Archiv für März, 2013

Papstwahl, Katholiken, Marathon-Fernsehen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Denn sie wissen nicht, was sie schreiben sollen”
(diepresse.com, Michael Fleischhacker)
Michael Fleischhacker hält die Berichterstattung zur Papstwahl für einen “Klassiker des fernfuchtelnden Hausfrauenjournalismus”: “Journalisten und Redaktionsleiter glauben, sie müssten aus Gründen des Publikumsinteresses über Sachverhalte berichten, die sie selbst für vollkommenen Schwachsinn, für die letzten Reste von mittelalterlicher Denk- und Lebensweise im 21. Jahrhundert halten. Man darf sich nicht wundern, dass dabei so viel lächerliches Zeug herauskommt.”

2. “Radikale Katholiken von Gloria.tv”
(spiegel.tv, Video, ca. 11 Minuten)
Spiegel.tv filmt in der Schweiz Macher des extremistisch katholischen Videoportals Gloria.tv – und diese filmen zurück.

3. “Dreiste Fukuschima-Propaganda im Staats-TV”
(marco-kanne.de)
Berichte der ARD erwecken den Eindruck, als hätte auch die Nuklearkatastrophe von Fukushima Todesfälle gefordert: “Alle Toten, die bei den Katastrophenereignissen im Jahr 2011 zu beklagen waren, sind Opfer des Tōhoku-Erdbebens bzw. des durch dieses verursachten Tsunamis, also Opfer von ‘Mutter Natur’.”

4. “Die inhalierte Serie”
(funkkorrespondenz.kim-info.de, Franz Everschor)
“Marathon-Fernsehen” sei “in den USA der neue Trend”, rapportiert Franz Everschor: “Sozusagen von morgens bis abends mit empfangsbereiten elektronischen Geräten bewaffnet, verlangt der Konsument des Jahres 2013 nach Entscheidungsfreiheit. Er will weder Sklave eines Sendeplans noch eines Videoangebots sein, die ihm aufoktroyieren, wann er sich womit sich beschäftigen soll.”

5. “Authentisch, ehrlich, gut?”
(vocer.org, Sandra Müller)
“‘Live’-Gespräche aus der Konserve und Interviews, die keine sind, haben im Radio Hochkonjunktur”, schreibt Sandra Müller: “Ganz einfach, weil sie so schön praktisch sind, so bequem, so gut kalkulierbar. Sie lassen sich auf die gewünschte Länge schneiden und als passgenaue 2:30 Minuten auf Sendung nehmen. Der Moderator spart sich die aufwändige Vorbereitung. Ein paar Fragen auf Lücke reichen und die Antworten kommen auf Knopfdruck.”

6. “FAQ zum Leistungsschutzrecht für Presseverleger (für Blogger, Social Media & Journalisten)”
(rechtsanwalt-schwenke.de)

Auf dem Augenarzt-Auge blind

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist kein EU-Gericht.

Guido Westerwelle und Klaus Wowereit sind in der Schule nie sitzengeblieben.

Philipp Rösler ist kein Augenarzt.

Letzteres müssen wir leider noch mal erwähnen, weil die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” heute auf ihrer Seite 3 das hier schreibt:

Es gab viele schlechte Augenblicke in der bisherigen Amtszeit von Philipp Rösler. Eigentlich waren die Monate seiner Amtszeit sogar hauptsächlich eher nebeltrübe. Und wenn der 20. Januar, an dem in Niedersachsen gewählt wurde, nicht ein besonders glücklicher Tag für ihn und seine Mitstreiter gewesen wäre, dann hätte der frühere Bundeswehroffizier und Augenarzt in diesem Frühjahr gar nicht mehr kandidieren können. Die Partei schien seiner überdrüssig.

Und wo wir gerade im staubigen Archiv stehen, hätten wir dann auch noch diese Falschzuschreibungen der letzten Jahre im Angebot:

  • Vor zwei Jahren war er mit viel Vorschusslorbeeren gestartet, der freundliche junge Augenarzt aus Niedersachsen mit den vietnamesischen Wurzeln, frisch Vater von Zwillingen, der Neuanfang nach der zuletzt quälenden Ära Westerwelle.
    (“Abendzeitung”, 5. Januar 2013)
  • Bleiben neben den Trainern Merkel (Angela, nicht Max) und Schäuble die Röslers, Niebels, Aigners, Schröders und Pofallas. Für die wird es eng. Allenfalls die medizinische Abteilung könnte etwas für den Augenarzt Rösler sein.
    (“Frankfurter Allgemeine Zeitung”, 20. Oktober 2012)
  • Und was würde im Fall der Fälle aus Rösler? Der gelernte Augenarzt hat kein Bundestagsmandat.
    (dpa, 7. Mai 2012)
  • Beim Neujahrsempfang der hessischen FDP im Wiesbadener Kurhaus demonstrierte der studierte Augenarzt und frühere Bundeswehrarzt Philipp Rösler am Donnerstagabend, dass er sein Handwerk auch nach dem Wechsel in die Politik noch versteht. Der 35 Jahre alte Liberale leistete einer Frau aus dem Publikum, die mit einem Kreislaufkollaps zu Boden gesunken war, entschlossen Hilfe.
    (“Frankfurter Allgemeine Zeitung”, 22. Januar 2011)

Mit Dank an Michael L.

Ulrich Wilhelm, Sun, RTL

6 vor 9

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1. “Kollektiver Kinderwahnsinn: Herzogin Kate im Verhör der internationalen Presse”
(stefan-niggemeier.de)
Hat Catherine, Herzogin von Cambridge, versehentlich das Geschlecht ihres Babys verraten, sich “verplappert”? Nein.

2. “Four public officials admit selling information to Sun”
(guardian.co.uk, Lisa O’Carroll and Josh Halliday, englisch)
Vier Personen in Staatsdiensten (“Two former police officers, an ex-prison officer and another public official”) geben zu, Informationen an die “Sun” verkauft zu haben.

3. “Subtile Fälschungen”
(begleitschreiben.net, Gregor Keuschnig)
Welchen Wert haben Zeitungsgespräche, “die bis zur Unkenntlichkeit bearbeitet sind, von deren Bearbeitung ich jedoch nie etwas erfahre”, fragt Gregor Keuschnig. Weiter behandelt er Informationen, die unter dem “Deckmantel der Verschwiegenheit” verabreicht und dem Leser “in kleinen Dosen” weitergegeben werden. “Der Leser kann sich nun auf die Suche nach einer Botschaft zwischen den Zeilen machen; einem Verfahren, dass nicht unähnlich dem in Diktaturen ist, in dem es oft genug darum geht, Texte mit versteckten Hinweisen durch die Zensur zu schmuggeln. Fast nebenbei werden Journalisten zu Günstlingen, die in Besitz eines exklusiven Herrschaftswissens kommen. Dieser informell gewährte Vorteil kann jedoch jederzeit aufgehoben bzw. variiert und an andere Personen vergeben werden.”

4. “Wir sollten jetzt aus den Gräben herauskommen”
(faz.net, Michael Hanfeld)
Ein Interview mit Ulrich Wilhelm, Intendant des Bayerischen Rundfunks: “Die Öffentlich-Rechtlichen sind in der privilegierten Situation, nicht auf Quoten schielen zu müssen. Die Quote darf ohnehin nie zum Selbstzweck werden, sie ist lediglich eine dienende Größe, die in Anbetracht der Mediennutzung des Internets an Aussagekraft verliert.”

5. “Gesundheitsminister Bahr kritisiert neue RTL-Doku”
(dwdl.de, Uwe Mantel)
Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit, kritisiert die RTL-Sendung “Das Jenke-Experiment” als “vollkommen unangemessen”. Siehe dazu auch “RTL stoppt Kreißsaal-TV endgültig” (tagesspiegel.de, Kerstin Hense).

6. “Schon ist einem wieder klar, warum es Journalismus geben muss”
(blogs.taz.de/reptilienfonds, Jakob Hein)

Verkäsungszulage, Überangebot, YouTube

6 vor 9

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1. “LSR und Blogger: Was sagen die Verlage dazu? Klare Kante?”
(robertbasic.de)
Robert Basic fragt bei Medienverlagen nach, was denn nun das Leistungsschutzrecht für Presseverleger für Blogger bedeutet.

2. “Überangebot ist der Medien Tod”
(cicero.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz stellt bei den Medien zu viel des Gleichen fest: “Wenn wir heute von medialen Angeboten im digitalen Zeitalter sprechen, dann geht es nur sehr vordergründig um die vermeintliche Zahlungsunlust des Publikums oder eine Gratismentalität, die quasi mit der Geburt des Internet wie ein Meteroiteneinschlag über uns gekommen ist. Es geht schlicht und ergreifend darum, dass wir viel von dem haben, von dem wir früher mal dachten, es könnte davon gar nicht zu viel davon geben.”

3. “Käse vom Amt”
(oeffentlichkeitsgesetz.ch, Otto Hostettler)
Das Schweizer Bundesamt für Landwirtschaft verlangt eine Gebühr von 275.000 Franken, um Einsicht in eine Liste von Empfängern der Verkäsungszulage zu gewähren. “Bevor die Liste herausgegeben werden könne, müssten sämtliche 2500 Subventionsempfänger schriftlich ‘angehört’ werden, behauptet das Bundesamt.”

4. “A Day in the Life of a Digital Editor, 2013”
(theatlantic.com, Alexis Madrigal, englisch)
Alexis Madrigal erzählt ausführlich aus seinem Alltag als Digitalredakteur von “The Atlantic”: “While the top six or seven viral hits might make up 15-20 percent of a given month’s traffic, the falloff after that is steep. And once you’re out of the top 20 or 30 stories, a really, really successful story is only driving 0.5 percent or less of a place like The Atlantic’s monthly traffic. But that’s the best-case scenario. In most cases, even great reported stories will fizzle, not spark. They will bring in 1,000 or 3,000 or 5,000 or 10,000 visitors. You’d need thousands of these to make a big site go.”

5. “YouTube Deutschland vs. YouTube International”
(gugelproductions.de)
Bertram Gugel vergleicht YouTube in Deutschland und den USA: “Von sieben Fokuskategorien (Beliebt, Musik, Sport, Spiele, Filme, TV Shows, Nachrichten und Spotlight) in den USA sind in Deutschland nur ganze drei (Beliebt, Sport, Spiele) verfügbar. Es lohnt sich also ein Blick in die fehlenden Kategorien zu werfen um festzustellen, welche Bereiche und Features im deutschen Angebot fehlen.”

6. “Absage aus Deutschland erschüttert den Grand-Prix”
(bakublog.tv, Presse)

Endlich geht’s abwärts!

Nach all den Jahren schlechter Nachrichten hat die “Welt” endlich mal was Positives aus Griechenland zu berichten:

Absturz der Arbeitslosenquote erstmals gebremst

Nee, Moment. Das ist ja Unfug!

Zweiter Versuch:

Griechische Arbeitslosigkeit sinkt erstmals seit 2008. Seit 2008 steckt Griechenland in einer tiefen Rezession, die Wirtschaft schrumpft immer weiter. Doch nun scheinen die Hilfsprogramme zu greifen. Zumindest die Arbeitslosenquote fällt nicht mehr.

Na ja, irgendwie so ähnlich halt.

Mit Dank an Simon.

Nachtrag, 18.33 Uhr: Seit 16.53 “steigt” die Arbeitslosenquote nicht mehr.

Martenstein, ein Opfer seiner selbst

Harald Martenstein, der Franz Josef Wagner vom “Zeit Magazin”, wäre in seiner Schulzeit gerne sitzen geblieben. Dann wäre er jetzt traumatisiert und ein “Opfer” und würde sich besser fühlen. So zumindest der Tenor seiner typisch durcheinanderen Kolumne über Sitzenbleiber.

Martenstein erklärt:

Fast alle Leute, die ich kenne und die mal sitzen geblieben sind, haben ganz ordentliche Karrieren hingelegt, richtig gestört wirkt keiner von denen. Die politische Elite Deutschlands besteht sogar aus auffällig vielen Sitzenbleibern, Stoiber, Westerwelle, Wowereit, Kretschmann, alle sitzen geblieben. Peer Steinbrück sogar zweimal.

Ja, nee.

Denn Guido Westerwelle und Klaus Wowereit sind nie sitzen geblieben. Ihre Namen stehen zwar auf vielen Listen berühmter “Sitzenbleiber”, die immer wieder – wie jetzt von Martenstein – abgeschrieben werden, aber zu Unrecht, wie wir letzte Woche aufgeschrieben hatten: Beide haben ihr Abitur regulär nach 13 Jahren gemacht.

Interessanterweise hat “Bild” diesem Fehler am Montag sogar eine “Berichtigung” gewidmet — erst die zweite in diesem Jahre:

Berichtigung: Am 19. Februar 2013 berichtete BILD, dass Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (59, SPD) und Bundesaußenminister Guido Westerwelle (51, FDP) in ihrer Schulzeit einmal sitzen geblieben seien. Das ist falsch. Wir bedauern den Fehler.

In der Bildergalerie auf Bild.de taucht Westerwelle allerdings immer noch auf:

Sie alle blieben einmal sitzen: Guido Westerwelle (51, FDP), Außenminister

Bild  

Die Wahrheit über die Wahrheit über Roma

Seit einigen Tagen erzählt die “Bild”-Zeitung ihren Lesern …Die WAHRHEIT über ROMA in DEUTSCHLAND

Oder zumindest gibt sie vor, das zu tun. Im großen “Bild-Report” schickt das Blatt seine Leute zum Besuch ins “Roma-Haus”, stellt Fragen wie “Droht Deutschland eine Roma-Welle?” und erklärt, warum man Roma sein und es “trotzdem” schaffen kann.

Den Grund für das plötzliche Interesse an der “Roma-Welt” erklärt “Bild” so:

Die Diskussion um Armutsflüchtlinge aus Südosteuropa beschäftigt die Politik. Im Mittelpunkt der Debatte steht die Minderheit der Roma. Ab 2014 gilt für rund 1,5 Millionen Roma aus Rumänien und Bulgarien die “Arbeitnehmerfreizügigkeit”. Die Befürchtung der Politik: Viele kommen wegen Sozialleistungen nach Deutschland.

Diese Befürchtungen hatten diverse Politiker zuvor panisch kundgetan — an medialen Plattformen, auf denen sie ihre markigen Sprüche verbreiten konnten, mangelte es freilich nicht. Allen voran “Bild” verkündete jedes Mal ganz hektisch, wenn irgendwer irgendwo wieder ein düsteres Roma-Szenario gezeichnet hatte.

Am 1. März berichtete “Bild” in der Bremer Regionalausgabe über den SPD-Politiker Martin Korol:

(…) Es wird geprüft, ob gegen den Bürgerschafts-Abgeordneten wegen Volksverhetzung ermittelt werden muss. Korol zu BILD: “Das tut schon weh.” Auf seiner inzwischen abgeschalteten Homepage warnte der Abgeordnete mit drastischen Worten vor Roma-Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien: “Sie kommen aus einer archaischen Welt. Väter haben keine Hemmungen, ihre Kinder zum Anschaffen und Stehlen statt zur Schule zu schicken. Sie schlagen ihren Frauen die Zähne aus, gönnen nur sich selbst Stahlzähne. Viele jungen Roma-Männer schmelzen sich mit Klebstoffdünsten das Gehirn weg.”

(…) Einige Sozialdemokraten stempeln Korol als fremdenfeindlich und rassistisch ab.

“Bild” hatte aber offenbar Zweifel an diesem “Stempel” und fragte:

…oder hat er DOCH Recht?

Bremerhaven – Schon vor dem Skandal um Dr. Martin Korol (SPD) waren die Armutseinwanderer ein politisch brisantes Thema.

Die Wählervereinigung “Bürger in Wut” (BiW) stellte dazu vor zwei Wochen eine Anfrage an den Bremerhavener Magistrat. Der Vorsitzende Jan Timke (42): “Wir haben gestern die erschütternden Antworten bekommen.”

Am 31.12. 2012 lebten 481 bulgarische Armutsflüchtlinge in der Seestadt. Auf ihr Konto gingen im vergangenen Jahr 195 Straftaten. Der Abgeordnete und ehemalige Polizeibeamte Timke: “Fast jeder zweite Roma ist kriminell. Dabei geht es nur um die aufgeklärten Fälle. Die Dunkelziffer wird viel höher sein.” Besser sind die Zahlen bei den Flüchtlingen aus Rumänien. Von den 208 Roma, die in der Seestadt leben, wurden 25 bei Straftaten erwischt.

Was “Bild” hier verschweigt: Die Wählervereinigung “Bürger in Wut” bezeichnet sich selbst zwar als “bürgerlich-konservativ”, gilt aber als rechtspopulistisch. Das erklärt auch, warum Timke die Antwort des Magistrats, die BILDblog vorliegt, offenbar absichtlich falsch interpretiert. Seine Darstellung, die sich “Bild”-Mann Holger Bloehte mehr oder weniger zueigen macht, ist in nahezu jeder Hinsicht verzerrt.

Zunächst einmal: Es stimmt zwar, dass “zum Stichtag 31.12.2012” in Bremerhaven 481 Bulgaren und 208 Rumänen gemeldet waren. Der Magistrat spricht aber explizit von rumänischen bzw. bulgarischen “StaatsbürgerInnen”. Wie viele davon tatsächlich Roma sind, geht aus den Zahlen gar nicht hervor.

Ebenso falsch ist es, wenn “Bild” behauptet, die “195 Straftaten” gingen auf das “Konto” der 481 Bulgaren – denn die Zahl 195 ergibt sich aus der “Auswertung der Gesamtzahl der Straftaten (…) bulgarischer StraftäterInnen”. Sie wurden also das gesamte Jahr über gezählt.

Die Aussage, “fast jeder zweite Roma” sei kriminell, ist also doppelt falsch. Nicht nur, weil sich aus den Zahlen, wie gesagt, keinerlei Rückschlüsse auf “die Roma” ziehen lassen, sondern auch, weil die 195 von Bulgaren begangenen Straftaten nicht in Relation zu den 481 Bulgaren zu setzen sind (was im Übrigen 40,5 Prozent wären, also längst nicht “fast jeder zweite”), sondern zu der Gesamtzahl aller Bulgaren, die irgendwann im Jahr 2012 mal in Bremerhaven gewohnt haben. Ebenso verhält es sich mit den 25 Straftaten, die den 208 (rumänischen) “Roma” zugeschrieben werden.

Und schließlich lässt sich den Zahlen des Magistrats auch nicht entnehmen, dass Roma ihren Frauen die Zähne ausschlagen, ihre Kinder zum Anschaffen schicken und sich das Gehirn mit Klebstoff wegschmelzen, wie der SPD-Politiker Korol pauschal behauptet hatte. Über die Art der 195 Straftaten ist nämlich nichts bekannt.

Aber all das lässt der “Bild”-Autor Holger Bloehte unerwähnt. Wenn man ihm nicht unterstellen möchte, dass er die falsche Interpretation der Zahlen bewusst so übernommen hat, muss man davon ausgehen, dass er die Antwort des Magistrats gar nicht gelesen und die offenkundig rechtspopulistischen Äußerungen des Politikers einfach nachgeplappert hat, ohne sie selbst zu überprüfen.

Auch andere “Bild”-Autoren verbreiten vermeintliche Roma-“Wahrheiten”, die sie entweder bewusst verzerrt oder einfach nicht genügend recherchiert haben. Gestern präsentierte “Bild” groß auf Seite 2:Die 6 Wahrheiten über ROMA in Deutschland

“Wahrheit” Nummer 3 lautet:

Die Kriminalität steigt

Die Kriminalstatistik 2011 weist unter den “nichtdeutschen Tatverdächtigen” 26 438 Rumänen, 10 960 Bulgaren aus. Vergleich: 2007 lagen die Zahlen noch bei 15040 bzw. 3923. Aber: Wie viele davon Roma sind, wird statistisch nicht erfasst!

Was die Autoren nicht erwähnen: Damals gab es auch deutlich weniger Rumänen und Bulgaren in Deutschland. Von 2007 bis 2011 hat sich ihre Anzahl sogar verdoppelt. Dass damit auch die (absolute) Zahl der Tatverdächtigen ansteigt, ist kein Wunder. Relativ gesehen zeigt sich allerdings, dass der Prozentsatz der Tatverdächtigen unter den Bulgaren seit 2007 tendenziell sogar gesunken ist.

(Für diese Einschätzung haben wir uns an den Statistiken des Ausländerzentralregisters orientiert, wozu angemerkt werden muss, dass diese ebenfalls lediglich die an einem Stichtag in Deutschland gemeldeten Bulgaren und Rumänen erfassen.)

Der Vergleich, den “Bild” hier vornimmt, lässt ohnehin keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Entwicklung der Kriminalität zu. In der Kriminalstatistik heißt es ausdrücklich:

Diese Daten [zur “Entwicklung der Tatverdächtigenanteile Nichtdeutscher”] dürfen nicht mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung gleichgesetzt werden.

Ein Grund dafür ist, dass in dieser Statistik beispielsweise auch strafunmündige Kinder unter 14 Jahren erfasst werden oder jene Menschen, die “wegen Tod, Krankheit oder Flucht nicht verurteilt werden” können. Zudem hat es im Jahr 2009 eine “systematische Umstellung” bei der Erfassung dieser Daten gegeben, weshalb das Innenministerium mehrmals betont, dass man die Zahlen ab 2009 nicht mehr mit den jenen aus den Vorjahren vergleichen kann. Kurzum: Dass “die Kriminalität steigt”, wie “Bild” behauptet, lässt sich, zumindest anhand der Kriminalstatistik, keinesfalls belegen.

Kommen wir zum Schluss nochmal zurück zu Martin Korol, dem eingangs erwähnten SPD-Politiker aus Bremen. Der tauchte wenige Tage nach seinen umstrittenen Äußerungen noch einmal in “Bild” auf — als “Verlierer” des Tages. Dort heißt es:

Der Bremer Bürgerschaftsabgeordnete Martin Korol (68, SPD) giftete auf seiner Internetseite gegen Roma (…). Dafür droht Korol nun ein Parteiordnungsverfahren – und der Rauswurf aus der SPD.

BILD meint: Erst denken, dann reden.

BILDblog meint: genau.

Mit Dank an den Hinweisgeber.

Nachtrag, 8. März: Die Aussage, “fast jeder zweite Roma” sei kriminell, ist nicht nur doppelt, sondern dreifach falsch. Denn der Magistrat spricht von der Anzahl der Straftaten – nicht der Straftäter. Die Polizei Bremerhaven hat uns auf Anfrage bestätigt, dass es durchaus möglich ist, “dass jeweils ein Täter mehrere dieser Straftaten begangen hat”. Die 195 Straftaten, die “Bild” hier den 481 bulgarischen Personen zuschreibt, könnten also theoretisch auch nur von zehn, zwanzig oder auch nur von einem (kriminell besonders aktiven) Bulgaren begangen worden sein. Danke an die vielen, vielen Hinweisgeber!

Nachtrag, 19. März: Jan Timke hat uns zwischenzeitlich geschrieben. Der Vorsitzende der “Bürger in Wut” erklärt, “Bild Bremen” habe seine Äußerungen “unzutreffend zitiert”:

[In der Anfrage an den Magistrat] beziehen wir uns durchgängig auf rumänische und bulgarische Staatsbürger, nicht auf Roma. Der Begriff Roma taucht in unserer Anfrage an keiner einzigen Stelle auf. Davon ausgehend habe ich auch gegenüber dem Redakteur der BILD ausdrücklich von Rumänen und Bulgaren gesprochen. Warum in dem Artikel dennoch von Roma die Rede ist, erschließt sich mir nicht.

Und in der Tat: Sowohl in der Anfrage an den Magistrat als auch in dessen Antwort ist ausschließlich von “rumänischen und bulgarischen Staatangehörigen” die Rede. Timke schreibt weiter:

Die Aussage, die Hälfte dieser Zuwanderer sei kriminell, habe ich ebenfalls nicht getan. Denn auch das geben die Zahlen nicht her, wie Herr Schönauer zutreffend ausführt. Wie Sie aus der beigefügten Anfrage ersehen können, hatten wir uns unter Ziffer 10. nach der Zahl der Straftäter erkundigt. Der Magistrat hat dagegen in seiner Antwort die Zahl der von Rumänen und Bulgaren im fraglichen Zeitraum begangenen Delikte genannt. Möglicherweise erklärt dieser Umstand den Fehler auf Seiten der BILD-Redaktion, der ich das Dokument im Vorfeld zur Verfügung gestellt hatte.

Autorisierung, Schickeria, Christian Streich

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Volle Kontrolle über Interviews”
(ndr.de, Video, 5:12 Minuten)
Die Branche leidet unter einer “Autorisierungs-Willkür”. Naht der Redaktionsschluß, spielen Interviewte gerne auch mal auf Zeit – und erzwingen so inhaltliche Zugeständnisse.

2. “‘Was heisst hier Objekt?'”
(journalist.de, Jan Freitag)
Ein Interview mit “Spiegel-Online”-Redakteurin Annett Meiritz: “Es mag ja fraglich sein, was das übliche Gelage vorm Dreikönigstreffen der FDP journalistisch bringt, aber als Menschen lernt man einen Politiker nicht nur zwischen 8 und 17 Uhr kennen. Und viele meiner Informationen über die Piraten hätte ich auf rein offiziellem Weg kaum gekriegt. Deshalb bin ich dankbar für jedes Gespräch abseits steriler Büros oder Pressekonferenzen, wo man ohne Formalitäten stundenlang über alles Mögliche, vor allem aber Politik reden kann. Wichtig ist nur, dass man vertraulich-professionelle Nähe nicht mit Freundschaft verwechselt.”

3. “Für Texte bezahlen? Auf die Inhalte kommt es an”
(nordbayerischer-kurier.de, Joachim Braun)
“Wir sind ja nicht, ich jedenfalls nicht, Journalisten geworden, um ein Teil der örtlichen Schickeria zu sein, abends Häppchen essen zu gehen und in einem Nine-to-Five-Job das zu schreiben, was bestimmte Leute gerne lesen, die sich dann dafür auch, wenigstens mit Anerkennung, dankbar zeigen. So aber sieht Lokaljournalismus derzeit vielfach, natürlich nicht überall, aus. Und so missachtet er die Interessen von 98 Prozent unserer Abonnenten. Journalismus ist Arbeit, kein Vergnügen, und kaum eine Journalismus-Spielart erfordert so viel persönliches Engagement wie guter Lokaljournalismus, weil man immer schrecklich nah dran ist.”

4. “Betr.: Tugendfuror”
(tolleneuewelt.blogspot.de)
Robert von Lubo schreibt an die Medien: “Habt ihr ein Opfer auserkoren, seid ihr nicht mehr zu bremsen.”

5. “Beckmann liebt Streich”
(kabinentraktate.wordpress.com, Soeren Feyerabend)
Medien erschaffen sich “ein Spektrum von scheinbaren wie plakativen Charaktereigenschaften, die sich in Form einer Angriffsfläche ins Gegenteil verkehren, sobald es nicht mehr läuft”, stellt Soeren Feyerabend fest: “Sobald die Dinge nicht mehr laufen, wenn Christian Streich und der SC Freiburg also einmal ein Tal durchschreiten müssen, wie Streich es auch fortwährend im Sinne des Realismus ankündigt, wird alles, was ihn jetzt auszeichnet, gegen ihn verwendet werden. Er ist dann zu anders, zu komisch, fährt zu viel Fahrrad. Seht her, schreien sie dann: Klappt wohl doch nicht alles so, wie der Freak sich das gedacht hat.”

6. “Wieviele Schriften / Schriftschnitte findest Du?”
(flickr.com, Foto)
Eine Analyse der Startseite von nzz.ch.

‘Ne reine “Welt”-Idee

Wie bekommt man auf einer Flugreise eigentlich ein Upgrade in die Business Class? Dieser Frage sind die Servicejournalisten von Bild.de nachgegangen.

Nichts Genaues weiß man nicht, lautet ihr Ergebnis, aber als Teilnehmer eines Vielfliegerprogramms wie “Miles & More” von der Lufthansa könne man günstig upgraden: “Aktuell kostet ein Upgrade von der Economy in die Business Class auf einem Flug von Frankfurt nach Atlanta (USA) zum Beispiel nur 20 000 statt 35 000 Meilen”, wird ein Lufthansa-Sprecher zitiert.

Und Bild.de hat da auch einen ganz praktischen Tipp, wie man ganz schnell an diese 20.000 Meilen kommt:

Wer diese Meilen nicht auf dem Konto hat, kann im Miles&More-Meilenshop einkaufen und dabei Punkte sammeln. Für ein Abonnement der Zeitung "Die Welt" im Wert von 25,90 Euro gibt es zum Beispiel 2000 Bonusmeilen aufs Konto. Theoretisch könnte man also zehn Abonnements abschließen und hat damit schon die Meilen zusammen, die fürs Upgrade nötig sind – und nur 250,90 Euro ausgegeben. Ein Schnäppchen, denn ein Ticket in der Business Class nach Atlanta kostet rund 4500 Euro! Wer ein Economy-Ticket für 700 Euro kauft und dann "upgraded", hat also rund 3500 Euro gespart! Nicht schlecht...

Ja, “theoretisch” sicher eine geniale Idee, die auch und vor allem die Axel Springer AG freuen dürfte, den gemeinsamen Mutterkonzern von “Welt” und Bild.de.

Praktisch gibt es da einen Haken, wie das Mittelgroßgedruckte auf der “Miles & More”-Seite verrät:

Pro Haushalt und Miles & More Teilnehmer werden innerhalb von 6 Monaten nur für eine Bestellung Prämienmeilen gutgeschrieben.

Da die Prämienmeilen bei einer regulären “Miles & More”-Karte nach drei Jahren verfallen, wird man auch mit hundert “Welt”-Abos nicht genug Meilen für ein Upgrade zusammenbekommen.

Mit Dank an David und Patrick K.

Nachtrag, 15.55 Uhr: Unsere Leser Christian G., Florian M., Alexander K. und Markus R. weisen völlig zu Recht darauf hin, dass Bild.de sich auch noch verrechnet hat: Zehn mal 25,90 Euro sind 259 Euro und nicht “250,90 Euro”.

Unser Leser Axel verweist des weiteren darauf, dass die 20.000 Prämienmeilen nur für ein Upgrade in eine Richtung (also entweder Hin- oder Rückflug) reichen würden und man ein Upgrade via Prämienmeilen nur in bestimmten Buchungsklassen der Lufthansa (B und Y) bekomme, in denen die Tickets deutlich teurer seien als das Beispiel für 700 Euro.

Balken vor der Brust, Brett vorm Kopf

Überraschung, Enttäuschung, Fassungslosigkeit — es ist schwer zu sagen, welches Gefühl bei den Leuten von stylebook.de (ehemaliger Slogan: “Powered by Bild.de”) genau überwiegt, wenn sie fragen:

WARUM SO SCHÜCHTERN, MIRANDA? Model Miranda Kerr (29) postet sexy Oben-ohne-Bilder von sich auf Instagram. Anlass ist ein Fotoshooting im Pazifischen Ozean für ihre eigene Kosmetiklinie. Aber was soll der schwarze Balken? So schüchtern kennen wir Miranda gar nicht...

Sie scheinen jedenfalls aufrichtig verstört:

Victoria’s Secret Model Miranda Kerr postet auf Instagram diese freizügigen Oben-ohne-Bilder von einem Shooting mit Fotograf Chris Colls für ihre eigene Kosmetiklinie KORA Organics am Strand von Kalifornien. […]

Dass Miranda ein “Freigeist” ist, kann man auf den sexy Bildern sehen. Ein schwarzer Balken sorgt allerdings für ein bisschen Züchtigkeit. Offensichtlich möchte das Supermodel und Mutter von Baby Flynn (2) nicht alles preisgeben.

Dass Frau Kerr die “sexy Oben-ohne-Bilder von sich auf Instagram” mit einem schwarzen Balken versah, könnte natürlich auch damit zusammenhängen, dass sie andernfalls gegen die Richtlinien der Foto-Community verstoßen hätte:

Denke daran, dass unsere Community bunt gemischt ist und dass deine Fotos von Menschen angesehen werden können, die erst 13 Jahre alt sind. Wir respektieren die künstlerische Ausdrucksweise von Fotos, aber wir müssen darauf achten, dass unser Produkt und die bei uns gezeigten Fotos mit unserer Bewertung zu Nacktheits- und Erwachseneninhalten im App Store übereinstimmt. Mit anderen Worten: Bitte poste keine Nacktfotos oder Erwachseneninhalte gleich welcher Art.

Mit Dank Cornelius.

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