Archiv für Oktober 15th, 2009

Bild  

Einmal “Kinderschänder” und zurück

Sitzen Sie?

Halten Sie sich fest: “Bild” hat sich nach einer Presserats-Beschwerde von uns bei seinem Opfer entschuldigt und öffentlich zugegeben, einen Fehler gemacht zu haben. Und wir hatten gedacht, dass “Bild” uns nach fünfeinhalb Jahren BILDblog nicht mehr schocken könnte.

Es geht um den Fall eines Mannes, den “Bild”-Leipzig im Dezember 2008 kurzerhand zum “Kinderschänder” erklärte. “Wie die Thea (14) aus Leipzig einen Sexstrolch fing” stand über dem Artikel. “Die Thea” war groß abgebildet, der “Sexstrolch” nur notdürftig unkenntlich gemacht. “Bild”-Redakteurin Angela Wittig stellte die Vorwürfe des Mädchens als erwiesen und den Verdächtigten als überführt dar.

Als sich im Prozess herausstellte, dass es Grund gibt, an den Aussagen des vermeintlichen Opfers und weiterer Belastungzeugen zu zweifeln, stand nichts davon in “Bild”. Das Amtsgericht Leipzig schätzte “die Thea” in seinem Urteil schließlich als “völlig unglaubwürdig” ein und sprach den Angeklagten von “allen Vorwürfen” des sexuellen Missbrauchs frei. “Bild” berichtete — nicht.

Am 3. Februar 2009 stellten wir den Fall ausführlich in BILDblog dar.

Im Mai 2009 beschwerten wir uns beim Presserat und baten ihn, “Bild” wegen Verstoßes gegen die Ziffer 13 zu rügen. Richtlinie 13.1 verbietet eine “Vorverurteilung” von Angeklagten; Richtlinie 13.2 stellt fest: “Hat die Presse über eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung eines Betroffenen berichtet, soll sie auch über einen rechtskräftig abschließenden Freispruch (…) berichten (…).”

Der Presserat nahm die Sache an und leitete sie, wie üblich, mit der Bitte um eine Stellungnahme an “Bild” weiter. Daraufhin passierte das Unvorstellbare: Die Rechtsabteilung von Springer machte die Redaktion auf das “Problem” des von uns monierten Beitrags aufmerksam. Die habe sich daraufhin umgehend mit dem Betroffenen in Verbindung gesetzt und sich schriftlich für für die Berichterstattung und alle ihm daraus entstandenen Unannehmlichkeiten entschuldigt.

Diese Entschuldigung machte “Bild” auch öffentlich — in Rahmen eines großen Artikels, der am 15. August 2009 in “Bild”-Leipzig erschien und mit Einwilligung und Unterstützung des zu Unrecht Beschuldigten entstanden sein soll:

Der Albtraum meines Lebens

Eine Mädchen-Clique zeigte Frank M[…] (47) als Kinderschänder an. Zwei Jahre lang kämpfte er um seine Ehre. Dann sprach ihn das Gericht endlich frei

Von TH. LIEBENBERG

Leipzig – Am Donnerstag wurde in Eilenburg die vergewaltigte und getötete Corinna (9) zu Grabe getragen. Kommenden Montag beginnt am Leipziger Landgericht der Prozess gegen den Mörder der kleinen Michelle (8); und erst vor einer Woche machte ein Kinderschänder bundesweit Schlagzeilen, der kleine Jungs in seine Wohnung lockte, missbrauchte und widerliche Kinderpornos ins Internet stellte.

Nachrichten, die wütend machen. Frank M[…] (47) kennt diese Wut besser als viele andere. Er hat sie selbst zu spüren bekommen, über zwei Jahre lang. Der 1-Euro-Jobber aus Gohlis wurde von einer Mädchen-Clique denunziert, von der Polizei abgeholt, schließlich vor Gericht gestellt.

“Verdacht des sexuellen Missbrauchs von Kindern”, stand in der Anklage, “Mädchen überführte Fummler”, schrieb BILD. Zu Unrecht.

AM ENDE WURDE ER FREIGESPROCHEN. UNSCHULDIG IN ALLEN ANKLAGEPUNKTEN.

“Bild” schilderte, wie sich das Leben des Mannes durch die falschen Anschuldigungen der Mädchen verändert hatte, und ließ ihn ausführlich zu Wort kommen. Der Artikel endete so:

Im Dezember 2008 begann endlich der Prozess. im Januar 2009 fiel das Urteil. “Am Morgen meines Geburtstags erfuhr ich, dass ich freigesprochen wurde”, sagt Frank M[…].

Er hat seinen Sieg ganz allein gefeiert. Mit einer Flasche Pfefferminzlikör.

Warum die “Bild”-Zeitung nach diesem Freispruch noch über acht Monate brauchte, um ihre falsche und vorverurteilende Darstellung zu korrigieren, erklärte sie ihren Lesern nicht. Und angesichts der großen Zahl von BILDblog-Lesern in der “Bild”-Redaktion und bei Springer ist die Frage unbeantwortet, warum “Bild” — wenn es sich bei der öffentlichen Vernichtung des Mannes nur um ein Versehen handelte — sich nicht spätestens nach unserem Eintrag im Februar daran machte, seinen Ruf wieder herzustellen.

Aber immerhin hat sie es nach der Intervention des Presserates getan, und insofern ist auch dessen Entscheidung nachvollziehbar, unsere Beschwerde zwar für “begründet” zu halten, aber aufgrund der Reaktion von einer Maßnahme gegen “Bild” abzusehen.

Artenschutz, Huffington Post, Froh!

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Nirgends dumme Nutzer, kein Artenschutz”
(carta.info, Gisela Schmalz)
Gisela Schmalz glaubt, dass sich die Printverlage grundlegend verändern müssen, um im Internet Erfolg zu haben. “Sie stellen freud- und phantasielose Dubletten von Printprodukten ins Netz, rufen nach Webwerbekunden und folgen ansonsten ihrem Trott, darauf hoffend, in der digitalen Welt gehe alles so weiter wie in der analogen. Doch jedes surfende Kind weiß, dass das Netz ganz anders aussieht und weder starr ist, noch Starre zulässt. Die Technologien verändern sich permanent und mit ihnen die Aktivitäten der Nutzer.”

2. “Die Not der freien Journalisten”
(ndr.de, Video, 8:08 Minuten)
“Zapp” schildert die zunehmenden Mühen von drei freien Journalisten, mit ihrem Beruf ein Einkommen zu erwirtschaften, von dem sie leben können.

3. Interview mit Michael Schmidt
(utopia.de, Sabine Letz)
Michael Schmidt ist Mitherausgeber des Magazins “Froh!”, ein “Gesellschaftsmagazin”: “Wir wünschen uns, das ganze Leben ehrlich und in seiner Fülle abzubilden. Und dass Menschen, die ‘Froh!’ lesen, denken: So bin ich auch. Das kann ich auch! Und nicht: Das habe ich nicht. So werde ich nie sein.”

4. Drei G+J-Titel im Kurztest
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Kurz getestet: die neuen Magazine “Beef”, “Gala Men” und “Business Punk” aus dem Verlag Gruner+Jahr.

5. “How The Huffington Post uses real-time testing to write better headlines”
(niemanlab.org, Zachary M. Seward, englisch)
Die “Huffington Post” testet wahlweise Artikelüberschriften. Verwendet wird nach fünf Minuten die besser geklickte Version: “Readers are randomly shown one of two headlines for the same story. After five minutes, which is enough time for such a high-traffic site, the version with the most clicks becomes the wood that everyone sees.”

6. “85 wordpress plugins for blogging journalists”
(onlinejournalismblog.com, Paul Bradshaw, englisch)
Paul Bradshaw stellt erweiterte Funktionen der Blog-Software WordPress vor, die für bloggende Journalisten von Nutzen sein könnten.