Archiv für Februar 13th, 2007

RAF — Freilassung fordert erstes Opfer

Sie sind oft klein und unscheinbar, bloßer Kitt zwischen Satzteilen. Aber es wäre ein Fehler, Konjunktionen gering zu schätzen. Franz Josef Wagner weiß das. Als er noch Chefredakteur der Berliner Boulevardzeitung “B.Z.” war, verdankte er der Konjunktion “aber” diese legendäre Überschrift:

Pandabärin unfruchtbar — aber Schumi zweites Baby

Lustig.

Wir wissen nicht, ob sie in der “Bild”-Redaktion gestern auch gelacht haben, als ihnen ein ähnlicher Trick mit einer anderen Konjunktion für die heutige Schlagzeile einfiel:

Terroristin kommt FREI! ...und Witwe Schleyer nach Kollaps in Klinik

Weniger lustig, aber viel wirkungsvoller.

Denn wer liest schon bis ganz ans Ende der zugehörigen, fast ganzseitigen “Bild”-Berichterstattung, um dort zu erfahren, dass es gar keinen Zusammenhang zwischen der Gerichtsentscheidung und dem “Kollaps” der Witwe von Hanns-Martin Schleyer gibt. Dass es ihn nicht einmal geben kann, weil Frau Schleyer laut “Bild” bereits “am Freitag, drei Tage vor der Entscheidung des Stuttgarter Oberlandesgerichts” ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

Danke auch an Josh M.!

“Bild”-Kolumnist begnadigt RAF-Terroristin

Das Stuttgarter Oberlandesgerichts (OLG) hat gestern entschieden, dass die ehemalige RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt im März nach 24 Jahren Haft entlassen werden soll. Und “Bild” erklärt in einem Seite-2-Text, warum die Freilassung nach “Recht und Gesetz” erfolge:

Denn: Nach dem Strafgesetzbuch (§ 57 a) bedeutet “lebenslange Freiheitsstrafe” nicht unbedingt Haft bis zum Tode. Nach frühestens 15 Jahren kann die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn nicht die “besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung gebietet”. In diesem Fall setzt das Gericht eine Mindesthaftdauer fest — bei Mohnhaupt waren es 24, bei Klar 26 Jahre!

"Post von Wagner: Begnadigte Brigitte Mohnhaupt"“Bild”-Kolumnist Franz-Josef Wagner allerdings hat das entweder nicht gelesen, oder er hat es nicht verstanden. Und offenbar hat er auch sonst nicht viel gelesen.* Denn Wagner schreibt heute an die “Begnadigte Brigitte Mohnhaupt”. Im Text heißt es:

Die deutsche Justiz hat Sie, vielfache Mörderin, Brigitte Mohnhaupt, begnadigt.

Das ist falsch. “Die deutsche Justiz” kann niemanden begnadigen. Eine solche Entscheidung trifft (im Falle von sogenannten “Staatsschutzdelikten”) der Bundespräsident nach freiem Ermessen. Die Entscheidung über die von “Bild” beschriebene Haftentlassung nach Paragraph 57 a StGB hingegen ist an bestimmte, im Gesetz beschriebene, Voraussetzungen gebunden. Darauf wies das OLG Stuttgart gestern in einer Pressemitteilung (die Wagner offenbar auch nicht kennt) sogar ausdrücklich hin:

Es handelt sich nicht um eine Entscheidung im Gnadenweg, sondern um eine an bestimmte gesetzliche Voraussetzungen gebundene richterliche Entscheidung.

Offenbar hat niemand bei “Bild” Wagner auf seinen Fehler aufmerksam gemacht. Aber er passt ja auch ganz gut zur Haltung von “Bild”. So erkennt Hans-Jörg Vehlewald die Mohnhaupt-Entscheidung in seinem Kommentar (“Recht ohne Gerechtigkeit”) zwar als “rechtens” an, findet sie aber ungerecht, weil Mohnhaupt “kein Zeichen von Reue” habe erkennen lassen. Reue allerdings ist keine Voraussetzung für die Freilassung nach Paragraph 57 a StGB. Bei einer Begnadigung hingegen, kann man das so oder so sehen.

Mit Dank an die zahlreichen Hinweisgeber.

*) Es besteht übrigens auch die entfernte Möglichkeit, dass Wagner an die “begnadigte” Mohnhaupt schreibt, weil er sich extrem gut mit dem Thema auskennt. Tatsächlich wird nämlich die Haftentlassung nach Paragraph 57 a StGB in Juristenkreisen offenbar zuweilen als “kleine Gnade” bezeichnet. Aber das sei hier nur der Fairness halber erwähnt.

Allgemein  

Eine Geschichte, die man nicht glauben sollte

Da berichtete also offenbar in der vergangenen Woche die “Komsomolskaja Prawda”, eine Art russische “Bild”-Zeitung, irgendwelche russischen Fischer hätten irgendein eigenartiges Wesen gefangen, das Ding für einen Außerirdischen gehalten, getötet, mit einem Fotohandy gefilmt und — aufgegessen. Lecker sei es gewesen.

“Bild” selbst hielt das gestern für “eine Geschichte, die man kaum glauben kann” — und übernahm sie ungeprüft (siehe Ausriss), denn:

Vielleicht kam dieses Wesen ja wirklich aus einer anderen Welt…

Nun ja. Bereits gestern wiesen uns mehrere BILDblog-Leser, ihrerseits ufologische, meeresbiologische und journalistische Laien, darauf hin, dass es sich bei dem “Alien (…) mit seitlichen ‘Teufelsgesicht'” bloß um einen auf dem Rücken liegenden Rochen oder ähnliches handeln könnte. Ein naheliegender Gedanke, auf den “Bild” jedoch nicht gekommen zu sein scheint.

Und heute nun weist uns ein weiterer BILDblog-Leser darauf hin, dass offenbar die komplette Fischer-Fotohandy-lecker-Geschichte eine Falschmeldung ist. Zumindest ist dasselbe Video, das den angeblich jüngst gefangenen “Alien” zeigt, (ohne die russische Mär drumrum) bereits seit über einem Jahr bei YouTube zu finden.*

Mit Dank an G.M.B., Guido S. und N8crawler!

*) Gewiss, die Recherche war vielleicht zu schwer für “Bild” nicht leicht: Bei einer YouTube-Suche nach alien und fish ist das am 30.11.2005 eingestellte Video z.Zt. der allererste Treffer — übrigens in der Kategorie “Comedy”.

6 vor 9

Die zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2006
(satt.org, Frank Fischer)
Janina Turek, Willi Winkler, Rechtschreibreform, Tate Modern, Bachmann-Preis, “Spiralblock-Affäre”, Emphatiker & Gnostiker, GraSS, Analverkehr, Ein Jahr Große Koalition.

“Das Internet nimmt einen großen Raum ein”
(sueddeutsche.de, Hans-Jürgen Jakobs)
Wachwechsel in einem der größten deutschen Verlage: Stefan von Holtzbrinck übernimmt vom scheidenden Manager Michael Grabner das Zeitungsgeschäft – und redet erstmals über “Gruscheln”.

“Wir bieten Craigslist auch in deutscher Sprache an”
(faz.net, Holger Schmidt)
Craig Newmark, Gründer der populären Kleinanzeigenseite Craigslist, erklärt sein “Geschäftsmodell”, seinen Verzicht auf viele Werbemillionen, seine Pläne im Ausland und was Zeitungsverleger im Internetzeitalter tun sollten.

Natural Born Marktführer
(stefan-niggemeier.de)
Ich versuch das mal zurückhaltend zu formulieren: In den vergangenen Wochen hat die ?Readers Edition? viel negative Aufmerksamkeit bekommen. Und die freundlichste Umschreibung für das, was da gerade passiert, ist wohl: Die ?Readers Edition? befindet sich in einem schwierigen und schlecht organisierten Umbruch.

Nachrichtenagentur AP setzt auf Blogger
(spiegel.de, pat)
“Citizen Journalism”, bei dem jedermann Berichterstatter sein kann und darf, liegt im Trend: Immer mehr Medienunternehmen setzen auf die Laien-Journalisten, um ihr Korrespondentennetz zu erweitern. So auch die Nachrichtenagentur AP, die Blogger als lokale Berichter sieht.

Geist im Äther
(taz.de, Monika Boll)
Mit seinen Vorträgen, Reden und Essays war das Kulturradio der Fünfziger- und Sechzigerjahre eine intellektuelle Instanz der Bundesrepublik. Warum fehlt die kritische Stimme der Öffentlichkeit heute?