Archiv für Oktober 13th, 2009

Castingshowskandale: Sex, Drugs & Interviews

Der Titel ist vielversprechend: “Sex, Drugs und Castingshows” haben Martin Kesici und Markus Grimm ihr Enthüllungsbuch genannt, in dem sie erzählen, was es bedeute, vom Fernsehen zum “Star” gemacht zu werden, und den Verantwortlichen Manipulationen und Verantwortungslosigkeit vorwerfen. Kesici hatte 2003 die Sat.1-Sendung “Star Search” gewonnen, Grimm wurde ein Jahr später bei “Popstars” auf Pro Sieben zum Mitglied der Gruppe Nu Pagadi gemacht.

Das Online-Jugendmagazin der “Süddeutschen Zeitung”, jetzt.de, hat ein Interview mit den beiden geführt, das aufgrund einer Kooperation auch auf “Spiegel Online” zu lesen ist. Die “Spiegel Online”-Version ist allerdings, wie es unter dem Text heißt, “(leicht gekürzt)”. Das stimmt tatsächlich: Es fehlen nur ein paar Sätze, und ein paar Wörter sind anders. Zum Vergleich:

jetzt.de “Spiegel Online”
Markus: Ich glaube nicht, dass den Zuschauern klar ist, wie sie manipuliert werden. Wie bei einem Kartenspielertrick lassen sie sich da hinlenken, wo die Produktionsfirma es will. Die Leute, die dem Sender gefallen, werden in’s rechte Licht gerückt, bekommen Homestorys. Statt die Musik sprechen zu lassen, zählt vor allem das Private. Bei uns hieß es eines Tages, wir dürften alle mit einem Psychologen sprechen. Als wir dann gegangen sind, hab’ ich das Türschild gesehen. Da stand “Heilpraktiker”. Markus: Ich glaube nicht, dass den Zuschauern klar ist, wie sie manipuliert werden. Wie bei einem Kartenspielertrick lassen sie sich da hinlenken, wo die Produktionsfirma es will. Die Leute, die dem Sender gefallen, werden ins rechte Licht gerückt, bekommen Homestorys. Statt die Musik sprechen zu lassen, zählt vor allem das Private.
jetzt.de: Glaubst du, er hat das, was ihr ihm im Vertrauen erzählt habt, weitergegeben?
Markus: Ich hab’ natürlich keine Beweise, aber wir sind danach auf Dinge angesprochen worden, die wir niemand anderem erzählt hatten.
Martin: Bei mir hat die Produktionsfirma offenbar gezielt Informationen an die BILD weitergegeben. Es war mir eh schon unangenehm genug, denen gegenüber zuzugeben, dass ich vorbestraft war. Kurz darauf hat mich dann ein Reporter angerufen und gesagt, wenn ich das Viertelfinale gewinne, würden sie alles bringen. Ich solle mich besser dazu äußern. Martin: Bei mir wurden offenbar gezielt Informationen an Medien weitergegeben. Es war mir eh schon unangenehm genug, denen gegenüber zuzugeben, dass ich vorbestraft war. Kurz darauf hat mich dann ein Reporter angerufen und gesagt, wenn ich das Viertelfinale gewinne, würden sie alles bringen. Ich solle mich besser dazu äußern.

“Spiegel Online” hat das Interview entschärft und die konkreten Vorwürfe gegen die Produktionsfirma (Grundy Light Entertainment) und die “Bild”-Zeitung entfernt. Grund dafür sind, wie Jochen Leffers, Ressortleiter des “UniSpiegel” auf Anfrage erklärt, juristische Bedenken der Rechtsabteilung des “Spiegels”. Kesici sagt zwar im Interview, ihm sei es inzwischen egal, wenn die Autoren “eine rechtliche Backpfeife” für ihre Darstellungen im Buch kriegen. Dem “Spiegel” war das allerdings nicht ganz so egal.

Und die deutsche Rechtsprechung kennt das Prinzip der Verbreiterhaftung: Das heißt, dass Grundy oder Springer im Zweifel nicht nur gegen Kesici und Grimm vorgehen könnten, sondern gegen jeden, der ihre Vorwürfe publiziert, ohne sich eindeutig davon zu distanzieren. Das gilt auch bei Interviews, wie ausgerechnet Helmut Markwort, der “Erste Journalist” der Verlagsgruppe Burda und “Focus”-Herausgeber, mit einer erfolgreichen Klage gegen die “Saarbrücker Zeitung” bewies.

Nach den Worten von Leffers lehrt die Erfahrung, dass das Risiko, dass Kläger gegen “Spiegel Online” vorgehen, “wegen der großen Reichweite deutlich größer” sei “als bei den meisten anderen Online-Medien”. Deshalb habe man sich in Absprache mit der eigenen Rechtsabteilung und der jetzt.de-Redaktion für die Änderungen entschieden — das hätte man auch getan, wenn es nicht konkret um die “Bild”-Zeitung gegangen wäre.

Und wir halten pflichtschuldig fest, dass wir nicht wissen, ob die Vorwürfe von Martin Kesici gegenüber der Produktionsfirma und der “Bild”-Zeitung stimmen, fügen aber hinzu, dass sich unsere Überraschung in Grenzen hielte, wenn es so wäre.

Übrigens erschien am 21. Juli 2003 folgender Artikel in der “Bild”-Zeitung:

Darf so einer Deutschlands neuer Superstar werden? Verurteilt wegen Drogen!

Von Dittmar Jurko

Berlin — Muss ein Superstar nicht auch ein Super-Vorbild sein?
Anlagen-Mechaniker Martin Kesici (30) rührte am Samstag alle in der SAT1-Talentshow “Star Search”, voller Hingabe sang er den Schmusesong “She’s like the wind”. Zuschauer und Jury gaben ihm Höchstnoten.

Wie BILD erfuhr, ging auch ein deutscher Richter bei ihm bis an die Obergrenze! 1998 wurde der Nachwuchssänger aus Berlin wegen Drogenbesitzes verurteilt! Ein Jahr Gefängnis, ausgesetzt auf zwei Jahre Haft auf Bewährung!

Martin Kesici zu BILD: “Ja, es stimmt. Ich bestellte damals oft per Telefon Haschisch bei einem Bekannten.” (…)

Mit Dank an Claus H.!

Von Dreckschweinen und Wiederholungstätern

Vor etwa zwei Monaten hatte das Bundeskriminalamt in einer bis dato einzigartigen Aktion in verschiedenen Medien nach einem Mann gefahndet, dem mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wurde. Als sich der mutmaßliche Täter aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit nach einem Tag stellte, bat das BKA, die zur Fahndung veröffentlichten Fotos nicht weiter zu verwenden und aus dem Internet zu entfernen. Dieser Bitte kamen die deutschen Medien mit unterschiedlichem Eifer nach (BILDblog berichtete).

Heute nun hat die Staatsanwaltschaft Trier Anklage gegen den Tatverdächtigen erhoben — eine Nachricht, die Bild.de natürlich gerne aufgreift.

Zum Beispiel so:

Die jeweils amtierenden “schlimmsten Kinderschänder Deutschlands” von “Bild” und “BamS”:

“Schlimmster Kinderschänder frei!”
(Gestand Missbrauch von 150 Mädchen)
(16.11.1997)

“Der Ehrendoktor der Universität […] ist Deutschlands schlimmster Kinderschänder.”
(Vergewaltigte mehrere Mädchen auf den Philippinen.)
(12.12.1999)

“Das Rekord-Schwein: Deutschlands schlimmster Kinderschänder.”
(Missbrauchte seine Stieftochter in 3586 Fällen.)
(7.5.2004)

“Deutschlands schlimmster Kinderschänder sitzt im Knast und jammert!”
(Hatte eine 13-Jährige 36 Tage lang eingesperrt und 100 Mal vergewaltigt und missbraucht.)
(7.8.2007)

“Grinst hier Deutschlands schlimmster Kinderschänder?”
(Soll in 20 Jahren 28 Jungen und Mädchen missbraucht haben.)
(3.3.2008)

“Mittwochabend zeigte ‘Aktenzeichen XY”‘ (ZDF) die Bilder des schlimmsten Kinderschänder Deutschlands.”
(Der aktuelle Fall.)
(7.8.2009)

Anklage erhoben: Schlimmster Kinderschänder vor Gericht

(Wie genau Bild.de auf den Superlativ “Deutschlands schlimmster Kinderschänder” kommt, ist nicht ganz klar — von der Staatsanwaltschaft Trier stammt er jedenfalls nicht.)

Im Artikel selbst werden munter alte und neue Bildergalerien verlinkt, in denen der Mann, den Bild.de konsequent als “Kinderschänder” bezeichnet — ganz so, als sei er schon verurteilt worden –, immer gut zu erkennen ist. Ganz zu oberst: Ein Clip, in dem die Videosequenzen zu sehen sind, deren weitere Veröffentlichung das BKA sich ebenfalls verbeten hatte.

Video auf Bild.de

Aber selbst für den (eher unwahrscheinlichen) Fall, dass das BKA die Bild.de-Redakteure mit vorgehaltenen Waffen zur Löschung der ehemaligen Fahndungsfotos zwingt, hätte die Seite noch was in petto: zum Beispiel ein Foto, das die “Sex-Bestie” bei einem Turnfest “mit seinen jungen Schützlingen” zeigt. Die Kinder auf dem Bild sind anonymisiert, der Angeklagte natürlich nicht. Darunter steht der Hinweis “Foto: Alexander Blum”, was zumindest einige Mutmaßungen darüber zulässt, wie “Bild” diesmal an das Foto gekommen sein könnte.

Aber all das ist wie gesagt nichts Neues für Bild.de. Auch die Bildunterschrift “Mit diesem Bild fahndete das BKA nach dem Dreckschwein” (“Dreckschwein” ist in diesem Fall keine vom BKA verwendete Formulierung) gab es in ähnlicher Form schon in der gedruckten “Bild”. Es ist nur erstaunlich, mit welcher Vehemenz die Redaktion Bitten des Bundeskriminalamts und Missbilligungen des Deutschen Presserats ignorieren zu können meint.

Nachtrag, 14. Oktober: Und so behandelt die gedruckte “Bild” heute das Thema (alle gelben Flächen von uns):

Deutschlands schlimmster Kinderschänder: Die Anklage

Bei der Quellenangabe der Fotos war “Bild” übrigens besonders zynisch dreist genau: “Fotos: BKA” steht dort.

Heidi Klums schwere Geburt

Jetzt wissen es alle: Heidi Klums viertes Kind hat die Welt erblickt — und das bereits am vergangenen Freitag, wie das Model auf seiner Homepage bekannt gibt. Drei Tage mussten sich die Medien in Ungewissheit wiegen, drei Tage gab es keinen Kommentar von der Familie, drei Tage schwankte die Promi-Presse zwischen Euphorie und Selbstzweifeln.

Schon am Freitag hatte das Celebrity Paparazzi-Magazin radaronline.com die Geburt gemeldet. In zwölf kurzen Zeilen verriet der Dienst Zeitpunkt der Geburt und den Namen des Babys. Quelle: unbekannt. Verlässlichkeit: gering.

Doch ein Internet-Gerücht ist ein Internet-Gerücht — also muss man die Leser schnell informieren. So sieht das zumindest die Redaktion von “Bild am Sonntag” und schickte prompt die ersten Geburtstagsglückwünsche:

BamS gratuliert zu Töchterchen Lou! Die Kleine soll Freitagnacht auf die Welt gekommen sein

Da nun ein deutsches Medium mit Millionenauflage berichtet hatte, durfte das Gerücht natürlich in die vermeintlich seriöseren Medien vordringen. So fand sich in der “Welt am Sonntag” diese Meldung:

Model Heidi Klum ist laut Medienberichten zum vierten Mal Mutter geworden. Das berichtete

“Unter Berufung auf amerikanische Internetseiten” kann man offenbar jedes Gerücht ins Blatt heben — vorausgesetzt, jemand anderes hat es vor einem getan.

Doch Heidi Klum ließ sich von dieser Eile nicht beeindrucken: Sie gab weder eine Bestätigung, noch ein Dementi heraus. Gleichzeitig widersprach zum Beispiel das Klatschblatt Usmagazine.com dem Bericht von radaronline, was die Redakteure von Bild.de in eine Sinnkrise stürzte. Wenn zwei unterschiedliche Meldungen im Internet kursieren, welcher soll man glauben?

Und so legte Bild.de am Sonntag nach:

Heidi Klum und Seal - Rätselraten um Heidis Baby

Darin hieß es:

Offiziell bestätigt hat das Topmodel das aber noch nicht. Mit Gerüchten auf Internetseiten “habe ich nichts zu tun”, steht auf Heidis Homepage. “Meine Anmerkungen finden ausschließlich hier statt und nirgendwo sonst.”

Dass die Autoren dieser Meldung nach anderthalb Tagen auf die Idee gekommen sind, auf Heidi Klums Homepage nachzusehen, ist zwar schon ein Fortschritt — mit dem Lesen haperte es aber etwas. Denn das zitierte Dementi hat mit der Geburt von Heidi Klums Tochter nichts zu tun. Wie man der Überschrift des Statements entnehmen kann, ging es nicht um die Geburt, sondern um Nachrichten auf Twitter, MySpace und Co. Dort hatte ein Virus Nachrichten mit angeblichen Videos von Heidi Klum verbreitet.

Ein Gerücht, ein gegenteiliges Gerücht und ein Dementi zu einer völlig anderen Geschichte. Wer denkt, daraus sei keine journalistische Meldung zu machen, arbeitet offenbar nicht für den ORF, die Münchner “Abendzeitung”, gala.de oder Focus.de, die sich (häufig über den Umweg der Nachrichtenagentur ddp) alle der Baby-Spekulationen von Bild.de und “Bild am Sonntag” anschlossen.

Den Vogel schoss freilich das “Hamburger Abendblatt” ab, indem es die Meldung noch etwas ausschmückte:

Doch bisher ist die Ankunft des Kindes offiziell nicht bestätigt. Auf ihrer eigenen Homepage dementiert Heidi Klum die Gerüchte um die Geburt und erklärt, sie habe keinen dieser Berichte bisher bestätigt. Alle aktuellen Informationen liefen ausschließlich über ihre offizielle Homepage.

Doch hatten die Redakteure des “Abendblatts” offenbar Hemmungen, bei Bild.de etwas abzupinnen, was alleine auf den Angaben eines US-Klatschmagazins beruhte. Also recherchierten sie nach googelten sie flüchtig und fanden tatsächlich eine Bestätigung für die Geburtsmeldung:

Der amerikanische Internetdienst RadarOnline.com berichtete exklusiv über die angebliche Geburt des vierten Klum-Sprösslings und auch Indien gratulierte via oneindia.in dem Model zur Geburt ihrer zweiten Tochter.

Woher ganz Indien das wohl wusste? Das “Abendblatt” hat den Bericht sogar verlinkt:

Supermodel Heidi Klum has become a proud mum for the fourth time, giving birth to her first daughter with husband Seal, according to reports. The supermodel welcomed baby Lou Samuel on Friday morning, according to RadarOnline.com.

(Supermodel Heidi Klum ist zum vierten Mal stolze Mutter geworden und hat nach Berichten ihre erste Tochter mit Ehemann Seal bekommen. Das Supermodel begrüßte Baby Lou Samuel am Freitagmorgen, berichtete RadarOnline.com)

Als Beleg für das Gerücht verwendet das “Abendblatt” die Wiedergabe des gleichen Gerüchts. Wie soll man das nennen? Möbius’sche Quellenvermehrung?

Gerdemann, Brigitte, Irre

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Präsentation: gewaltig. Beweislage: lausig”
(faz.net, Michael Eder)
Die ARD-Sportschau stellt Radprofi Linus Gerdemann aufgrund von Schwankungen bei den Hämoglobinwerten unter Dopingverdacht. Anti-Doping-Experte Klaus Pöttgen hält das für “absolut unseriös”: “Zwei solche Werte einfach in die Öffentlichkeit knallen, das geht nicht, das ist eine Katastrophe für den betreffenden Sportler.”

2. “Times Metro Desk Cancels All Newspaper, Magazine Subscriptions”
(observer.com, John Koblin, englisch)
Die Stadtredaktion der “New York Times” muss sich die Konkurrenzblätter auf Papier zukünftig selbst kaufen. Das eingesparte Geld soll für die Bezahlung von freien Journalisten verwendet werden.

3. “Tipps für Journalisten”
(stigma-videospiele.de)
Ein Dossier über “Killerspiele” für Journalisten, das “Autoren ein bisschen Recherchearbeit abnehmen und einige allgemeine Schwachstellen bei Artikeln” aufzeigen soll. “Ich hoffe, dass diese Ratschläge für den einen oder anderen eine Hilfe darstellen und vielleicht zu einer sachlicheren Berichterstattung über gewaltdarstellende Videospiele führen.”

4. “Perfide Aktion”
(epd.de, Katrin Schuster)
Katrin Schuster nennt die Aktion “Ohne Models” der Zeitschrift “Brigitte” eine perfide PR-Aktion, die “schon wieder die (und nur die)” treffe, “die in dieser Branche ohnehin keine Stimme haben, weil sie tatsächlich die seelenlosen, rechtlosen und charakterlosen Geschöpfe sind, die die Designer und Produzenten sich heranziehen”. Frauenzeitschriften wie die “Brigitte” seien jahrelang darum bemüht gewesen, “Frauen auf Stromlinienform zu trimmen – und dann werfen sie ihnen genau das vor.”

5. “Jamaika steht für Einfalt bei den Symbolfotos im Online-Journalismus”
(pottblog.de, Jens)
Abendzeitung.de, faz.net, stern.de und focus.de berichten mit den gleichen Symbolfotos über die Jamaika-Koalition im Saarland.

6. “IRREIRRE!”
(irreirre.tumblr.com)
Die Website irreirre.tumblr.com sammelt “irre” Schlagzeilen von Bild.de.