Archiv für Mai 23rd, 2012

Bild  

Wenn Diekmann wüsste…

Der Radiosender WDR5 hat gestern ein Gespräch des WDR-Moderators Jürgen Wiebicke mit Kai Diekmann, dem Chefredakteur der “Bild”-Zeitung, zum Thema “Verantwortung” ausgestrahlt (das man hier – unter einer ganz passablen Zusammenfassung – komplett nachhören kann).

Nach gut 30 Minuten des fast einstündigen Gesprächs schließlich wird der Moderator konkret:

Es verunglückt ein Bus in der Schweiz. Es sterben Kinder. Und “Bild” druckt Fotos von toten Kindern.
(Link von uns.)

Diekmann antwortet darauf nach einigem Hin und Her:

Es geht darum, einer Tragödie, einer abstrakten Tragödie, ein individuelles Gesicht zu geben, um sie so erfahrbar zu machen und Empathie zu wecken. Ich war gerade eine Woche in Isreal und habe dort mit Kollegen zusammen ein Seminar in Yad Vashem gemacht, der Zentralen Holocaust-Gedenkstätte, die ein ganz neues Konzept zur Erinnerung an die Shoa erarbeitet haben. Wenn wir immer von sechs Millionen getöteten Juden sprechen, dann klingt das sehr abstrakt, dann ist das ‘ne Zahl, damit verbinde ich überhaupt nichts. Aber wenn Sie nur das Schicksal eines einzigen Kindes erklären, erzählen, mit Foto, und ihre Lebensgeschichte – wird auf einmal die Zahl, sechs Millionen, in ihrer ganzen furchtbaren Dimenson erfahrbar.

Und man mag nun lange darüber nachdenken, wie selbstgerecht unverfroren geistreich Diekmanns So-wie-die-Zentrale-Holocaust-Gedenkstätte-Fotos-von-Holocausopfern-zeigt,-druckt-auch-die-“Bild”-Zeitung-Fotos-von-Opfern-eines-Autounfalls-Analogie sein mag, aber…

… als sich der Moderator dann doch nicht mit Diekmanns Reiseerinnerungen zufriedengeben will und den “Bild”-Chef darauf hinweist, dass er und sein Blatt “von Hinterbliebenen in unzähligen Fällen geradezu dafür verflucht werden, dass Sie solche Bilder veröffentlichen”, da antwortet Diekmann:

Ich weiß nicht, dass wir in unzähligen Fällen dafür verflucht werden, dass wir solche Bilder veröffentlichen – sondern wir versuchen das natürlich immer in Übereinstimmung mit denjenigen zu tun. (…) Wenn sie es nicht wollen, dann tun wir das natürlich auch nicht. Und wenn ich wüsste, jemand will das nicht, dann würde ich es auch nicht tun. Das ist doch keine Frage.

Einen “Eid darauf ablegen” möchte Diekmann angesichts “einer Redaktion mit 850 Mitarbeitern” dann zwar lieber doch nicht. Allerdings:

Wenn ich aber wüsste, dass irgendjemand unter keinen Umständen die Veröffentlichung eines solchen Fotos wünscht, dann würde ich selbstverständlich diese Veröffentlichung auch nicht vornehmen.

Das klingt deutlich.

Es sei denn, wir zitieren mal aus ein paar Entscheidungen des Presserats:

BILD (Stuttgart) erhielt eine öffentliche Rüge für einen Bericht über ein Lawinenunglück. Darin hatte die Zeitung die Fotos dreier Todesopfer abgedruckt. Zusätzlich hatte sie das Foto eines Überlebenden ohne dessen Einwilligung gedruckt und dabei das Gesicht nur unzureichend mit einem Balken unkenntlich gemacht. (…)

Eine öffentliche Rüge erhielt BILD. Die Zeitung hatte ein Foto des zehnjährigen Jungen veröffentlicht, der im April bei einem Terroranschlag in Ägypten getötet worden war. Dies geschah ohne Einwilligung der Eltern, so dass das Persönlichkeitsrecht des Jungen verletzt wurde. (…)

Ebenfalls wegen einer Bildveröffentlichung gerügt wurde BILD (Hannover). Die Zeitung hatte zu einem Artikel über die Pisa-Studie ein aus dem Jahr 2002 stammendes Foto einer Grundschulklasse veröffentlicht. Das Bild war damals zu einem anderen Zweck aufgenommen und jetzt ohne Rücksprache mit der Schule als Symbolfoto erneut publiziert worden. (…)

Öffentlich gerügt wurde die BILD-Zeitung aufgrund der Berichterstattung zum Absturz eines Flugzeuges im Himalaya, bei dem auch zwölf deutsche Touristen starben. Die Zeitung hatte auf der ersten Seite großformatig ein Foto der Unglücksstelle abgebildet, auf dem verkohlte Leichen zu sehen waren. Im Innenteil wurden zudem Fotos einiger Passagiere veröffentlicht. Dadurch wurde ein Teil der Opfer identifizierbar. Durch den assoziativen Zusammenhang zwischen den Abgelichteten im Innenteil und den anonymen Leichen auf der Vorderseite wurden die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt. (…)

BILD (Bremen) erhielt eine nicht-öffentliche Rüge wegen eines Verstoßes gegen die Ziffern 8, 2 und 1 des Pressekodex. Die Zeitung hatte berichtet, dass zwei Mädchen im Alter von eins und vier Jahren auf Veranlassung ihrer Mutter zur Beschneidung nach Afrika gebracht werden sollten, was aber durch den Vater und einen Polizeieinsatz habe verhindert werden können. Ausschlaggebend für die Rüge war ein beigestelltes Foto, das beide Kinder ungeblendet zeigte. Hierfür gab es nicht die Einwilligung beider Eltern. (…)

Eine nicht-öffentliche Rüge sprach der Ausschuss gegen BILD aus. Die Boulevardzeitung hatte in der Regionalausgabe Berlin/Brandenburg das Foto eines jungen Mädchens veröffentlicht, das vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Das Foto erschien zu einem Beitrag über den damaligen Freund des Mädchens, der Anfang dieses Jahres ebenfalls bei einem tragischen Unglück zu Tode kam. Der Ausschuss erkannte in der Veröffentlichung des Bildes, das ohne Einverständnis der Hinterbliebenen erfolgte, einen schweren Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte (…).

(Die Auflistung ist alles andere als vollständig – zumal sie nur Entscheidungen des Presserats berücksichtigt.)

Mit Dank an Johannes K. für den Hinweis!

Thilo Sarrazin, Rundfunkräte, NZZ

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der Teufel in Deutschland”
(nzz.ch, Rainer Stadler)
Deutsche Journalisten beurteilen das Buch “Europa braucht den Euro nicht” von Thilo Sarrazin noch vor der Lektüre: “Solche kurzatmigen, moralinsauren Verurteilungen eines Buchs, das erst in dieser Woche erscheint, müssen das Publikum geradezu animieren, durch einen entsprechenden Kauf sich selber eine Meinung zu bilden. Die Prophezeiung der Kritiker erfüllt sich. Hilflos strampeln sie mit im System der Vermarktung, das sie verdammen. Sie hätten schweigen und erst das umstrittene Werk lesen können.” Siehe dazu auch “Sarrazin-Inszenierung, Teil zwei” (nzz.ch, Ulrich Schmid).

2. “Kuschelige Kontrolleure – Die Gremien der ARD verweigern ihre Aufsichtspflicht”
(nachdenkseiten.de, Max Morlok)
Ihren Kontrollauftrag nehmen die wenigsten Mitglieder des Rundfunkrats wahr, glaubt Max Morlok: “Geblendet von der Bedeutung ‘ihres’ Senders und geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die ihnen aus der Hierarchie dieser Anstalten entgegengebracht wird, winken sie in der Regel alle Vorschläge durch, die ihnen von der Leitung der Häuser auf den Tisch gelegt werden.”

3. “‘Jeder und alles ist skandalisierbar'”
(tagesspiegel.de, Joachim Huber)
Ist jeder und alles skandalisierbar? Ja, sagt Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen: “Einziges Kriterium: Man braucht ein Publikum, das mitgeht und das Empörungsangebot eines wütenden Einzelnen annimmt – und dann selbst munter pöbelt, spottet, hasst.”

4. “‘Wir waren etwas zu optimistisch'”
(persoenlich.com, Edith Hollenstein)
Zur Aufschaltung der neuen Beta-Version von nzz.ch ein Interview mit Peter Hogenkamp: “Wir wollen eine einzige Marke. Wir publizieren auf jedem Kanal den gleichen hochwertigen Inhalt. Dass auf NZZ Online andere Inhalte zu finden sind als in der Zeitung, wird es künftig nicht mehr geben. Weil nun die hochwertigen Inhalte aus der gedruckten Zeitung auch Online zu finden sind, wird der Brand ‘NZZ Online’ in den nächsten Tagen verschwinden.”

5. “Der Aufstand der Journalisten und Komiker gegen das Libel Law”
(heise.de/tp, Markus Kompa)
Markus Kompa schreibt über anstehende Veränderungen in den britischen Gesetzen zur Ehrverletzung.

6. “Markets in Everything: Torturer”
(marginalrevolution.com, englisch)
Eine Stellenanzeige im “Guardian” sucht einen “Torturer”: “No, I don’t think the ad is real. Alas, I am sure the job is real.”