Archiv für Januar, 2010

MTV, Handschriften, Westergaard

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Als die Stasi uns benutzte”
(taz.de, Jan Feddersen und Wolfgang Gast)
Die taz stellt fest, dass die 1987 in die Welt gesetzte These, das Aids-Virus sei in CIA-Labors gezüchtet worden, eine Stasi-Kampagne war. “Die Kampagne in Sachen Aids war geheimdienstlich seitens des sowjetischen KGB und der DDR-Stasi eingefädelt, koordiniert und global ausgestreut.”

2. “Zwanzig Zehn”
(blog.kooptech.de, Lorenz Lorenz-Meyer)
Journalismus-Professor Lorenz Lorenz-Meyer wünscht sich 2010 “Journalismus, der Mut hat, Farbe zu bekennen und bestimmte Themen mit mehr Nachdruck zu verfolgen”: “Ich wünsche mir, dass 2010 das Jahr wird, in dem in Deutschland die Anfänge eines neuen politischen Journalismus Gestalt annehmen, der von Inhalten bestimmt und mutig ist, und der dabei kreativen Gebrauch von sozialen digitalen Medien macht.”

3. “Ein offener Brief an MTV”
(netzfeuilleton.de, pelld)
Ein offener Brief an den ehemaligen Musiksender MTV, wo Sendungen vorherrschen, die “keinen Cent kosten und im Viacom Imperium herumgereicht werden wie die Ketchupflasche am Mittagstisch. Tragischer als ihre einfältige Vielfalt ist ihr fragiles Niveau, das sich mit der Zeit im ständigen Unterbietungskampf zu befinden scheint.”

4. “Die Handschrift ist eine unnatürliche Art zu schreiben”
(nzz.ch, Anne Trubek)
College-Professorin Anne Trubek plädiert dafür, die Handschrift “auf den Müllhaufen der Geschichte” zu werfen und keine Kinder mehr damit zu behelligen. “Die Handschrift ist nur ein winziger Funke in der Geschichte des Schreibens, und es ist Zeit, diese unnatürliche Art, Buchstaben zu formen, endlich abzuschaffen wie zuvor die Tontafeln, die Rauchzeichen und andere obskure Techniken.”

5. “Die Geschichte vom Moslem, der Weihnachten verbieten wollte”
(weltreporter.net/blog, Jürgen Stryjak)
Ein Nachtrag aus dem letzten Jahr von Jürgen Stryjak. Er widerspricht der unter anderem von “Spiegel Online” verbreiteten Geschichte, die besagt, dass der Publizist Yusuf al-Qaradawi das Weihnachtsfest verbieten wolle (“Islamischer Gelehrter will Weihnachten verbieten”): “Wer die Originalrede auf Arabisch hört, findet (…) keinerlei Hinweis darauf, dass Qaradawi Christen das Weihnachtsfest verbieten möchte.”

6. “Ein einsamer Mann”
(zeit.de, Stefan Willeke)
Stefan Willeke über den kürzlich in seinem Haus angegriffenen Zeichner Kurt Westergaard: “Für die Zeitung Jyllands-Posten zeichnet er im September 2005 eine Karikatur, die Mohammed mit einer Bombe als Turban zeigt. Monate vergehen, bis Westergaard die Folgen spürt.”

Eiskalt abgeschrieben

Fiese Freibiermentalität gefährdet nach Ansicht der Axel Springer AG einfach “jedes qualitativ anspruchsvolle Angebot im Netz”. “Abendblatt”-Vizechefredakteur Matthias Iken sang seinen Lesern Mitte Dezember das Klagelied vom bösen Kostenlosjournalismus vor. “Wer Qualitätsjournalismus zum Nulltarif will, will keinen Qualitätsjournalismus”, beschimpfte er das Publikum (und gab diese Woche ein herrliches Beispiel, wie bezahlter Qualitätsjournalismus auf abendblatt.de aussehen kann).

Wie dramatisch muss man sich dann erst die Lage beim (noch) kostenlosen Bild.de vorstellen?

Bei der völlig übertriebenen Panikmache von “Bild” vor einem angeblich drohenden Schneechaos am Wochenende darf online ein Rückblick auf die Schneekatastrophe zum Jahreswechsel 1978/1979 nicht fehlen. Wo könnte man recherchieren? In einem Geschichtsbuch? In historischen Artikeln aus dem Redaktionsarchiv? Bei Meteorologen oder Zeitzeugen?

Doch warum einen solchen Aufwand für den Artikel betreiben? Das Volk will nicht für Inhalte bezahlen, also will es auch keinen Qualitätsjournalismus. Und zum Glück kann man sich ja bei anderer Leute Freibier bedienen. Also schnell zu Wikipedia.

Artikel auf bild.de
Eintrag bei de.wikipedia.org
In meterhohen Schneeverwehungen bleiben Hunderte Fahrzeuge auf Landstraßen und Autobahnen liegen, Orte sind von der Außenwelt abgeschnitten. Auf Rügen ist ein Zug fast 48 Stunden von der Außenwelt abgeschnitten. Meterhohe Schneeverwehungen brachten den Straßen- und Eisenbahnverkehr zum Erliegen, viele Ortschaften und auch die ganze Insel Rügen, wo ein Eisenbahnzug mehr als 48 Stunden im Schnee steckte, waren von der Außenwelt abgeschnitten.
30 Zentimeter dicke Eispanzer legen sich um die Strom- und Telefonleitungen. Unter dem Gewicht brechen die Masten. Überall fallen die Strom- und Telefonnetze aus. Vielerorts fielen Strom und Telefonnetze aus, da sich bis zu 30 cm dicke Eispanzer um die Leitungen legten und die Strom- und Telefonmasten unter dem Gewicht barsten.
Bundeswehr und NVA sowie die Rote Armee in der DDR müssen mit Panzern den Gemeinden zu Hilfe kommen, deren Räumfahrzeuge die Schneemassen nicht mehr bewältigen können. Räumfahrzeuge der Gemeinden konnten die Schneemassen nicht mehr bewältigen, so dass die Bundeswehr, die NVA und die hier stationierte Rote Armee mit Panzern eingesetzt wurden, um zumindest liegen gebliebene Fahrzeuge und Züge zu erreichen.
Die Inseln an der deutschen Nordsee- und Ostseeküste sind nicht mehr erreichbar. Auf den Bauernhöfen gehen Kleinviehbestände zu Grunde. Örtliche Bäckereien fallen aus, es gibt kein frisches Brot mehr. Ebenso waren die Inseln nicht mehr erreichbar und komplett auf sich selbst gestellt. Kleinviehbestände gingen zu Grunde, der Ausfall örtlicher Bäckereien führte zu Brotmangel.
Die Telefone waren ausgefallen, Gemeinden, Hilfsorganisationen, Bundeswehr, Stromversorger und Bundespost arbeiteten auf unterschiedlichen Funkfrequenzen. Die Bundeswehr stationierte Funkpanzer als Relaisstationen im Katastrophengebiet. Eine Koordinierung der Hilfe war anfangs nicht möglich, da eine Zusammenarbeit zwischen Gemeinden, Hilfsorganisationen, Bundeswehr, Stromversorgern und Bundespost nie geplant worden war: es gab keine gemeinsamen Funkfrequenzen, auf denen man hätte kommunizieren können.
Funkamateure aus Schleswig-Holstein und Umgebung nahmen unmittelbar den Notfunkbetrieb auf. Funkamateure aus Schleswig-Holstein und Umgebung nahmen unmittelbar den Notfunkbetrieb auf und ermöglichten somit eine Koordination der Hilfskräfte untereinander
Auch die Fahrzeuge der Rettungsdienste konnten auf den zugeschneiten Straßen nicht mehr fahren, so dass auch hier die Bundeswehr ihre teilweise eingemotteten geländegängigen Krankenwagen kurzfristig reaktivieren und den zivilen Rettungsbetrieb nahezu komplett übernehmen musste. Auch die Fahrzeuge der Rettungsdienste konnten auf den zugeschneiten Straßen nicht mehr verkehren, so dass auch hier die Bundeswehr ihre teilweise eingemotteten geländegängigen Krankenwagen kurzfristig reaktivieren und den zivilen Rettungsbetrieb nahezu komplett übernehmen musste.

Mit Dank an Jens.

Nachtrag, 18.30 Uhr.

Auch abendblatt.de erinnert an die Schneekatastrophe zum Jahreswechsel 1978/1979 — in den Genuss der handverlesenen Premium-Information kommen allerdings nur zahlende Leser. 7,95 Euro pro Monat kostet der Übertritt vom kostenlosen Journalismus-Jammertal in den Hamburger Qualitätshimmel.

Wer hinter der Bezahlschranke ein exklusives Hintergrundstück zum Schneechaos erwartet wird jedoch enttäuscht — auch die “Abendblatt”-Redakteure haben sich einfach großräumig in der “Wikipedia” bedient. Doch wenigstens geben die im Gegensatz zur hauseigenen Kostenlos-Konkurrenz offen zu, woher die Ware stammt, und nennen als Quelle “wikipedia”. Womöglich ist das der Qualitätsgewinn, den man als zahlender Kunde bei Springer bekommt.

Nachtrag, 21.30 Uhr.

Inzwischen hat die Redaktion von “abendblatt.de” den Artikel über die Schneekatastrophe 1978/1979, der in wesentlichen Teilen auf einem Wikipedia-Eintrag basierte, kommentarlos aus dem kostenpflichtigen Bereich gelöscht. Die Redaktion von “Bild.de” hat ihren Artikel währenddessen um einen Hinweis ergänzt (“Ein Rückblick auf den Horror-Winter vor 30 Jahren, wie er in Wikipedia („Schneekatastrophe in Norddeutschland“) und in den Artikeln von damals nachzulesen ist”).

Gossweiler, Abendblatt, Talkshows

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Rezept zum ‘Reichweite runterfahren’: Bezahlinhalte”
(guenterbartsch.de, Video, 21:23 Minuten)
Günter Bartsch spricht mit dem Verleger von Jungfrauzeitung.ch, Urs Gossweiler, über Paid Content. Der Online-Pionier unter den deutschsprachigen Zeitungsverlegern glaubt, dass sich die Verleger mit der Einführung von Bezahlinhalten schaden, da sie ihre eigene Reichweite beschneiden. “In der Schweiz haben die Zeitungen in der gegenwärtigen Krise zwischen 20 und 30 Prozent Rückgang. Die Jungfrau-Zeitung hat im Moment, Stand Ende November, ein halbes Prozent Rückgang. Grund ist, dass wir unsere Anzeigen zu einem Fixpreis multimedial verkaufen.”

2. “ARAG-PR beim Hamburger Abendblatt jetzt kostenpflichtig”
(finblog.de, Andreas Kunze)
Finanzjournalist Andreas Kunze findet eine PR-Mitteilung des Rechtsschutzversicherers ARAG unter den Abendblatt.de-Artikeln hinter der Bezahlschranke: “Das Hamburger Abendblatt hat diese Pressemitteilung online wörtlich übernommen – und möchte offenbar nun Geld dafür haben, dass sie den Text in eine sechsteilige Klickstrecke zerbröckelt hat.”

3. “Man darf ja wohl noch fragen dürfen”
(freitag.de, Mikael Krogerus)
“Es gab eine Zeit in Deutschland, über die man in einigen Jahren vermutlich geflissentlich schweigen wird. Es war die Zeit, als die TV-Moderatoren Reinhold Beckmann, Johannes B. Kerner und der merkwürdigerweise von der Kritik verschonte Günther Jauch Woche für Woche aus nichtssagenden deutschen Promis und ‘betroffenen’ Arbeitslosen irgendeinen intimen Kokolores pressten und daraus die meistgesehenen Fernsehsendungen Deutschlands zimmerten.”

4. “Ab in die Wüste!”
(blogs.taz.de/blogwart)
Der taz-Blogwart rechnet zusammen, was durch “die Bloggerei des Bild-Chefs” Kai Diekmann bisher an nicht geplanten Kosten aufgelaufen ist.

5. “Journalistenkrise ist nicht überstanden”
(derstandard.at, Erich Félix Mautner)
“Der Standard” veröffentlicht eine Liste mit Journalisten, die “im vergangenen Jahr Konkurs anmelden” mussten. Viele dem Artikel folgende Kommentare sind damit nicht einverstanden.

6. “11 Most Painfully Obvious Newspaper Articles Ever”
(11points.com, englisch)
11 Schlagzeilen, die verkünden, was niemand gedacht hätte.

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Sinkflug nach oben

Die Düsseldorfer Regionalausgabe von “Bild” ließ am Dienstag die Sektkorken knallen:

Airport Düsseldorf: 18,1 Millionen Passagiere in 2009. Flughafen feiert neuen Rekord! ÜBERFLIEGER Düsseldorf

Für den Flughafen ist die Krise schon vorbei! Durch seinen Passagier-Rekord im zweiten Halbjahr 2009 landete der Airport mit insgesamt 18,1 Millionen Passagieren erneut auf der sensationellen Bestmarke von 2008 (Vorjahr 17,8 Millionen).

Überraschenderweise vermeldet der dpa-Ticker auf Bild.de (witzigerweise im Kölner Regionalteil) heute das exakte Gegenteil:

Flughafen Düsseldorf mit leichtem Passagierrückgang

dpa hat die Zahlen vermutlich von der Pressestelle des Düsseldorfer Flughafens, die heute ihre offiziellen Zahlen veröffentlichte und dabei mitteilte:

Rund 17,8 Millionen Passagiere wurden 2009 am drittgrößten deutschen Airport gezählt […] . Dies entspricht einem leichten Rückgang von zwei Prozent bei den Passagierzahlen […] .

Die 17,8 Millionen Passagiere aus 2009 weisen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der “Bild”-Angabe “(Vorjahr 17,8 Millionen)” auf; die von “Bild” als “sensationelle Bestmarke” gefeierte Zahl von 18,1 Millionen taucht dagegen in der Verkehrsbilanz 2009 gar nicht auf.

Allerdings ist jetzt nicht mehr schwer zu erraten, woher die Zahl stammt:

18,1 Millionen Passagiere starteten und landeten 2008 am Flughafen Düsseldorf.

Die zwei “Bild”-Autoren haben es im Werberausch für den Flughafen geschafft, aus dem leichten Rückgang einen “neuen Rekord” zu machen — indem sie die Zahlen von 2008 und 2009 verwechselt haben und damit Rauf mit Runter.

Mit Dank an Guido K.

Rodelberge, Markwort, Zankow

6 vor 9

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1. “Recherche 2.0: BILD Leipzig kopiert Liste der Rodelberge”
(danielgrosse.com)
Weil Daniel Große im Netz keine Liste der Rodelberge in Leipzig fand, erstellte er eine, gemeinsam mit anderen. In der “Bild Leipzig” entdeckte er kurz darauf eine sehr ähnliche Liste und folgerte: “Dass sich die BILD-Redakteurin an unserer Liste bediente, daran habe ich keinen Zweifel.” Redakteurin Doreen Beilke widerspricht: “Wir machen so eine Liste jedes Jahr. Eventuell haben ja Deine Leute unsere Liste vom letzten Jahr abgeschrieben”.

2. “‘Focus’-Relaunch: Signal und Affront”
(meedia.de, Georg Altrogge)
Georg Altrogge beschreibt, wie schwer es Helmut Markwort (Jahrgang 1936) fällt, von seinem langjährigen Job als “Focus”-Chefredakteur Abschied zu nehmen.

3. “Warum Journalisten sich einen neuen Beruf suchen sollten”
(krautsource.com/blog, Dominic Grzbielok)
Dominic Grzbielok glaubt, dass in die Redaktionen zuviel diskutiert wird: “Wie wäre es denn mit Schreiben, dieser ureigensten der journalistischen Tätigkeiten? Das Berichten und Erzählen von Geschichten, dafür sollte man Journalisten beschäftigen.”

4. Bobi Zankow in Bulgarien ermordet
(tagesspiegel.de, Frank Stier)
“Auf dem Weg zu seinem Rechtsanwalt wurde der 31-jährige Radio- und TV-Moderator am Dienstagmittag am belebten Boulevard Alexander Stamboliski von zwei Männern mit vier Schüssen aus 9-Millimeter-Pistolen getötet.”

5. “Malen nach Zahlen”
(stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier über den Zahlenfetisch und den Vorabmeldungswahn der Massenmedien.

6. “Tweets ausgedruckt”
(uarrr.org/blog)
Der Drucker von @tillkanone druckt Neuigkeiten bei Twitter aus. Live.

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Kopfloser Horrorjournalismus

Es gibt Unfälle, die sind an Grausamkeit kaum zu überbieten: Am 4. Januar gegen 23 Uhr prallte ein 20-jähriger Pkw-Fahrer auf der Hauptstraße im niedersächsischen Seckenhausen frontal gegen einen LKW-Anhänger, der auf der Fahrbahn abgestellt war. Der Kleinwagen schoss unter dem Anhänger hindurch, das Dach wurde dabei abgerissen, der Fahrer verstarb noch an der Unfallstelle. Es gibt Medien wie den “Weserkurier”, die sich bei einem solchen Unfall an die Fakten halten, die auch durch eine Polizei-Pressemitteilung belegt sind.

Und es gibt die “Bild”. Deren Berichterstatterin Astrid Sievert musste offenbar noch ein wenig an der Horror-Schraube drehen:

Horrorunfall: Autofahrer geköpft

Auch im Text lässt Sievert die Leser wissen, wie der “Horror-Unfall” konkret ausgesehen hat: “ER WURDE GEKÖPFT” steht dort in fetten Lettern. An anderer Stelle ist zu lesen, dass der junge Autofahrer “mit rund 100 km/h” in den Tod raste.

Wie die Horror-Berichterstatterin der “Bild” zu ihren Beobachtungen kam, ist unklar. Möglicherweise hat sie sich von “Nonstop-News” inspirieren lassen, einem Bereitschaftsdienst für Blut- und Blechschaden-Berichterstattung auf dem platten niedersächsischen Land. Die Reporter, die kurz nach dem Unfall zur Stelle waren und in ihrer Filmausbeute unter anderem eine “Totale der Unfallstelle mit viel Blaulicht” anzubieten haben, berichten: “Der Fahrer war offenbar bei dem Aufprall in Kopfhöhe sofort getötet worden.” Fest steht: Von einer Enthauptung kann keine Rede sein. “Die Pressemeldung der Polizei Diepholz ist maßgeblich und richtig. Der Fahrer wurde nicht geköpft”, stellt Thomas Gissing, Verkehrssicherheitsberater der Polizeiinspektion Diepholz, gegenüber BILDblog klar. Wäre der “Bild”-Berichterstatterin bei ihrer Arbeit nicht der eigene Kopf abhanden gekommen, hätte sie sich übrigens selbst denken können, dass die Darstellung vom “geköpften” Autofahrer nicht stimmen kann — immerhin heißt es in der Polizeimeldung, dass der Fahrer “noch an der Unfallstelle” verstarb und nicht “sofort tot” war.

Und auch die Geschwindigkeit, mit der sich der 20-Jährige auf den Anhänger zubewegte, ist nicht klar: Im “Weserkurier” konnte die Polizei dazu keine Angaben machen. Polizeisprecherin Jutta Stricker vermutet jedoch, dass der Kleinwagenfahrer langsamer als die 100 km/h gefahren war, die “Bild” behauptet. Die Situation sei ohnehin nicht nur mit hoher Geschwindigkeit gefährlich: Wenn sich so ein Hindernis auftue, sei eine Reaktion ohnehin schwer möglich, sagte Stricker dem “Weserkurier”.

Aber warum bei den Fakten bleiben, wenn sich ein grausamer Unfall mit gewissen verbalen Verrenkungen noch grausamer machen lässt – das denkt man sich offenbar auch hier, hier oder hier.

Haarspalterei

Falls Sie sich immer schon gefragt haben, was eigentlich das Gegenteil eines Fußballfelds ist: Das ist ein menschliches Haar. Zumindest auf Journalistisch.

Während die wehrlosen Sportplätze oft als Vergleichsgröße für große Flächen missbraucht werden, wird das einzelne Haar herbeigezogen, wenn es um extrem kleine Abmessungen geht.

So wie jetzt von “Computer Bild”:

Wichtigste Neuerung der Clarkdale-Prozessoren ist die Fertigungstechnik 32 Nanometer: Jede Leiterbahn im Prozessor ist 32 Nanometer (nm) breit – also etwa halb so dünn wie ein menschliches Haar.

Ein Nanometer entspricht 10-9 oder 0,000000001 Metern, ein menschliches Haar hat einen Durchmesser von rund 0,1 Millimetern (1 mm = 10-3 m) oder 100.000 Nanometern — und ist damit etwa 1500 Mal so dick, wie von “Computer Bild” behauptet.

Nachtrag, 16.25 Uhr: Bild.de hat den Text geändert:

ein menschliches Haar hat einen Durchmesser, der etwa zwischen 43.000 und 100.000 Nanometern liegt.

Mit Dank an Thorsten.

Explosiv, X-Factor, Wikileaks

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Kleine Boulevardreporterschule”
(faz.net/blogs/fernsehblog, Peer Schader)
Wie man einen RTL-“Explosiv”-Beitrag plant: 1. Ein geeignetes Thema finden, 2. Die Protagonisten ins Lächerliche ziehen, 3. Neue Opfer suchen.

2. “Wie die ‘BILD’ einmal Dresden mit Bonn verwechselte”
(presseclub-dresden.de, owy)
Der Vater des dritten Kinds eines Topmodels komme aus Dresden, ist auf Bild.de zu lesen. Kurze Zeit später stammt der Mann dann aus Bonn. Andere Portale übernehmen die Meldung, nicht aber die nachträgliche Änderung.

3. “Eine Antwort zu Ernst Elitz Journalismusbild”
(freitag.de/community/blogs/columbus, Christoph Leusch)
Und noch eine Antwort zu den “zwölf Thesen für einen besseren Journalismus” von Ernst Elitz: “Wer einmal von einem hoch angesehenen Journalisten oder Publizisten Dinge lesen musste, die dieser unmöglich gesehen, gelesen, verstanden und bearbeitet haben kann, der zweifelt doch daran, diese wichtiger Aufgabe des ‘Filterns’ so einfach in die Hände der Journalisten zurück zu geben.”

4. “Geben Sie Ihre Rechte bitte an der Garderobe ab”
(medienpiraten.tv/blog, Peer Schader)
Peer Schader liest die Castingvereinbarung der für Sommer 2010 geplanten RTL- und VOX-Sendung “X-Factor” und notiert sich einige Passagen, die Kandidaten unterschreiben müssen. Zum Beispiel: “Ich übertrage auf den Produzenten auch alle Rechte für unbekannte Nutzungsarten.”

5. “Leak-o-nomy: Die Ökonomie hinter Wikileaks”
(stefanmey.wordpress.com)
Nachgetragen: Ein Interview mit Julian Assange, der über die Finanzierung von Wikileaks spricht.

6. “Eine Schule in den Bergen”
(ardmediathek.de, Video, 7:33 Minuten)
Ein Bericht über die Schulsituation in Zentralchina, die sich von der in Westeuropa stark unterscheidet.

Bild, dpa  etc.

Einar hat aufm rechten Auge ein Milchmädchen

Und sie waren so dicht dran. Fast hätte es die Nachrichtenagentur dpa heute geschafft, klüger zu sein als die anderen und nicht auf eine Quatschmeldung der “Bild”-Zeitung hereinzufallen. Fast!

Die “Bild”-Zeitung schreibt in ihrer heutigen Ausgabe, die Zahl der Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund sei im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen, und hatte dies vorab auch den Nachrichtenagenturen mitgeteilt. APD, AFP, dpa und Reuters übernahmen die Behauptung der Boulevardzeitung, wie üblich, ungeprüft und verbreiteten sie noch in der Nacht weiter.

Heute Vormittag aber hatte ein Kollege bei dpa die gute Idee, bei der Quelle nachzufragen, auf die sich “Bild” beruft: das Bundeskriminalamt (BKA). Und siehe da: Das BKA bestritt, dass die Zahlen von ihm seien.

Was machte aber der brave dpa-Mann nun? Er schrieb in seine Meldung den Satz: “Das BKA in Wiesbaden erklärte dagegen, die Zahlen stammten nicht von ihm”. Aber er meldete den von “Bild” unter Berufung auf das BKA behaupteten Rückgang der Gewalttaten trotzdem.

Das ist der Artikel aus der heutigen “Bild”*:

Berlin – Die Zahl der rechten Gewalttaten ist 2009 bundesweit erstmals seit sechs Jahren gesunken. Laut Bundeskriminalamt (BKA) zählte die Polizei bis Ende November 624 Gewalttaten von Rechten. 2008 waren es im gleichen Zeitraum 682 Delikte – minus 8,5 %. Die Zahl der verletzten Personen ging von 713 auf 614 Personen zurück. Die Zahl rechter Straftaten insgesamt (z. B. Volksverhetzung) stieg um 0,35 %.

Die Zahlen stammen anscheinend aus den Kleinen Anfragen, in denen Petra Pau (Linke) monatlich von der Bundesregierung die Zahl rechtsextremer Straf- und Gewalttaten erfragt. Diese Angaben sind, wie Pau und die Bundesregierung jedesmal betonen, vorläufig. Sie können sich “aufgrund von Nachmeldungen noch (teilweise erheblich) verändern”, heißt es in den Antworten der Bundesregierung.

Die endgültigen Zahlen liegen immer höher als die vorläufigen, und zwar erheblich. Für 2008 ergaben sich aufgrund der vorläufigen Werte 735 rechtsextreme Gewalttaten — tatsächlich wies der Verfassungsschutzbericht schließlich 1042 aus.

Ob die Zahl rechter Gewalttaten 2009 wirklich erstmals seit Jahren gesunken ist, lässt sich aus den vorläufigen Angaben nicht errechnen. Richtig ist nur, dass die vorläufigen Werte der ersten elf Monate 2009 unter den vorläufigen Werten der ersten elf Monate 2008 liegen. Aber seit dem Sommer scheint sich selbst dieser vermeintliche Trend umgekehrt zu haben.

BKA-Chef Jörg Ziercke hatte vor drei Wochen in einem Vortrag gesagt, er rechne für 2009 mit einem “nahezu eben so hohen rechten Gewaltaufkommen” wie in den Vorjahren. “Bild”-Chefkorrespondent Einar Koch aber rechnet die Zahl rechtsextremer Gewalttaten systematisch klein.

Koch ist Wiederholungstäter: Bereits 2006 behauptete er in “Bild”, die Zahl rechtsextremer Gewalttaten sei deutlich zurückgegangen. In Wahrheit hatte sie drastisch zugenommen (BILDblog berichtete). Auch damals hatte Koch sich auf die vorläufigen Werte aus den Kleinen Anfragen verlassen und sie, was noch schlimmer war, mit den endgültigen Werten des Vorjahres verglichen. Entsprechend abwegig waren seine Ergebnisse. (“Bild” korrigierte sich damals übrigens erst mit Wochen Verspätung.)

Auch damals hatten Nachrichtenagenturen und andere Medien die falsche Rechnung ungeprüft übernommen. Sie haben daraus nichts gelernt.

*) Die Online-Version ist länger und nicht ganz so falsch.

Linke Wahlkampf-Berichterstattung

Die Axel Springer AG behält sich das Recht vor, im Wahlkampf einseitig und irreführend über die Parteien und ihre Programme zu berichten. Das kann man aus einer Stellungnahme folgern, die die Rechtsabteilung des Verlages gegenüber dem Presserat abgegeben hat.

Es geht um die Art, wie die “Bild am Sonntag” im vergangenen Bundestagswahlkampf die Steuerpläne der Parteien darstellte (wir berichteten). In einer Übersicht zum Ausschneiden und Aufheben stellte sie scheinbar die unterschiedlichen Positionen der Parteien dar. Bei der Linken fanden sich — als einziger Partei — ausschließlich Pläne für Steuererhöhungen. In seinem auf der nächsten Seite stehenden Leitartikel bestätigte der “stellvertretene (sic!) Chefredakteur” Michael Backhaus den Eindruck: “Die Linkspartei denkt nur ans Erhöhen.” Das war angesichts des Wahlprogramms, das Steuersenkungen für kleine und mittlere Einkommen vorsah, objektiv falsch …

… nach Ansicht der Abteilung Verlagsrecht der Axel Springer AG jedoch absolut zulässig. Sie erklärte gegenüber dem Presserat, bei dem wir uns über die Berichterstattung der “Bild am Sonntag” beschwert hatten, dass der Presserat selbst schon 1990 festgestellt habe, dass es nicht zu kritisieren sei, wenn eine Zeitung lediglich über einen bestimmten Ausschnitt aus einem Wahlprogramm berichte. Die Richtlinie 1.2 im Pressekodex, die sich mit der Wahlkampfberichterstattung beschäftigt, sei bloß eine “Kann-Bestimmung”.

In dieser Richtlinie heißt es:

Zur wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit gehört, dass die Presse in der Wahlkampfberichterstattung auch über Auffassungen berichtet, die sie selbst nicht teilt.

Ob eine Zeitung dieser Empfehlung folgen wolle, müsse ihr selbst überlassen bleiben, argumentiert Springer. Der Verlag beharrt zudem darauf, dass der von uns bemängelte Kasten die Forderungen der Linkspartei korrekt wieder gegeben habe — die Erhöhung des Steueraufkommens sei ein zentraler Bestandteil des Wahlprogramms.

Der Beschwerdeausschuss des Presserates widersprach:

Zwar kann eine Redaktion selbst entscheiden, welche Schwerpunkte sie setzt, wenn sie über Wahlprogramme berichtet und ist nicht gezwungen, jeweils alle Details zu nennen. Insbesondere in Kombination mit dem Kommentar-Satz “Die Linke denkt nur ans Erhöhen” wird jedoch der Eindruck erweckt (…), es gebe keinerlei Steuersenkungs-Pläne im Programm. Die Darstellung ist irreführend, da nicht mitgeteilt wird, dass DIE LINKEN für etliche Gruppen die Steuern senken wollen. Im Sinne einer umfassenden Information des Lesers wäre es notwendig gewesen, auch das zumindest zu erwähnen. Das hätte die Sorgfaltspflicht erfordert.

Der Presserat erteilte “Bild” deshalb einen “Hinweis”, die Schwächste der drei (allesamt folgenlosen) Beanstandungs-Formen des Gremiums.

Nicht bemängelt wurde vom Presserat, dass die “Bild am Sonntag” einer Gegendarstellung, in der Oskar Lafontaine später den falschen Behauptungen der Zeitung widersprach, den Satz hinzufügte, sie sei zu deren Abdruck “unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt” verpflichtet — und so den falschen Eindruck erweckte, Lafontaines Äußerungen seien unwahr.

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