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Journalistische Handtaschenspielertricks

Am Montag hat die grüne Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner ihre Handtasche am Frankfurter Flughafen vergessen. Sie bemerkte das erst, als sie im Flugzeug saß und die Türen schon verschlossen waren. Sie hatte aber Glück: Der Start des Flugzeuges verzögerte sich wegen Nebel. Der Kapitän entschied, dass noch genügend Zeit sei, um die Tasche an Bord bringen zu lassen. So geschah es.

Klingt spontan nicht nach einer Geschichte, die die Republik in Wallung bringt? Weit gefehlt.

Der Hauptstadt-Korrespondent des “Berliner Kurier” erzählt die Geschichte nämlich anders: als einen Aufreger über die unglaublichen Privilegien, die deutschen Politikern zuteil werden — auf Kosten der normalen Bevölkerung:

Lufthansa-Flieger stoppt für Politikerin

(…) Grünen-Politikerin stoppt Lufthansa-Flugzeug! Klingt unglaublich, ist aber wahr.

In größter Ausführlichkeit schildert er, wie die Menschen in der Maschine saßen, wie alles bereit zu sein schien zum Start, wie die Gangway zurückgefahren und das Schleppfahrzeug eingehakt gewesen sei. Doch plötzlich:

Doch plötzlich wirbelt in der Businessklasse Tabea Rößner (47) mit den Händen durch die Luft und ruft um Hilfe. (…) Ihre Handtasche ist weg.

In noch größerer Ausführlichkeit schildert der “Berliner Kurier” nun, wie die Politikerin mit dem Bordpersonal verhandelt habe, wie ein Flughafen-Mitarbeiter ins Terminal geeilt sei, wie der “Taschen-Retter mit einem Steigerfahrzeug an die Tür” gebracht worden sei, “an der normalerweise das Bord-Essen angeliefert wird”.

Er lässt keinen Zweifel, dass die zwanzig Minuten Verspätung dadurch entstehen, dass Rößners Tasche besorgt werden musste:

Taschen-Gate am Gate!

Dabei weiß es der “Kurier” besser. Gegen Ende des Artikels zitiert er unauffällig in einem Nebensatz, dass laut Rößner “die Verspätung auch schon wegen einer fehlenden Starterlaubnis erfolgt sei”. Und fügt hinzu, dass die Lufthansa das bestätigt: Die Verspätung sei “aufgrund des zugewiesenen Zeitfensters” erfolgt.

Diese Tatsachen haben die “Kurier”-Leute aber ausgeblendet, um die Geschichte von einer Politikerin, wegen deren Schusseligkeit ein Flug gestoppt wird, erzählen zu können.

Bis hierher ist es eine Geschichte über den “Berliner Kurier” und seiner Schwesterblätter “Express” und “Morgenpost”, die sie übernehmen.

Aber dabei bleibt es natürlich nicht.

Bild.de steigt ein:

Ohne Rückfrage bei Rößner übernimmt Bild.de die Darstellung des “Berliner Kurier”, ergänzt sie um ein paar weitere falsche Details und spricht von einer “peinlichen Anekdote”.

Nun kopiert die “Rhein-Zeitung” die Geschichte* und bringt sie online unter der Überschrift:

Flieger wartete: Mainzer Abgeordnete bekommt vergessene Handtasche gebracht

Erst später — laut Rößner nach einem Anruf von ihr — wird sie geändert zu:

Flieger wartete ohnehin: Mainzer Abgeordnete bekommt vergessene Handtasche in Flieger gebracht

Die “Mainzer Allgemeine” und der Landesdienst der Nachrichtenagentur dpa machen etwas Ungeheures: Sie rufen in Rößners Büro an und fragen nach. Die “Mainzer Allgemeine” veröffentlicht daraufhin einen ausführlichen Artikel; dpa beschließt vorläufig, dass die Geschichte kein Thema ist.

Andere Medien verzichten auf Recherche und steigen unter Verweis auf den “Berliner Kurier” in den Ring. Darunter sind die Online-Auftritte von “Focus”

“Bunte”

… und “Rheinischer Post”:

Schließlich schaltet Rößner einen Anwalt ein, der unter anderem erreicht, dass Bild.de den Artikel löscht.

Von den anderen Medien will Rößner nun eine Unterlassungserklärung fordern.

*) Nachtrag/Korrektur, 17:00 Uhr. Die “Rhein-Zeitung” widerspricht unserer Formulierung, sie habe die Geschichte “kopiert”. Der Autor sagt, er habe vor der Veröffentlichung bei der Lufthansa nachgefragt und von Anfang an im Artikel erwähnt, dass die Maschine wegen des Nebels wartete.

Nachtrag, 17. Januar. “Focus Online” hat die Meldung nun einfach gelöscht; “RP-Online” hat sie überarbeitet.

Nachtrag, 15:30 Uhr. Nun hat auch der “Berliner Kurier” seine Geschichte gelöscht.

Nachtrag, 21. Januar. Inzwischen hat auch Bunte.de die Falschmeldung ohne Erklärung entfernt.

Mensch ärgere dich

Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, hat neulich auf seiner Facebook-Seite zum Neujahrsempfang der Stadt eingeladen. Normalerweise muss man sich bei der Stadt dafür anmelden. Aber Palmer akzeptierte als Anmeldung auch ein schlichtes “ich komme” auf seiner Facebookseite.

Das klingt spontan nicht nach dem Material, aus dem großen Aufreger sind, nicht einmal in der schwäbischen Provinz. Mit ein bisschen Mühe kann man aber einen draus machen, oder besser: ohne jede Mühe.

So sah das Ergebnis in der “Bild” vom vergangenen Montag aus:

PALMER: Ärger wegen seiner Facebook-Einladung

Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer (41) hat mal wieder Ärger wegen seiner Internetaktivitäten. Im November stellte er Falschparker an den Facebook-Pranger, jetzt lädt er auf seiner privaten Seite zu städtischen Veranstaltungen ein. (…)

Verboten, sagt ein Medienrechtler. Auf seiner privaten Facebook-Seite dürfe er das nicht. Deshalb hat jetzt sogar die Kommunalaufsicht eine Stellungnahme von der Stadtverwaltung verlangt.

Den Namen des Medienrechtlers nennt “Bild” nicht. Genauso wenig wie die Quelle, aus der sie nicht nur dessen Urteil, sondern auch alle weiteren Informationen in ihrem Text abgeschrieben hat, bis hin zur Schlusspointe, dass Palmer die Karten angeblich nur über eine offizielle, städtische Facebook-Seite anbieten dürfe, dafür aber das Geld fehle. Das alles stand zwei Tage vorher im “Schwäbischen Tagblatt”.

Was dort nicht stand und mangels eigener Recherche auch zwei Tage später in der “Bild”-Zeitung fehlte: Das Regierungspräsidium hat zwar nach dem Anruf der “Tagblatt”-Journalistin den Fall prüfen lassen. Es ist aber längst zu einem Ergebnis gekommen. Bereits am Freitag vergangener Woche entschied es, dass kein Rechtsvorstoß vorliegt. Der Pressesprecher der Behörde teilte uns auf Anfrage mit: Die Stadt Tübingen habe versichert, dass die Leute, die sich über die Facebook-Seite Palmers anmelden, nicht bevorzugt werden, sondern ihre Anmeldungen nur im offiziellen Verfahren der Stadt mit berücksichtigt werden.

Palmers “Ärger” bestand also im Wesentlichen aus, dass die “Bild”-Zeitung ihm recherchefrei unterstellte, “Ärger” zu haben.

Mit Dank an Sandra M.!

Bild  

Enteignet Gysi!

Gab es eigentlich schon einmal eine Bundesregierung, die mit so viel Macht ausgestattet war wie die neue Große Koalition? Fragen wir die “Bild”-Zeitung von heute:

Die Große Koalition steht. Heute wird Angela Merkel (59, CDU) als Bundeskanzlerin vereidigt. Ihre Große Koalition hat mehr Macht als jede Regierung in 50 Jahren zuvor — und nie war die Opposition so schwach.
(Seite 1)

Seit fast 50 Jahren war keine Regierung im Bundestag und Bundesrat mit so viel Macht und mit solch erdrückender Mehrheit ausgestattet wie diese Große Koalition.
(Seite 4 oben)

Es ist die mächtigste Regierung seit mehr als 40 Jahren! (…) Die Liliput-Opposition aus Linkspartei und Grünen ist machtlos.
(Seite 4 unten)

Wenn wir das nicht ganz falsch interpretieren, meint die “Bild” also, dass es in den vergangenen 40 bis 50 Jahren keine Bundesregierung gab, die so mächtig war wie die neue Große Koalition. Sie ist so mächtig, dass es überhaupt nur eine Institution in Deutschland gibt, die es mit ihr aufnehmen kann.

Richtig:

16 “Bild”-Mitarbeiter werden gezeigt, die von nun an kritisch über die Bundesregierung berichten sollen, was womöglich den als erstes genannten Bela Anda (SPD), den früheren Regierungssprecher Gerhard Schröders, selbst verblüfft hat. Die Kernkompetenz der 16 liegt anscheinend überwiegend in lustig gemeinten Wortspielen …

“Ich mache Theater, wenn Kultur nur als Gedöns behandelt wird!”

“Ich schieße scharf, wenn das Verteidigungsministerium ein Chaos-Haus bleibt!”

“Ich haue auf den Putz, wenn die Kosten für Mieter und Eigentümer explodieren.”

“Ich sage ‘Stop!’, wenn Autofahrer über die Maut Finanzlöcher stopfen müssen.”

… teilweise aber auch in Hybris:

“Ich lasse nicht zu, dass Jobs kaputtgemacht und Arbeitgeber drangsaliert werden.”

Zunächst aber greift “Bild” nicht die Regierung an, sondern die Opposition aus Linkspartei und Grünen: “Noch nie”, schreibt “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann in seinem Kommentar, “gab es einen Bundestag, in dem die Opposition ganz ohne bürgerliche Stimmen auskommen musste.”

Auf die Regierungserklärung von Angela Merkel wird künftig Oppositionsführer Gregor Gysi antworten. Der Mann, der die alten SED-Kader salonfähig machte.

Das ist nicht gut für Deutschland!

Wenn es keine bürgerliche Opposition im Bundestag gibt, dann muss sich diese Stimme außerhalb des Parlaments Gehör verschaffen.

Deshalb geht BILD in die Opposition. Und wird Außerparlamentarische Opposition. APO!

Die Anmaßung als “APO” kann man als eine nachträgliche Verhöhnung der Bewegung sehen, die von der “Bild”-Zeitung Ende der sechziger Jahre diffamiert und mit größter Schärfe bekämpft wurde.

Bei der Gelegenheit klittert “Bild” aber ein bisschen auch die noch nicht so weit zurückliegende Geschichte und behauptet: “BILD hatte mit seinen Vorhersagen zur GroKo recht!”

Am 15. Juni 2013 hätte das Blatt geschrieben: “Die Große Koalition kommt zurück!“ und damit auch recht behalten. Das ist richtig. In demselben Artikel sagten Nikolaus Blome (heute “Spiegel”) und Stephan Haselberger aber u.a. auch “klar” voraus, dass die FDP in den Bundestag einziehen werde und die Union “(wie so oft) an der Urne schlechter abschneiden [wird] als vorher in den Umfragen”. Nun ja.

Eine weitere angeblich richtige Vorhersage laut “Bild” von heute:

8. November 2013: “Wird Gabriel der Mega-Minister der Großen Koalition?” BILD sagt Gabriel als Vizekanzler und als Minister für das “Mega-Projekt Energie” und für das “Mega-Projekt Wirtschaft” voraus — und BILD liegt wieder richtig.

Kunstvoll hat “Bild” in den Zitaten das dritte “Mega-Projekt” weggelassen, das sie ihm damals zugeschoben hatte: Das “Mega-Projekt Infrastruktur”. Von einem “speziell auf ihn zugeschnittenen Mega-Ressort für Energie, Wirtschaft und Infrastruktur” hatte “Bild” damals gesprochen — von der Infrastruktur ist heute keine Rede mehr.

Kai Diekmann kündigt an:

BILD wird der neuen Regierung bei jeder Gelegenheit auf die Finger hauen! Hart. Schmerzvoll. Und ohne Gnade.

Und bestimmt: ohne Besinnung.

Bild  

Vicky Leandros will nicht mehr 64 sein

Die Welt ist nicht gerecht, manchmal nicht einmal zur “Bild”-Zeitung.

Der Anwalt von Vicky Leandros hat sich bei “Bild” beschwert. Ausgerechnet! Seit vielen Jahren feiert das Blatt die Sängerin wie keine zweite, würdigt den kleinsten Schluckauf, zelebriert jede Veranstaltung, bei der sie sich blicken lässt, als Vicky-Veranstaltung und kann es anhaltend nicht fassen, wie schön, talentiert, erfolgreich diese Frau ist, ein Weltstar, vor dem alle anderen Weltstars verblassen. (Wir hatten das rudimentär schon mal hier und hier dokumentiert.)

So ein Star ist natürlich im Grunde alterslos, und entsprechend verzichtet die “Bild”-Zeitung in aller Regel darauf, hinter den Namen von Leandros in Klammern das Alter anzugeben. Das ist eine Vorzugsbehandlung, die nur wenigen Menschen zuteil wird, zu denen “Bild” ein ganz besonderes Verhältnis hat. Verlegerin Friede Springer und “Oscar-Legende” Arthur Cohn gehören dazu.

Nun ist es mit dem Alter von Vicky Leandros aber ohnehin so eine Sache. Sie selbst sagt, sie sei am 23. August 1952 geboren, und hat entsprechend im vergangenen Jahr öffentlich ihren 60. Geburtstag begangen. Über ihren Anwalt hat die Sängerin 2011 gegenüber der Wikipedia ihren Personalausweis vorgelegt, in dem dieses Datum offenbar bestätigt wird. Das Bertelsmann-Lexikon nennt als ihr Geburtsjahr allerdings 1949, was bedeuten würde, dass sie jetzt 64 Jahre alt ist. In anderen Quellen findet sich 1948 als Geburtsjahr.

Als sie am 8. April 1967 beim Eurovision Song Contest antrat, kündigte sie der Kommentator der Sendung als “eine Sängerin aus Griechenland, 17 Jahre alt” an, was einem Geburtsjahr 1949 entspräche — und angesichts der Bilder realistischer wirkt als die Annahme, da stünde ein 14-jähriges Mädchen auf der Bühne, was ihren heutigen eigenen Angaben über ihr Geburtsjahr entspräche. Die Eurovisions-Seiten der ARD vergrößern die Verwirrung, indem sie sie kurzerhand 15 machen.

Am 11. Mai 1975 berichtete der britische “Observer” über eine Begegnung mit der Sängerin, staunte über ihre Prahlsucht und machte sich über ihre Arroganz lustig (“She expects the Albert Hall concert to be a great success. In September, she’s lined up for the Carnegie Hall in New York . ‘No, I’m not excited. What is there to be excited about?’ She said it.”). Die Zeitung ließ dabei folgende mysteriöse Bemerkung fallen:

Miss Leandros, who said she was 24 (a fact not borne out by her passport) …

Fräulein Leandros, die sagte, sie sei 24 (eine Tatsache, die die durch ihren Pass nicht gestützt wird)…

Wenn sie damals 24 gewesen wäre, hätte sie 1950 oder 1951 geboren sein müssen, aber 24 scheint sie ja nicht gewesen zu sein, auch wenn sie das selbst so sagte.

Der “Observer” schrieb damals auch, sie sei 15 Jahre alt gewesen, als ihr Vater sie zum ersten Mal im Fernsehen auftreten ließ, was nicht stimmen kann, wenn sie im Alter von 14 schon beim Eurovision Song Contest aufgetreten sein sollte.

Wenn man ausschließen will, dass zu den vielen Talenten von Vicky Leandros auch jenes gehört, in 64 Jahren 61 Jahre älter zu werden, ist es also eine sehr verwirrende Quellenlage. Insofern mag man der “Bild”-Zeitung, die eh eine ausgewiesene Altersangabenschwäche hat (wie wir in den ersten Jahren von BILDblog gründlich dokumentierten), ausnahmsweise verzeihen, dass sie gelegentlich, wenn sie schon mal das Alter angibt, abweichende Zahlen nennt.

Im Januar 1996 zum Beispiel, als sie 43 offiziell gewesen sein muss, gab ein verzauberter “Bild”-Reporter nach einer Privataudienz (“Vicky kommt — atemberaubend! Endlosbeine in kurzem Ledermini”) ihr Alter mit 46 an. Und auch am 3. Dezember war in einem “Bild”-Artikel unter der Überschrift “Vicky Leandros verzaubert den Michel” nicht 61, sondern 64 als Alter angegeben.

Wenn man eines in diesem Fall ausschließen kann, dann das, was man bei “Bild” sonst nie ausschließen kann: böse Absicht. Auch wenn die Überschrift über dem “Bild”-Artikel zu Vickys 60. Geburtstag im vergangenen Jahr unter diesen Vorzeichen eine ganz neue Bedeutung bekommt:

Vicky Leandros wird 60? Ihr Freund Norbert Körzdörfer glaubt das nicht

(Er meinte natürlich, dass sie eigentlich “ewige 20” sei und klärte im Text: “Die Wahrheit ist wahr. Vicky Leandros wird am 23. August (Löwe) wirklich 60.”)

Und nach alldem, was “Bild” für diese Göttin getan hat, lässt sie ihren Anwalt nun einen Brief an die Rechtsabteilung von Axel Springer schreiben?

Unserer Mandantin ist aufgefallen, dass Sie regelmäßig unter falscher Altersangabe über sie berichten (…).

Vicky Freifrau von Ruffin ist am 23. August 1952 geboren und damit 61 und nicht 64 Jahre alt. Wir bitten daher, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass künftig das richtige Geburtsdatum/Alter verwendet wird. Das wollen Sie uns, bitte, kurz bestätigen.

“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann hat den Brief auf Twitter veröffentlicht und kommentiert:

 

Aber echt. Und er würde sicher alles für sie, die liebe Vicky, tun. Die Welt ist nicht gerecht, manchmal nicht einmal zur “Bild”-Zeitung.

Zum Brechen: Tabu-Berichterstattung

  • “BILD bricht das große Tabu, druckt in einer neuen Serie Deutschlands Gehaltslisten.”
    (“Bild”, Mai 2004)
  • “BILD bricht das letzte Geld-Tabu — und sagt, was die Deutschen wirklich verdienen.”
    (“Bild”, Dezember 2005)
  • “BILD bricht ein Tabu und verrät, was die Sachsen-Anhalter verdienen.”
    (“Bild” Halle, November 2011)
  • “BILD bricht ein großes Tabu: Deutschland zeigt seine Gehaltszettel”
    (“Bild”, Dezember 2013)

Das unterscheidet das Tabu vom Krug: Der Krug geht nur solange zum Brunnen, bis er bricht. Das Tabu trabt auch nach dem Brechen immer wieder brav zur “Bild”-Zeitung.

Heute ist es also wieder einmal so weit. Und das Wichtigste an diesen Gehaltsgeschichten scheint zu sein, mit ihnen gleich groß auf dem Titel zu behaupten, ein Tabubrecher zu sein — wie abwegig auch immer das sein mag. Während das Neue an den Zahlen 2005 noch war, dass “Bild” die Monatseinkünfte durch die revolutionäre Anwendung der Division durch 30 auf Tagesverdienste umrechnete, schockt “Bild” nun damit, sich von den Beteiligten sogar ihre Netto-Einkünfte nennen zu lassen.

Weil das Blatt das für zahlende Kunden im Internet nach verschiedenen Kriterien sortierbar gemacht hat, trommelte der Branchendienst “Meedia” dafür sogar schon vorab und lobte den Versuch von Bild.de, mit “multimedial pfiffig (sic!) aufgemachten Arbeiten” zu glänzen.

Online stellt man dann fest, dass Politiker wie der Bundestagsabgeordnete Lars Klingbeil ihre Steuerbescheide längst im Internet veröffentlichen, was die Behauptung, das sei “eines der letzten großen Tabus” in Deutschland, noch schaler wirken lässt. Dass Klingbeil aus einem Ort namens Munster in Niedersachsen kommen könnte, hielt die “Bild”-Redaktion allerdings für so unwahrscheinlich, dass sie ihn sicherheitshalber nach Münster (Nordrhein-Westfalen) umsiedelte.

Ein tatsächliches Tabu traut sich das Blatt aber natürlich auch diesmal nicht zu brechen: die Einnahmen von “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann oder Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner zu veröffentlichen.

Google-Ausfall sorgt für Journalismus-Ausfall

In der vergangenen Nacht funktionierte Google für ein paar Minuten nicht. Was das für Folgen hatte, steht heute überall: Der Internet-Verkehr ist halb zusammengebrochen.



“Spiegel Online”, Bild.de, “Welt Online”, sie alle berichten dasselbe: einen Rückgang der “weltweiten Internetaktivitäten” oder des “weltweiten Internetverkehrs” um 40 Prozent.

Es gibt für diese Zahl exakt eine Quelle: den Analyse-Anbieter GoSquared. Der hat den vermeintlichen Traffic-Einbruch in einem Blog-Eintrag behauptet und auch gleich mit einer tollen Grafik belegt:

Die hat diverse Medien in aller Welt so sehr beeindruckt, dass sie damit gleich ihre Meldungen illustriert haben. Dass die eindrucksvolle Kurve keinerlei Legende hat und die Y-Achse nicht beschriftet ist, das hat sie nicht gestört. Hey, eine Kurve! Statistik! Wissenschaft! Fakten!

Aber was genau ist da zurückgegangen? GoSquared spricht von der Zahl der Seitenaufrufe, die von GoSquared erfasst werden (“the number of pageviews coming into GoSquared’s real-time tracking”).

GoSquared hat also nicht den Internetverkehr auf der ganzen Welt gemessen, mit welchen Methoden auch immer, sondern nur die Abrufe auf den Seiten der Kunden von GoSquared. Was für Seiten das sind und wie typisch sie für das Internet insgesamt sind — man weiß es nicht.

Überhaupt lässt sich die Zahl der Seitenabrufe (pageviews) keineswegs mit dem “Internetverkehr” oder den “Internetaktivitäten” gleichsetzen. Die Datenmenge, die bei einem Seitenabruf bewegt wird, kann winzig oder gewaltig sein.

Ist der Internettraffic also in Folge des Google-Ausfalls um 40 Prozent heruntergegangen? Vielleicht, aber wahrscheinlich nicht. In der Traffic-Statistik von DE-CIX, dem großen Internet-Knoten in Frankfurt/Main, hat der Google-Ausfall jedenfalls nur winzige Spuren hinterlassen.

Die GoSquared-Leute aber stehen im Stau und nehmen einfach an, dass zu dem Moment jeder im Stau steht: Autos auf jeder Straße, Fußgänger und Flugzeuge gleichermaßen. Und sie freuen sich, dass die halbe Welt auf ihre Bullshit-Meldung hereingefallen sind.

(Basierend auf einem Post von Torsten Kleinz.)

Nachtrag, 18. August, 12 Uhr. “Welt Online” und derstandard.at haben ihre Artikel klammheimlich verbessert.

Nachtrag, 19. August. Nun hat sich auch “Spiegel Online” etwas halbherzig, aber transparent korrigiert.

PLO-Chef & Bushido-Kumpel mit 6 Buchstaben

“Focus Online” musste heute folgende Gegendarstellung veröffentlichen:

Unter www.focus.de verbreiten Sie am 10.05.2013 unter der Überschrift “Bewährungsstrafe für Bushidos Freund” unter Bezugnahme auf die “Bild”-Zeitung, ich sei in einem Prozess, in dem ich mich “offenbar wegen Beihilfe bei einer Bedrohung aus dem Jahr 2010 vor Gericht verantworten” musste, zu einer “Bewährungsstrafe von vier Monaten” verurteilt worden.

Hierzu stelle ich fest: Ich wurde nicht verurteilt, sondern auf Antrag der Staatsanwaltschaft freigesprochen.

Berlin, den 14. Mai 2013

Arafat Abou-Chaker

Nun könnte man sagen: Schön blöd von der Agentur SpotOn, das einfach aus der “Bild”-Zeitung abzuschreiben. In diesem Fall müsste es aber heißen: Schön blöd, das falsch aus der “Bild”-Zeitung abzuschreiben. Die schrieb nämlich nicht, dass Arafat Abou-Chaker, der “Boss des Abou-Chaker-Clans”, zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, sondern sein Bruder Yasser.

Andererseits: Yasser, Arafat. Wer kann schon ahnen, dass das nicht mehr nur eine Person ist.

3sat, ZDF  

Nazi-Lüge überlebt in Doku über Juden

Am 8. Mai, zum 70. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto, zeigte 3sat eine Dokumentation des Warschauer ZDF-Korrespondenten Armin Coerper über das jüdische Leben in der Stadt: die Kultur vor dem Zweiten Weltkrieg, die Vernichtung durch die Nazis und die wenigen Spuren, die heute geblieben sind. Der Film war offenbar drei Wochen zuvor auch schon im ZDF gelaufen.

“Vor dem Krieg gab es viele jüdische Theater”, heißt es darin. “In Warschau pulsierte das jüdische Leben. Hier lebte die jüdische Kultur wie nirgends sonst in Europa. Es wurde getanzt, gespielt, gesungen — bis die Deutschen diese Welt brutal zerstörten.”

Die Bilder aus dem Theater, die zu diesen Worten gezeigt wurden, waren am selben Abend schon einmal auf 3sat zu sehen gewesen: rund eineinhalb Stunden früher in der Dokumentation “Geheimsache Ghettofilm” aus dem Jahr 2009. Die erzählt die erstaunliche und erschütternde Geschichte eines Propagandafilms, den die Nazis im Warschauer Ghetto drehten. Sie inszenierten das vermeintliche “jüdische Leben” für die Kameras, zwangen die Menschen, nach ihren Regieanweisungen zu agieren.

Unter diesen Bedingungen entstanden auch die Aufnahmen im Theater, mit übertrieben auftretenden Schauspielern und Tänzern und verzweifelt auf Kommando lachenden Zuschauern. Detailliert entlarvt der Film um 20:15 Uhr auf 3sat diese Bilder als Lüge — und die direkt im Anschluss laufende Dokumentation um 21:40 Uhr gibt sie wieder als Wahrheit aus.

Es ist kaum zu glauben:

Entdeckt von Nathan Gelbart / “Die Achse des Guten”.

(Der Film “Geheimsache Ghetto” ist, ergänzt um ein umfangreiches Dossier, auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung zu sehen.)

 
Nachtrag, 21. Mai. Das ZDF teilt zu dem Vorgang mit:

Die kritisierte Szene aus dem jüdischen Theater hat das ZDF aus dem Archiv des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau erhalten. Dort wird eine Kauf-DVD angeboten, die sich der Autor inklusive Kommentar angesehen hat. Danach wurden gezielt einzelne Szenen für den Film bestellt, die aus anderen Quellen nicht vorlagen. In dem Kommentar zu den besagten Sequenzen der DVD des Instituts befindet sich keinerlei Hinweis, dass diese Aufnahmen unter Zwang entstanden sind. Es heißt dort, dass die Bewohner dem Hunger und der Not zum Trotz versuchten, ihr kulturelles Leben weiterzuführen. Es wird auch aus den Erinnerungen einer Zeitzeugin an diesen Theaterbesuch zitiert, ohne Hinweis auf Zwang. An anderer Stelle wird tatsächlich auf den Propagandafilm der Nazis hingewiesen, der das luxuriöse Leben der Juden im Ghetto auf zynische Weise proklamieren sollte. Die Theaterszene ist aber deutlich davon getrennt. Aufgrund der Seriosität des Jüdischen Historischen Instituts hat der Autor keinen Anlass gesehen, die genaue Herkunft der Bilder noch einmal zu ermitteln.

Selbstverständlich wird der Autor die Bilder noch einmal überprüfen und die Dokumentation für eventuelle weitere Ausstrahlungen und für das Online-Angebot korrigieren, falls sich die verwendeten Bilder als nicht authentisch erweisen sollten.

Der imaginäre Umfragen-Aufwind der Piraten

Dafür, dass die Medien kaum etwas für so nachrichtenträchtig halten wie Meinungsumfragen, tun sie sich erstaunlich schwer, sie korrekt zu interpretieren.

Heute berichtet die Nachrichtenagentur dpa in mehreren Meldungen, dass die Piratenpartei “Aufwind in Umfragen” erfahre:

Nach vielen Rückschlägen über Monate hinweg geht es für die Internet-Partei laut Umfragen endlich wieder aufwärts. Im Wahltrend der “Bild am Sonntag” liegt sie nun mit vier Prozent auf Augenhöhe mit der FDP.

Entsprechend schreibt “Spiegel Online”, die Umfrage sorge auf dem aktuell in Neumarkt stattfindenden Bundesparteitag der Piraten für “gute Laune”, und behauptet: “Das Umfrageergebnis ist nach Monaten der erste Hoffnungsschimmer für die Partei (…).”

Keineswegs.

Auch in der Vorwoche hatte die Emnid-Umfrage für die “Bild am Sonntag” die Piraten schon bei vier Prozent gesehen, ebenso wie übrigens auch einmal im April, den größten Teil des Februar und den ganzen Januar.

Die neue Umfrage zeigt keinen “Aufwind” für die Piraten: Sie stagnieren laut Emnid bei vier Prozent (siehe Ausriss).

Um einen Aufwärtstrend zu konstruieren, müsste man die wöchentlichen Emnid-Umfragewerte mit denen anderer Institute vergleichen, zum Beispiel denen von Forsa für den “Stern” und RTL, die die Piraten aktuell bei 2 Prozent sehen. Wenn das funktionierte, könnte man aber zum Beispiel auch jede Woche vermelden, dass die SPD im Aufwind und im Sturzflug ist: Forsa schätzt die Wahlchancen der Sozialdemokraten nämlich chronisch niedriger ein als die anderen Institute. So würde jede neue Forsa-Umfrage (im Vergleich mit Emnid) einen Absturz der SPD in der Wählergunst bedeuten und jede neuen Emnid-Umfrage (im Vergleich mit Forsa) einen Zuwachs.

Nachtrag, 14:35 Uhr. Das ging schnell. Die dpa hat ihre Zusammenfassung berichtigt mit den Hinweis, die Neufassung stelle “in Überschrift und Text die Entwicklung bei den Umfragen klar: Kein Aufwind, da Emnid schon vergangene Woche für die Piraten 4 Prozent errechnet hatte.”

Rechnen mit Sklaven, Lesen mit Journalisten

Die Überschrift ist ebenso rätselhaft wie vielversprechend:

Mathe-Unterricht in den USA: Schüler sollen Rechenaufgaben mit toten Sklaven lösen

Die Geschichte, die “Focus Online” darunter erzählt, handelt davon, dass Kinder einer amerikanischen Grundschule Rechenaufgaben wie die folgende lösen sollten: “Ein Sklave wird fünfmal am Tag ausgepeitscht. Wie oft wird er in einem Monat ausgepeitscht?”

Das Stück wirkt ungewöhnlich gründlich recherchiert. Gleich drei verschiedene Quellen nennt “Focus Online” (ohne auch nur eine einzige davon zu verlinken): den Online-Auftritt des “New York Magazine”, die Zeitung “Atlanta Journal-Constitution” und CBS News.

Nur dass sich zum Beispiel die Angaben im “New York Magazine” (und in anderen Medien) so gar nicht mit dem decken, was “Focus Online” schreibt. So handelt es sich nicht um “Drittklässler der Beaver Ridge Grundschule im US-Bundesstaat Georgia”, sondern um Viertklässler der Schule PS 59 in New York City. Und auch nicht um neun betroffene Lehrer, sondern um zwei. Und von Ed DuBose, dem Präsidenten der Bürgerrechtsorganisation NAACP ist, anders als “Focus Online” schreibt, auch noch keine konkrete Forderung bekannt geworden, die Verantwortlichen zu feuern.

Des Rätsels Lösung: “Focus Online” hat die aktuelle Aufregung (in New York) mit einem ähnlichen Vorfall vor einem Jahr (in Georgia) verwechselt. Der war damals auch durch die deutsche Presse gegangen.

Und wir nehmen als Anregung für lebensnahe Unterrichtsgestaltung die Rechenaufgabe mit: Ein Redakteur macht pro Artikel, aus dem er zitiert, einen Fehler. Wie viele Quellen sind nötig, um den Qualitätsstandard von “Focus Online” zu halten?

Nachtrag, 22:50 Uhr. “Focus Online” hat den Artikel offen korrigiert.

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