitstorm nehmen wird? Gar keinen. Eine Übung in datengestütztem Zynismus”
(von-nullen-und-einsen.blogspot.de, Ralph Pfister)

Weit daneben ist auch vorbei

Das war’s dann also. Der Asteroid “2012 DA14” hat unseren Planeten gestern Abend planmäßig passiert. Höchste Zeit für die Medien, mal rückblickend festzuhalten, wie verdammt knapp wir da einer kosmischen Katastrophe entkommen sind.

Bild.de jubelt:

Wir leben noch! Der Asteroid “2012 DA 14” ist an der Erde vorbei gerast, verschwindet jetzt wieder in der Tiefe des Alls.

Um 20.24 Uhr am Freitagabend erreichte der Himmelskörper seinen erdnächsten Punkt: In 27 357 Kilometern Entfernung sauste er an uns vorbei. (…)

Zu sehen war er allerdings nur mit guten Ferngläsern. Dennoch ist in der Geschichte der modernen Astronomie noch kein Himmelskörper der Erde so nahe gekommen wie “2012 DA14”.

Dass uns noch nie zuvor ein Asteroid so nahe gekommen sei, hatten auch einige Agenturen vermeldet. Viele Medien übernahmen die Info, einige hübschten sie im Sinne der Knalligkeit auch gleich noch ein wenig auf:

“Spiegel Online”:

So dicht wie nie zuvor in der Geschichte der Astronomie ist ein Himmelskörper an der Erde vorbeigerast.

Focus.de:

Zu sehen war er allerdings nur mit guten Ferngläsern. Dennoch war in der Geschichte der modernen Astronomie noch kein Himmelskörper der Erde so nahe gekommen wie “2012 DA14”.

“RP Online”:

Dichter als je ein anderer vorhergesagter Himmelsbrocken ist ein Asteroid an der Erde vorbeigepfiffen.

Handelsblatt.com:

Der Asteroid kam der Erde zwar so nahe wie noch nie ein vorhergesagter Himmelskörper zuvor.

BR.de:

Dass der Meteorit in Russland am selben Tag einschlug an dem ein Asteroid der Erde so nahe kommen sollte, wie kein anderer zuvor, ist Zufall.

“Welt Online”:

Der Himmelskörper bewegte sich um 20.24 Uhr deutscher Zeit in 27.357 Metern Abstand an unserem Planeten vorbei, wie die Nasa am Freitag mitteilte. Dies war soweit bekannt die bisher kürzeste Distanz eines Asteroiden zur Erde.

Tagesspiegel.de:

Wahrscheinlich werden da draußen und auf dem Boulevard der Hysteriker Entfernungen anders gemessen, tatsächlich kommt 2012 DA14 der Erde nur so nahe wie noch kein anderer Himmelskörper zuvor, nahe, das sind in diesem Fall 27 500 Kilometer.

Stern.de:

So dicht wie nie zuvor in der Geschichte der Astronomie ist ein Himmelskörper an der Erde vorbeigerast.

Um es kurz zu machen: Das ist falsch.

Wie etwa die “Near Earth Object”-Datenbank der NASA belegt, war “2012 DA14” bei weitem nicht der erste vorhergesagte Asteroid, der uns so nahe gekommen ist. “2011 MD” zum Beispiel war zwar deutlich kleiner, doch er rauschte — mit einer Distanz von knapp 12.000 Kilometern — viel dichter an unserem Planeten vorbei. Und nur der Vollständigkeit halber: Die Behauptung, “kein anderer Himmelskörper” sei der Erde jemals so nahe gekommen, ist natürlich der völlige Unsinn.

Ach, und dann war da noch “Die Welt”:2012 DA14-Rekordflug - Asteroid war der Erde elf Kilometer näher als Baumgartner

Nun ja. Immerhin haben sie es selbst eingesehen und den Artikel (mehr oder weniger) transparent korrigiert.

Mit Dank an Alexander, Marco R., Pascal J. und Peter W.

Siehe auch:

Leimgänger unter sich

“Spiegel Online” macht sich heute per Video mal ein bisschen über das russische Staatsfernsehen lustig:Meteorit im russischen TV: Staatsfernsehen zeigt falschen Krater

In der Beschreibung heißt es:

Das russische Staatsfernsehen ist in der Berichterstattung zu dem Meteoriten-Hagel im Ural offenbar einem betagten Internetvideo auf den Leim gegangen.

Die Off-Sprecherin ergänzt in süffisant-seriösem Ton:

Der Moderator sagt in der aktuellen Berichterstattung: “Sie sehen hier den Krater, der sich dort gebildet hat.” Dann werden Bilder gezeigt, die erstmals vermutlich schon 2007 ins Netz gestellt wurden. Für den TV-Sender hagelt es nun Spott. Denn mit dem aktuellen Meteoritenphänomen hat diese Einschlagsstelle nichts zu tun.

Gut erkannt, “Spiegel Online”! Mit dem aktuellen Meteoritenphänomen hat diese Einschlagsstelle nichts zu tun.

Sie hat sogar mit überhaupt keinem Meteoritenphänomen zu tun. Es ist nämlich gar keine Einschlagsstelle. Das Video zeigt vielmehr den als “Tor zur Hölle” bekannten Krater in Turkmenistan, der 1971 bei der Suche nach Erdgas entstanden ist.

Wenn da mal nicht jemand einem betagten Internetvideo auf den Leim gegangen ist.

Mit Dank an Lukas.

Nachtrag, 16.27 Uhr: Das ging schnell: “Spiegel Online” hat das Video gelöscht.

Nachtrag, 16.31 Uhr: Hier ist es aber noch zu sehen.

Innovation, Mail Online, Berlin Bundesplatz

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Schränkt der deutsche Staat die Pressefreiheit ein?”
(zeit.de, Martin Kotynek)
Martin Kotynek fürchtet aufgrund eines noch ausstehenden Gerichturteils eine Einschränkung der Pressefreiheit in Deutschland. “Bundesbehörden sollen nicht mehr länger verpflichtet sein, Journalisten nach den Pressegesetzen Auskunft zu erteilen. Das will das Innenministerium vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig durchsetzen. Gelingt es, wäre die Pressefreiheit stark beschnitten.”

2. “Richtig, aber altbekannt”
(spiegel.de, Carsten Holm)
“Bild” schreibt, RAF-Mitglied Verena Becker habe mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet. “Das ist alles richtig – aber schon seit Jahren im Detail bekannt.”

3. “Wer suchet, der findet nichts – Fernsehinnovationen in Deutschland und Frankreich”
(dietrendblogger.de, Mareike Schönherr)
Mareike Schönherr vermisst echte Innovationen der TV-Sender. “Wie lange will man sich in den Fernsehanstalten noch dem Internet verschließen bzw. dieses wenn, dann nur halbherzig einbinden?”

4. “Die einvernehmliche Täuschung des Publikums”
(journalist.de, Jens Bergmann)
PR-Termine im Journalismus: “Für Journalisten, die noch nicht total verdrängt haben, warum sie den Beruf einst ergriffen haben, ist der Job des Werbe-Onkels für Berühmtheiten natürlich sehr unbefriedigend, von der Bezahlung ganz abgesehen.”

5. “‘I would like to ask MailOnline to please remove the photos'”
(tabloid-watch.blogspot.de, MacGuffin, englisch)
“Mail Online” veröffentlicht ein Ultraschall-Foto, das fotografiert wurde, als es Evan Rachel Wood auf dem Dach eines Parkhauses in den Händen hielt.

6. “‘Jedes Schicksal ist besonders'”
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Tobias Haberl)
Ein Gespräch mit den Machern von “Berlin – Ecke Bundesplatz”, einer Langzeit-Dokumentation, die ab 1986 gedreht wurde.

Übers Ziel hinaus

Der südafrikanische Leichtathlet Oscar Pistorius ist heute festgenommen worden, weil er im Verdacht steht, seine Lebensgefährtin getötet zu haben.

So berichteten deutsche Online-Medien heute Mittag darüber:

Bild.de:
Paralympics-Sieger Oscar Pistorius - MORDANKLAGE! Hat er seine Freundin wirklich AUS VERSEHEN erschossen?

“Spiegel Online”:
Mordanklage gegen Pistorius: Todesschüsse um vier Uhr nachts

Tagesschau.de:
Freundin erschossen aufgefunden - Mordanklage gegen Paralympics-Star Pistorius

Heute.de:
Freundin erschossen - Pistorius unter Mordanklage

“Die Welt”:
Paralympics-Star Pistorius wegen Mordes angeklagt

“RP Online”:
Paralympics-Star unter Mordanklage - Der Fall Oscar Pistorius ist ein Rätsel

“Hamburger Abendblatt”:
Freundin getötet: Pistorius unter Mordanklage

Bunte.de:
Oscar Pistorius - Steht unter Mordanklage

“Berliner Morgenpost”:
Mordanklage gegen Sprint-Star Pistorius

Auch viele andere Medien berichteten, jetzt stehe “der ‘Blade Runner’ unter Mordanklage” (mopo.de) oder “die Polizei” (!) habe “Anklage erhoben” (stern.de). Doch wie man es auch dreht: Es stimmt einfach nicht, dass der Mann unter “Mordanklage” steht. Bisher besteht lediglich ein Verdacht. Das ist im Strafrecht ein gewaltiger Unterschied — nicht nur in Deutschland, auch in Südafrika.

Ein deutschsprachiger Anwalt aus Pretoria hat uns auf Anfrage geschrieben:

Die endgültige Anklage wird erst viel später formuliert. Zur Zeit geht es lediglich darum, dass die Polizei eine Mordanklage untersucht. Ob es für Mord Beweise geben wird bleibt abzuwarten (…).

(…) Zur Zeit geht es lediglich um die Frage ob Pistorius auf Kaution freigelassen wird. Bis es zur Verhandlung kommt werden mindestens sechs Monate, wahrscheinlich aber über ein Jahr vergehen.

Immerhin ruderten einige Medien im Laufe des Nachmittags zurück und korrigierten sich (heimlich). “Spiegel Online” etwa hat in der Überschrift die “Mordanklage” durch “Mordverdacht” ersetzt und schreibt:

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll der Leichtathlet erst am Freitag einem Haftrichter in Pretoria vorgeführt worden. Dieser muss dann entscheiden, ob Mordanklage erhoben wird und ob Pistorius gegen Zahlung einer Kaution auf freien Fuß gesetzt werden kann. Zunächst hatten Nachrichtenagenturen gemeldet, es sei bereits Mordanklage gegen Pistorius erhoben worden.

Stutzig gemacht haben diese Agenturmeldungen aber offenbar niemanden.

Mit Dank an Martin.

Nachtrag, 18.01 Uhr: Bild.de hat die Anklage jetzt ganz übersprungen und aus dem Verdacht schon mal Gewissheit gemacht:Paralympics-Sieger Pistorius erschießt seine Freundin

Sie war die strahlende Frau an der Seite des Sprint-Stars Oscar Pistorius (26). Jetzt ist sie tot!

Der Sportler erschoss seine Freundin letzte Nacht in Südafrika.

Nachtrag, 16. Februar: Dass Bild.de schreibt, Pistorius habe seine Freundin erschossen, ist natürlich nicht mit einer Vorverurteilung im Sinne von “hat seine Freundin ermordet” gleichzusetzen. Dieser Eindruck ist im ersten Nachtrag vielleicht entstanden. Wir wollten lediglich darauf hinweisen, dass Bild.de die — gewiss sehr wahrscheinliche, aber eben nicht zweifelsfrei erwiesene — Vermutung bereits kurz nach der Festnahme als Tatsache dargestellt hat. Vielleicht sind wir, was den Umgang mit Tatverdächtigen angeht, ein bisschen empfindlich geworden.

Christian Semler, Ralf Hoppe, Fotojournalisten

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Freude, ihn gekannt zu haben”
(taz.de)
Die “taz” verabschiedet sich von Christian Semler.

2. “Das komplizierte Verhältnis von Berichterstattern und Internetfirmen”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
Martin Weigert beschreibt, wie schwierig es für Journalisten ist, nahe am Objekt der Berichterstattung und gleichzeitig unabhängig zu sein. “Je häufiger man gemeinsam auf Events und Parties Zeit verbringt, Bierchen trinkt und sich gegenseitig Informationen zuschiebt, desto schwieriger fällt es, in der Berichterstattung hundertprozentig der eigenen Linie treu zu bleiben.”

3. “Durchsucht: Staatsanwaltschaft nervt Pressefotografen”
(ndr.de, Video, 6:22 Minuten)
“Zapp” fragt bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt nach, warum sie Arbeitsmaterial von Fotojournalisten beschlagnahmt hat. Siehe dazu auch “Hausdurchsuchung bei Pressefotografen – mal eben so” (carta.info, Sabine Engelhardt).

4. “‘Am Flughafen'”
(spiegel.de, Ralf Hoppe)
Ralf Hoppe antwortet auf die Zweifel, die Alexander Svensson an einer im “Spiegel” beschriebenen 36-stündigen Blockade der Startbahn des Flughafens in Reykjavík hegte. Siehe dazu auch “ralf hoppe ist irgendwas peinlich” (wirres.net, Felix Schwenzel).

5. “Ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch zu retten?”
(drehbuchautoren.de, Peter Henning)
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ersticke in seiner formatierten Programmgestaltung, schreibt “Tatort”- und Fernsehfilm-Regisseur Peter Henning – “allenfalls noch der ‘Tatort’ und der eine oder andere Fernsehfilm” rage aus dem Einheitsbrei hervor.

6. “Iran Photoshopped Its New Stealth Fighter Jet to Look Like It Was Flying When It Totally Wasn’t”
(gizmodo.com, Casey Chan, englisch)

Ein klarer Bruch der Privatsphäre

Heute sind in einem italienischen Magazin erneut Fotos der leicht bekleideten Herzogin Kate veröffentlicht worden. Auch der Schweizer “Tagesanzeiger” berichtet in seiner Online-Ausgabe darüber:

Das Magazin “Chi” hat es wieder getan: Heute veröffentlichte das italienische Klatschblatt Bikini-Bilder der schwangeren Herzogin Kate. “Dies ist ein klarer Bruch der Privatsphäre”, sagte ein Sprecher des St. James Palasts in London. (…)

Der “Daily Mirror” berichtete von einem “Aufschrei” den es gegeben haben soll, als die Bilder in Italien gedruckt wurden. Die Boulevardzeitung will erfahren haben, dass das australische Magazin “Womans Day” 100’000 Pfund für die Fotos bezahlt haben soll.

Der “Tagesanzeiger” hat das deutlich ressourcenschonender gelöst:

Bikini-Bilder von schwangerer Kate abgedruckt [bebildert mit der Titelseite, auf der zwei der "Bikini-Bilder" - ohne Unkenntlichmachung - zu sehen sind]

(Auch wenn es wohl überflüssig ist, das zu erwähnen: Unkenntlichmachung von uns.)

Mit Dank an Nico.

Nach der Umfrage ist vor der Umfrage

Wenn Journalisten mit Statistiken jonglieren, ist immer äußerste Vorsicht geboten. Bei Umfrageergebnissen verhält es sich offenbar ganz ähnlich. Fangen wir bei “stern.de” an.

Zwei Tage nachdem Schwarz-Gelb Ende Januar bei der Landtagswahl in Niedersachsen eine Schlappe hinnehmen musste, hatte das Portal doch noch eine gute Nachricht für die Anhänger von Union und FDP:stern-RTL-Wahltrend - Keine Gefahr für Schwarz-Gelb auf Bundesebene

“stern.de” weiß:

Die Union kann weiter zuversichtlich auf das Wahljahr blicken.

Denn im “stern-RTL-Wahltrend” hält sie “mit 42 Prozent (…) einen ihrer besten Werte seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist”. Die SPD hingegen “verharrt weiter im Tief: Zum zweiten Mal in Folge erreicht sie nur 23 Prozent”.

Durchgeführt wurde die Befragung für den “stern-RTL-Wahltrend” vom Forsa-Institut, dessen Chef Manfred Güllner ebenfalls zu Wort kommt:

Dass die SPD trotz des rot-grünen Wahlerfolgs in Niedersachsen bundesweit schwach bleibt, ist für Forsa-Chef Manfred Güllner nur auf den ersten Blick ein Gegensatz.

Auf den zweiten Blick ist ihm dann vielleicht etwas ganz anderes aufgefallen. Nämlich, dass sein Institut die Umfrage vom 14. bis 18. Januar durchgeführt hat – also mehrere Tage vor der Niedersachsenwahl. Dass die Wahl die Umfrageergebnisse nicht beeinflusst hat, könnte also durchaus daran liegen, dass sie zum Zeitpunkt der Befragung noch nicht mal begonnen hatte.

Das müssten die Leuten bei “stern.de” eigentlich auch bemerkt haben, denn am Ende des Artikels schreiben sie selbst:

Datenbasis: 2506 repräsentativ ausgesuchte Bundesbürger, befragt vom 14. bis 18. Januar 2013, statistische Fehlertoleranz: +/- 2,5 Prozentpunkte. Institut: Forsa Berlin.

Und schon am Anfang des Textes:

Im stern-RTL-Wahltrend, der vor der Wahl in Niedersachsen erhoben wurde, (…)

(Hervorhebungen von uns.)

Und auch sonst beweist “stern.de” viel Geschick darin, inhaltliche Widersprüche einfach zu ignorieren. Während es noch in der Überschrift heißt, es gebe “keine Gefahr für Schwarz-Gelb auf Bundesebene”, und im Teaser, Schwarz-Gelb habe im Wahltrend “triumphiert”, stellt sich dieser Triumph im Text ein bisschen anders dar: Die FDP ist bundesweit nämlich “nur auf 4 Prozent” gekommen — und wäre damit nicht mal im Parlament. Nicht die besten Voraussetzungen für eine schwarz-gelbe Zukunft.

Eine ähnliche Verrenkung hat heute “Spiegel Online” hinbekommen: Umfrage: Union legt trotz Schavans Plagiatsaffäre kräftig zu

Die Deutschen scheinen die Union wegen der Aufregung um Annette Schavan nicht abstrafen zu wollen, ganz im Gegenteil: Trotz der Aberkennung des Doktorgrads und dem Rücktritt der ehemaligen Bildungsministerin klettern CDU und CSU laut dem Wahltrend von “Stern” und RTL im Vergleich zur Vorwoche um zwei Prozentpunkte.

Dass die Union “trotz Schavans Plagiatsaffäre” zulegt, mag ja sein. Das heißt aber nocht nicht, dass sie es “trotz der Aberkennung des Doktorgrads und dem Rücktritt” tut:

Der Doktortitel wurde Frau Schavan am 5. Februar aberkannt. Durchgeführt wurde der Wahltrend, wie “Spiegel Online” selbst schreibt, “in der Zeit vom 4. bis 8. Februar”. Einige Befragte konnten also noch gar nichts von der Aberkennung des Doktortitels wissen. Vom Rücktritt wussten sogar noch weniger der befragten Personen — niemand, um genau zu sein. Denn der wurde erst einen Tag nach der Umfrage bekanntgegeben.

Mit Dank an Jascha H.

Nachtrag, 20.10 Uhr: “Spiegel Online” hat sich unauffällig korrigiert. Der betreffende Absatz lautet nun so:

Die Deutschen scheinen die Union wegen der Aufregung um Annette Schavan nicht abstrafen zu wollen, ganz im Gegenteil: Trotz der Debatte um ihre Doktorarbeit klettern CDU und CSU laut dem Wahltrend von “Stern” und RTL im Vergleich zur Vorwoche um zwei Prozentpunkte.

Und aus dem Satz …

Für die Umfrage wurden 2505 repräsentativ ausgesuchte Bundesbürger in der Zeit vom 4. bis 8. Februar befragt.

… ist Folgender geworden:

Für die Umfrage wurden 2505 repräsentativ ausgesuchte Bundesbürger in der Zeit vom 4. bis 8. Februar befragt – also noch vor dem Rücktritt der Ministerin. Diese zog sich am 9. Februar vom Amt der Bildungsministerin zurück.

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