Die Geschichte hat alles, was Auflage macht: Tote! Die Nachbarn im Süden! Eine Alliteration in der Überschrift!
Gut, die zwei toten Deutschen verblassen vielleicht am Ende des ersten Absatzes etwas …
Ein neuer Lebensmittel-Skandal hält Deutschland in Atem. Nach dem Verzehr eines Harzer Käses aus Österreich sind zwei Deutsche an einer Listeriose (Bakterieninfektion) gestorben. In Österreich kamen sechs Menschen ums Leben.
Aber sonst?
Na ja, so richtig neu ist der Skandal auch nicht — neu ist die Erkenntnis, dass es Tote (übrigens insgesamt sechs und nicht sechs in Österreich und zwei Deutsche) gegeben hat.
Über die Rückrufaktion hatten verschiedene Medien bereits vordreiWochen berichtet. Allerdings war der Käse mit den gefährlichen Bakterien im Sortiment des Discounter Lidl aufgetaucht — und weil Lidl und “Bild” eine lange und innige Geschäftsbeziehung verbindet (s. Kasten), war die Meldung bei Bild.de zunächst etwas kleiner ausgefallen.
Auch die Meldung in der gedruckten “Bild” vom 25. Januar war eher unauffällig platziert gewesen und nur vier Tage später war Lidl (gemeinsam mit dem Konkurrenten Aldi) bei “Bild” schon wieder “Gewinner” — weil die Discounter in England beliebter seien als die heimischen Supermarktketten. “Bild” “meinte” damals:
Sorry, das ist eben deutsche Wertarbeit!
Jetzt aber gibt es die Opfer des österreichischen “Killer-Käses” (der aus deutschem Quark hergestellt wird) und Bild.de muss quasi über den Fall berichten.
Und das klingt dann so:
Eine große deutsche Handelskette reagierte sofort und verbannte die Produkte (Foto oben) aus den Regalen!
Als im vergangenen Jahr ein anderer Discounter eine große Rückrufaktion hatte starten müssen, stand sein Name gleich fünf Mal im Artikel auf Bild.de.
Mit Dank an Patrick S. und ceggis.
Nachtrag, 17. Februar: Bild.de hat die Zahl der Todesfälle in Österreich von sechs auf vier korrigiert, in einem neuen Artikel zum Thema wird Lidl genannt.
Es ist schon ein Kreuz mit dem Twitter-Journalismus oder der “neuen Medienwelt”, wie sie Thomas Schuler heute auf der Medienseite der “Süddeutschen Zeitung” anhand von Gerüchten über den Gouverneur des US-Bundesstaats New York beschreibt:
Und weiter:
Doch man muss nicht nach Amerika schweifen, um diesen Medien-Mechanismus zu betrachten. Um zu sehen, wie die Berichterstattung Gerüchterstattung funktioniert, kann der Leser der “SZ” auch einfach zwei Seiten weiter blättern. Dort, mitten im Wirtschaftsteil, berichtet gerüchtet die “Süddeutsche” selbst. Über Kim Schmitz, den C-Prominenten der deutschen IT-Szene der 90er Jahre, gibt es nämlich neue Fakten Informationen. Nunja:
Das mag richtig sein oder auch nicht – mehr als einen anonymen Insider weiß auch der “New Zealand Herald” nicht zu zitieren. Dies ist freilich ein Informationsweg, der gerade in Sachen Kim Schmitz chronisch unzuverlässig ist. Aber die “Süddeutsche” hat nicht einfach nur Gerüchte abgeschrieben, sondern sogar recherchiert:
Seine längst stillgelegten Websites sind bis heute auf die Firma Kimpire Ltd mit Geschäftsadresse in der Metropole registriert. Kim Schmitz war dort am Montag weder telefonisch noch per E-Mail erreichbar.
Und so wird aus einem unbestätigten Gerücht ein – nunja – unbestätigtes Gerücht.
Warum sich deutsche Leser für den angeblichen Hauskauf 23000 Kilometer entfernt interessieren sollten, lässt die “Süddeutsche Zeitung” freilich offen – es ist schlichtweg ein willkommener Anlass, die uralten Kimble-Stories noch einmal zu erzählen.
Der Branchendienst “Meedia” versuchte bereits am Montag die Dringlichkeit dieser Fast-Informationen zu vermitteln. Nicht neue Fakten, sondern das gewaltige Medienecho ist Anlaß für die Berichterstattung:
Das Wort “Schlagzeilen” ist freilich eine gewagte Interpretation der Sachlage, denn mehr als den einen Bericht einer neuseeländischen Zeitung hatte es bis dahin nicht gegeben.
Und der IT-Nachrichtendienst “Golem” fantasierte am Montag gar von einer öffentliche Verlautbarung des notorisch lauten Schmitz. Nicht ein anonymer Insider, Schmitz selbst habe sich sich in den Medien zurückgemeldet:
Aber wen interessieren schon Details, schließlich ist die Medienspirale längst in Gang gesetzt: Aus Gerüchten sind Schlagzeilen geworden, die dann von weiteren Medien zitiert werden können. So zum Beispiel am Dienstagnachmittag von der Online-Ausgabe des österreichischen “Standard”, die den Artikel der “Süddeutschen” dankbar abschreibtaufgreift.
Obwohl die Geschichte damit durch die Hände von fünf Redaktionen gegangen ist, ist nicht einen Deut klarer, ob das Gerücht mehr als ein wildes Gerücht ist. Aber das ist egal. Denn wie es Alexander Becker bei Meedia formuliert:
Nachtrag, 18.2.: Am Mittwoch hat auch die “Abendzeitung” das Gerücht aufgegriffen – die Münchner haben wenigstens pro forma eine E-Mail verschickt.
Und am Donnerstag hat schließlich auch Bild.de die Nicht-Nachricht entdeckt und präsentiert sie natürlich brandheiß und inaktuell. Obwohl die “Bild” Schmitz über Jahre unkritisch jede PR-Eskapade geglaubt hat, weiß die Redaktion jetzt nicht einmal von einem misslungenen Kontaktversuch mit dem “Prahlhans” zu berichten.
Es war eine Weltsensation, und der “Spiegel” hatte sie exklusiv. Im November berichtete das Nachrichtenmagazin über den Belgier Rom Houben, der nach einem Unfall scheinbar in ein Wachkoma gefallen war, tatsächlich aber wohl bei vollem Bewusstsein gewesen sei — 23 Jahre lang. Er konnte nur nicht mit der Außenwelt kommunizieren.
“Spiegel”-Wissenschaftsredakteur Manfred Dworschak hatte den Mann besucht und glaubte, sogar mit ihm gesprochen zu haben:
Wie haben Sie diese 23 Jahre überlebt, Monsieur Houben? Ein tiefes Knurren entweicht dem Mann im Rollstuhl, er scheint nachzudenken. Dann hurtiges Geklapper, ticketitack, Houbens rechter Zeigefinger huscht über die Tastatur, die an seiner Armlehne klemmt. Buchstabe auf Buchstabe erscheint: “Ich habe meditiert, ich habe mich weggeträumt”, steht da geschrieben. “Und nennen Sie mich Rom.”
Der Mann, der seiner Mitwelt verlorenging, lebt heute in einem hübschen Pflegeheim im belgischen Zolder. Noch immer ist er zu kaum einer Bewegung fähig, aber in seiner rechten Hand ist etwas Leben, das er nutzt: Mit Hilfe einer Sprachtherapeutin, die hinter ihm steht und seine Hand stützt, kann Rom auf einer Bildschirmtastatur schreiben.
Es klappert wieder, ticketitack: “Nie vergesse ich den Tag, an dem sie mich entdeckten, meine zweite Geburt.”
Viele weitere, teils herzzerreißende Antworten über das Leben von jemandem, der unerkannt bei Bewusstsein ist, aber keine Möglichkeit hat, sich mitzuteilen, schien der “Spiegel”-Redakteur dem Mann zu entlocken. Er war offenbar von der unbändigen Euphorie des Neurologen Steven Laureys, der den Fall entdeckt hatte, angesteckt:
Seit seiner Befreiung klappert Rom mit wachsendem Eifer auf seiner Tastatur, solange jedenfalls die Logopädin mitmacht. “Ich habe ihn natürlich getestet, um auszuschließen, dass in Wahrheit die Logopädin schreibt”, sagt Laureys. “Wir sind uns sicher, dass Rom bei Bewusstsein ist. Wussten Sie übrigens, dass er schon an einem Buch schreibt?”
Fernsehsender, Zeitungen und Online-Medien auf der ganzen Welt erzählten die unglaubliche Geschichte des “Spiegel” weiter. Die meisten Menschen, die sie hörten oder sahen, waren berührt. Und ein paar wurden sehr ärgerlich.
Denn die Methode, mit der Rom Houben vermeintlich sprach, ist höchst zweifelhaft. Bei der sogenannten “Gestützten Kommunikation” hält eine andere Person die Hand eines Menschen, der sich sonst nicht artikulieren kann, und führt sie über eine Tastatur. In Deutschland machte der Fall des Autisten Birger Sellin Furore, der sich auf diese Weise angeblich mitteilte, ein Buch schrieb und 1995 in “Stern-TV” mit Günther Jauch unterhielt.
Es fehlen wissenschaftliche Beweise dafür, dass bei der “Gestützten Kommunikation” tatsächlich derjenige spricht, der geführt wird — und nicht (womöglich unwissentlich) der Helfer. In Tests zeigte sich immer wieder, dass die Probanden auf diese Weise nur solche Fragen zuverlässig beantworten konnten, deren Antwort auch die Hilfsperson kannte. Bei der “Gestützten Kommunikation” würde es sich dann nur um eine Form des “Kluger Hans”-Effektes handeln. Amerikanische Fachverbände halten die Technik für diskreditiert.
James Randi, einer der bekanntesten und renommiertesten Kämpfer gegen Aberglaube jeder Art, hält “Gestützte Kommunikation” für nichts anderes als Scharlatanerei. Er geriet deshalb besonders in Rage, als er die Geschichte hörte, wie sich Rom Houben angeblich plötzlich der Welt mitteilte. “Diese grausame Farce muss aufhören!”, schimpfte er in seinem Blog und wies darauf hin, dass man in den Fernsehaufnahmen sogar sieht, dass Houben nicht einmal in Richtung der Tastatur schaut. Das tut aber die Frau, die mit festem Griff seine Hand führt. Das, was Houben angeblich “sagte”, ließ einige Experten ebenfalls misstrauisch werden.
Wir hatten damals “Spiegel”-Redakteur Manfred Dworschak mit der Kritik konfrontiert und gefragt, warum er meint, mit Rom Houben selbst kommuniziert zu haben. Er antwortete:
Steven Laureys hat Houben getestet (er zeigte ihm eine Reihe von Objekten, während Houbens Logopädin außerhalb des Raumes wartete, und fragte ihn, als sie zurückgekehrt war, was er gesehen hatte).
Ich weiß, dass die gestützte Kommunikation einen trügerischen Eindruck erwecken kann; deshalb habe ich mich ja auch vergewissert. Sie ist aber nicht schon von vorneherein ein untauglicher, korrupter Kanal, der in jedem Fall nur zur Hilfsperson führen kann.
Rom Houben fing nach seiner Entdeckung zunächst an, mit seinem rechten Bein (die rechte Körperhälfte ist motorisch nicht ganz erloschen) Ja-Nein-Signale zu geben. Damit war eine erste Verständigung möglich. Später lernte er, ein einfaches Ja-Nein-Display mit dem Zeigefinger zu bedienen. Als er damit gut zurecht kam, ging er zur alphabetischen Tastatur über.
Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn er beim Schreiben nicht immer die Tastatur im Blick hat; er sähe bei seiner Lichtempfindlichkeit ohnehin mitunter nicht allzu viel. Und wenn man bedenkt, dass er fast jeden Tag Stunden mit Schreiben verbringt und diese Tastatur für ihn das einzige Objekt auf der Welt ist, auf das er sein Handeln richten kann, verwundert es nicht so sehr, dass er die Tasten inzwischen auch mal halbwegs blind trifft (sie sind ja auch nicht gerade klein).
Das klang halbwegs überzeugend, doch die Skeptiker sollten Recht behalten. Im aktuellen “Spiegel” muss Dworschak einräumen, dass Rom Houben nicht auf diese Weise mit ihm reden konnte. Die Richtigstellung hat das Nachrichtenmagazin unauffällig in einem langen Artikel über neue Ideen der Hirnforschung versteckt:
Houben schrieb wohl doch nicht selbst; er hat nicht genug Kraft und Muskelkontrolle in seinem rechten Arm, um Zeichen anzusteuern. Die Logopädin, im Bemühen, dem Mann zum Ausdruck zu verhelfen, übernahm also unbewusst die Führung — solche Selbsttäuschungen kommen bei der Methode immer wieder vor. Auch die Auskünfte, die Houben Ende vorigen Jahres dem SPIEGEL gab, stammten demnach nicht von ihm.
Im aktuellen Test bekam Houben nun der Reihe nach ein Wort vorgesprochen oder einen von 15 Gegenständen gezeigt; die Logopädin war nicht dabei. Danach sollte der Mann jeweils den richtigen Begriff aufschreiben — es gelang kein einziges Mal.
Was für ein Alptraum muss es für den Gelähmten gewesen sein, wenn er tatsächlich bei Bewusstsein ist, zu erleben, wie andere in seinem Namen für ihn sprachen, was er gar nicht sagte.
In seinem ersten Stück im vergangenen Jahr schrieb Dworschak über Houben, den er damals noch Rom nannte:
Sein Fall zeigt besonders drastisch, wie wenig mitunter der Schein über das Sein sagt.
Das hat sich leider auf zweifache Art bewahrheitet.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Medizinmythen” (zeit.de, Harro Albrecht)
“Früher verbreiteten sich Wissenschaftsmythen in Salons, Vereinen und per mündlicher Überlieferung – und verschwanden bald wieder.” Doch heute sind sie fast nicht totzukriegen – in den Medien und im Internet werden sie immer wieder von Neuem aufgegriffen.
2. “Der Unbelehrbare” (oeffingerfreidenker.blogspot.com, Stefan Sasse)
Stefan Sasse stellt sich den “Sieben bitteren Wahrheiten über Hartz IV” von Professor Bernd Raffelhüschen in “Bild” entgegen und nennt ihn einen Brandstifter und Pharisäer: “Er ist selbst Bezieher staatlicher Leistungen, eines der höchsten Beamtengehälter der BRD nämlich, und genießt dazu Unkündbarkeit. Dass solche Menschen aus ihrem Elfenbeinturm heraus glauben, anderen niedrige Löhne und eine Abschaffung des Kündigungsschutzes verordnen zu müssen ist wahrhaftig widerlich.”
3. “Geschriebener Unsinn” (truckonline.de)
Ostsee-zeitung.de ändert nach der Intervention eines Lesers eine Schlagzeile und macht aus dem Wort “Lkw-Maut-Preller” das Wort “Lkw-Fahrer”. Das Statement dazu aus der Redaktion: “Diese Meldung kam von dpa und wurde von uns so übernommen. Wir können nicht jede einzelne Meldung überprüfen, zumahl der Online – Bereich kaum Gewinn abwirft!”.
4. “Kempowski statt Hegemann” (tagesspiegel.de, Harald Martenstein)
“Was ich wirklich peinlich finde: Die wachsende Hysterie der Kulturbeobachter, die inflationär vorhandene Bereitschaft, an jeder Straßenecke ein Meisterwerk wahrzunehmen, dieser von sich selbst berauschte, sich selbst schon im Moment des Aussprechens dementierende Jubelton, der, weil er so unrealistisch ist, jederzeit in sein Gegenteil kippen kann.”
5. “NYT Reveals Repeated Acts Of Plagiarism By Business Reporter Zachery Kouwe” (nytpick.com, englisch)
Die “New York Times” schreibt in einer “Editors’ Note” über ihren Reporter Zachery Kouwe: “In a number of business articles in The Times over the past year, and in posts on the DealBook blog on NYTimes.com, a Times reporter appears to have improperly appropriated wording and passages published by other news organizations.”
6. “Potenziell vorsichtig, potenziell zuversichtlich” (falk-lueke.de)
Falk Lüke fragt sich, warum in Deutschland so viele, er inklusive, die Risiken jeder potenziellen Chance “bis zum Ende der Vorstellungskraft abwägen wollen”.