Archiv für Dezember 15th, 2008

Lebenslängliche Statistikschwäche

Dass die “Bild”-Zeitung nicht damit einverstanden ist, dass Ex-RAF-Terroristen wie Christian Klar oder Brigitte Mohnhaupt genau die gleiche Behandlung erfahren, wie andere lebenslänglich Verurteilte, ist hinlänglich bekannt.

Doch lebenslängliche Freiheitsstrafen sind “Bild” ohnehin viel zu kurz – und sie werden, wenn man “Bild” Glauben schenkt, sogar immer kürzer:

"Lebenslängliche dürfen immer früher raus"

Lebenslange Haft – in der Praxis der deutschen Gerichte heißt das inzwischen nur noch: durchschnittlich 17 Jahre Gefängnis!

Wie “Bild” es versteht:

“Es ist ein Gesetz, das man als Bürger nicht immer verstehen kann – ein Gesetz, das offenbar immer weiter aufgeweicht wird!
LEBENSLANGE HAFT? VON WEGEN!

Gestern berichtete BILD über die brisante Studie der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden: Schwerverbrecher, die zu lebenslanger Haft verurteilt worden sind, sitzen im Schnitt nur noch 17 Jahre! Bis 1975 saßen zu ‘lebenslänglich’ Verurteilte noch über 20 Jahre!”

Das schrieb “Bild” vor einer Woche auf der Titelseite und berief sich dabei auf Zahlen der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden (KrimZ). Bis 1975 hätten lebenslänglich Verurteilte im Schnitt noch “über 20 Jahre” eingesessen, ehe sie begnadigt wurden. Zwischen 1982 und 1989 sei die durchschnittliche Haftdauer jedoch “bereits auf 18 Jahre, 7 Monate” gesunken. Und 2006 eben auf 17 Jahre.

Das sieht wie ein deutlicher Trend aus.

Die “Bild”-Zeitung fand diese Zahlen so brisant, dass sie sie am Tag darauf noch einmal wiederholte (siehe Kasten), und vier Fälle dokumentierte, die “beispielhaft” für den von ihr ausgemachten Trend seien.

Vorgestern widmete Zeit.de der “Bild”-Schlagzeile einen eigenen Artikel. Der Kriminologe Arthur Kreuzer kommt darin zu dem Ergebnis, man müsse annehmen, “dass sich die wirkliche durchschnittliche Haftzeit der Lebenslänglichen inzwischen etwas erhöht hat”. Und er schreibt:

Ganz andere Schlüsse zieht “Bild” aus Daten der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. Nur: Diese Daten belegen überhaupt nicht die Schlagzeile.

Axel Dessecker von der KrimZ sagt uns dazu auf Anfrage:

“Das sehe ich genauso.”

Er muss es wissen. Schließlich ist er der Autor der Studie (pdf), auf die “Bild” sich beruft.

Zahlenspiele:

Sowohl bei den Zahlen für 1982 bis 1989, wie auch bei den Zahlen bis 1975 seien andere Erhebungsmethoden angewandt worden als die der KrimZ, so Dessecker zu BILDblog. Die gleiche Messmethode sei jedoch Voraussetzung für die Vergleichbarkeit. Im Zeitraum bis 1975 existierte zudem der § 57a StGB (Strafaussetzung auf Bewährung) noch nicht. Der Ermittelte Wert von 20 Jahren bezieht sich auf Entlassungen wegen Begnadigungen.

Dabei geht es ihm nicht mal so sehr darum, dass “Bild” Zahlen miteinander vergleicht, die nicht miteinander vergleichbar sind (siehe Kasten). Das Hauptproblem der “Bild”-Schlagzeile liegt für Dessecker woanders:

“Das Problem ist, dass mit der Überschrift der Eindruck erweckt wird, dass die Verbüßungsdauer von lebenslänglich Verurteilten kontinuierlich gesunken sei.”

Das sei jedoch nicht der Fall.

Seit dem Jahr 2002 erhebt die KrimZ Zahlen zur Haftdauer von lebenslänglich Verurteilten, allerdings nur bei denen, deren lebenslange Freiheitsstrafe im jeweiligen Jahr beendet wird. So saßen 2006 knapp 2.000 Menschen “lebenslänglich” im Gefängnis, und nur bei 61 endete die lebenslange Freiheitsstrafe – bei 40 davon, weil die Reststrafe nach Paragraph 57a des Strafgesetzbuchs zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nur um die Haftdauer dieser 40 geht es bei den KrimZ-Zahlen für 2006, die “Bild” zitiert.

Und vergleicht man nun diese Zahlen für 2006 mit den einzig vergleichbaren, also denen, die KrimZ seit 2002 ermittelt hat, ergibt sich folgendes Bild:

Die mittlere Haftdauer hat – gemessen mit dem Medianwert – im Zeitraum zwischen 2002 und 2005 von 17 auf 19 Jahre zugenommen; 2006 fiel sie wieder auf den Wert von 2002 zurück.
(Link von uns)

So steht es wörtlich in der KrimZ-Studie, die “Bild” so “brisant” findet. Um daraus einen Abwärtstrend ableiten zu können, muss man es schon sehr wollen.

Mit Dank an Daniela L. für den sachdienlichen Hinweis.

Voll neben der Taxispur

"Gefährlicher Irrtum: Taxispur mit Startbahn verwechselt -- Ein Pilot in Hongkong versuchte, seine Maschine von der Taxispur neben der Startbahn zu starten. Ein gefährlicher Irrtum, aber kein Einzelfall."

So steht es derzeit unter Berufung auf die “Sunday Morning Post” auf der Startseite von Bild.de. Und im dazugehörigen Artikel heißt es über die Piloten:

"Strasse mit Startbahn verwechselt: Piloten wegen Startversuch auf Taxispur entlassen -- Vielleicht wollten sie einfach nur mal Taxi spielen..."

Und das mit dem “Irrtum” und “kein Einzelfall” stimmt, liebe Bild.de-Redaktion…

… nur, dass es sich bei einem Taxiway, von dem in der “Sunday Morning Post” die Rede ist, nicht um eine “parallel zur Startbahn verlaufende Taxispur” oder gar einen “Taxistreifen” handelt, sondern um nichts weiter als das englische Wort für Rollbahn.

Aber vielleicht wollte die Bild.de-Redaktion ja einfach nur mal Journalismus spielen…

Mit Dank an Steffen U., Christoph H., Maik L., Robert T., Daniel R., Jan E., Andreas B., Jan und Olaf T.!

Man muss dazusagen: Den eigentlichen Übersetzungsfehler hatte gestern morgen die Nachrichtenagentur AFP gemacht, die unter der Überschrift “Piloten in Hongkong wegen Startversuch auf Taxispur gefeuert” über den Vorfall berichteten. Und zahllose Medien haben die irreführende Meldung genauso irreführend übernommen (siehe Beispiel-Ausriss) – wobei offenbar niemand so übers Ziel hinausgeschossen ist wie Bild.de. Und nur die wenigsten haben den Fehler – wie sueddeutsche.de etwa – wenigstens nachträglich korrigiert und sich bei den Lesern entschuldigt.

Wintour, Wintersport, Glitzerwelt

1. “Mediensolidarität – oder rette sich wer kann”
(hosenindosen.wordpress.com)
Ein anonymer Blogger, der offenbar beim Ringier-Verlag mitarbeitet, fragt sich, warum er zur Solidarität mit einem Sender des Konzerns verpflichtet wird, den niemand hören mag, nicht mal die Chefredakteure: “Man wird bei Ringier gezwungen (Mitarbeiter) eine Petition zu unterschreiben (Energy), obwohl der Verlust der Konzession total selbstverschuldet ist.” Selbstverschuldet heisst: “Das Konzessionsgesuch von Energy-Chef Dani Büchi ist so dermassen schlecht, das alles andere als eine Absage blanker Hohn gewesen wäre.”

2. “Über vernichtete Billionen und Journalisten”
(blick.ch/news/fam, Frank A. Meyer und Marc Walder)
Frank A. Meyer glaubt an eine Mitschuld der Journalisten an der Finanzkrise, vor allem der “Schreibtisch-, respektive Laptop-Täter”: “Es wurden sogar eigens Zeitschriften für diese Glitzerwelt gegründet, denken Sie an ‘Park Avenue’ oder die deutsche ‘Vanity Fair’. Auch hierzulande huldigte man – zum Beispiel in der ‘Bilanz’ – dem neureichen Geldadel. Den Politikern dagegen wurde die Narrenkappe aufgesetzt. Narr war, wer den entfesselten Kapitalismus regulieren wollte.”

3. “Lebt Online von Print? Eine Zeitungs-Lektüre”
(carta.info, Wolfgang Michal)
“Inzwischen geben selbst hartnäckige Printjournalisten zu, dass Journalismus im Internet existiert.”

Read On…