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“… drei mal hoch!”

Am Dienstag ist in Plymouth, im Süden Englands, ein Junge zur Welt gekommen. Er kam eine Woche nach dem berechneten Geburtstermin, aber gerade rechtzeitig, es in die Lokalzeitung zu schaffen: Er hat nämlich nun am selben Tag Geburtstag wie sein Vater und seine Mutter.

Lustige Sache. Oder, wie die deutsche Nachrichtenagentur dpa fand, die über die britische Nachrichtenagentur PA davon erfahren hatte, ein Ereignis, das internationale Aufmerksamkeit verdiente. “Spiegel Online” machte sogleich eine Meldung im berüchtigten Panorama-Ressort daraus:

Und tatsächlich stimmt alles, was darin steht. Inklusive der Rechnung, für die man sicherheitshalber einen Experten zurate gezogen hat:

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Paar und ihr erstes Kind denselben Geburtstag haben, liege bei 1 zu 133 225, zitierte die Zeitung “Plymouth Herald” einen Mathematikprofessor der Universität Plymouth.

Das könnten auch Nicht-Mathematikprofessoren rechnen: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Vater den selben Geburtstag hat wie die Mutter ist 1:365, ebenso hoch ist die, dass er denselben Geburtstag hat wie sein Kind. Die Gesamtwahrscheinlichkeit ist also (1:365)*(1:365)=1:133.225.

In Deutschland wurden im vergangenen Jahr 678.000 Kinder geboren. Statistisch gesehen tritt also in Deutschland fünfmal jährlich der Fall des Vater-Mutter-Kind-Geburtstages ein. Weil dpa und “Spiegel Online” aber solche Fälle auch international für berichtenswert halten, könnten sie — angesichts von 670 134 Millionen Geburten jährlich — grob statistisch gerechnet fast vierzehn dreimal Mal täglich melden: “Kurioser Zufall: Baby kommt am Geburtstag der Eltern zur Welt”.

Keine Ahnung, ob das ein Beitrag zur Rettung des Journalismus wäre.

Mit Dank an Martin H.!

Korrektur, 16:30 Uhr. Wir hatten die Zahl der jährlichen Geburten weltweit ursprünglich um den Faktor 5 zu hoch angegeben.

Das Verschwinden der Superpille

Als flüchtiger Leser könnte man glauben, Fehler würden auf “Spiegel Online” immer vorbildlich transparent korrigiert. Der Eindruck täuscht.

Heute Vormittag erschien dort ein kurzer Artikel mit der Überschrift:

Arznei-Überdosis
Superpillen treibt Gesundheitskosten in die Höhe

(Aus “Superpillen” ist inzwischen “Supermedizin” geworden, nachdem Kommentatoren im “Spiegel Online”-Forum angemerkt hatten, dass die meisten Präparate, um die es geht, gar nicht in Pillenform verabreicht werden.)

Der Versuch, das komplexe Thema auf wenigen Zeilen zu behandeln, ist, gelinde gesagt, ambitioniert. Ein aktueller Anlass für das Stück ist nicht erkennbar — außer, dass es irgendwie zur Titelgeschichte “Überdosis Medizin” des gedruckten “Spiegel” passt.

Ausführlich behandelt wurde das Problem der extrem teuren Spezialpräparate, die auf neuartige Weise die Ursachen von Krankheiten behandeln sollen, aber schon in einer großen “Spiegel”-Geschichte im Mai 2010. Darin findet sich der Satz:

Nur ein einziges der neuen Präparate — das Medikament Glivec gegen chronische myeloische Leukämie — hat die Behandlung der Krankheit wirklich revolutioniert.

Das ist insofern bemerkenswert, als “Spiegel Online” sich in seinem reduzierten Neuaufguss der Geschichte ausgerechnet Glivec als ein Beispiel dafür herausgegriffen hat, dass die neuen, teuren Präparate ihre “Überlegenheit gegenüber herkömmlichen Medikamenten noch gar nicht bewiesen” hätten:

Sie haben futuristische Namen wie Glivec oder Humira. Darin klingt ein Versprechen mit: Es gibt Hoffnung. Deine Krankheit kann behandelt werden. Auch wenn sie noch so schwer oder selten ist. Auch dann noch, wenn konventionelle Arzneien versagen.

Glivec oder Humira gehören zu den sogenannten Spezialpräparaten. (…)

Das klingt wie ein Segen. Doch viele Experten begreifen es als Fluch. Denn die Spezialpräparate erhöhen die Kosten im Gesundheitssystem massiv. Bereits jetzt – obwohl ihre Überlegenheit gegenüber herkömmlichen Medikamenten noch gar nicht bewiesen ist.

Im “Spiegel Online”-Forum kritisierten mehrere Leser, dass Glivec wirklich kein gutes Beispiel für die zweifelhafte Wirksamkeit solcher Präparate sei. Offenbar sah man das dann auch in der Redaktion ein. Irgendwann am Nachmittag hat “Spiegel Online” den Namen Glivec aus dem Artikel gestrichen und durch Avastin ersetzt.

Ohne jeden Hinweis, irgendeine Erklärung, Transparenz.

Nachtrag, 18.45 Uhr. Na sowas. Plötzlich geht’s:

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels wurde als Beispiel für Spezialpräparate, deren Nutzen umstritten ist, unter anderem Glivec genannt. Glivec war allerdings herkömmlichen Therapien überlegen. Wir haben daher ein anderes Beispiel gewählt. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

Mit Dank an Martin S.!

Verkauft doch Zypern!

Was ist eigentlich dieses “Zypern”, von dem man gelegentlich hört und das im nächsten Jahr sogar die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen soll?

Die Nachrichtenagentur AFP scheint zu glauben, dass es sich um einen Landesteil Griechenlands handelt. Nach dem Lesen einer AFP-Meldung von heute käme man nicht auf den Gedanken, dass es ein souveräner Staat ist.

AFP schreibt:

Während der griechisch-zyprischen Ratspräsidentschaft will die Türkei nicht mit der EU reden.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will die Beziehungen zur EU während der griechisch-zyprischen Ratsräsidentschaft [sic] im kommenden Jahr für ein halbes Jahr einfrieren. (…) Die griechische Republik Zypern übernimmt in der zweiten Hälfte 2012 die EU-Ratspräsidentschaft.

Mit den Vertretern der griechischen Inselrepublik werde die Türkei während der Ratspräsidentschaft “auf keinen Fall reden”, sagte Erdogan. (…) Der griechische Teil des seit 1974 geteilten Zypern ist seit 2004 Mitglied der EU. (…)

In dem Interview wurde [Erdogan] auf einen Vorschlag des griechisch-zyprischen Präsidenten Dimitris Christofias angesprochen, (…).

Zypern ist — anders als AFP zu glauben scheint — kein Ableger Griechenlands. Und das Land, das im Juli 2012 die EU-Ratsherrschaft übernimmt, ist auch nicht Griechenland-Zypern oder Griechisch-Zypern, sondern Zypern.

Völkerrechtlich umfasst diese Republik Zypern die ganze Insel. Ihr Nordteil ist allerdings seit 1974 von der Türkei besetzt. Die 1983 ausgerufene “Türkische Republik Nordzypern” wird von keinem anderen Staat als der Türkei anerkannt.

Den Online-Ableger der “Welt” hat all das AFP-Gerede von der “griechisch-zyprischen Ratspräsidentschaft” so nachhaltig irritiert, dass man dort davon ausgeht, dass Zypern im nächsten Jahr unmöglich alleine die EU-Ratspräsidentschaft innehaben kann:

Premierminister Recep Tayyip Erdogan will keine Gespräche mit der EU führen, solange Griechenland und Zypern die EU-Ratspräsidentschaft inne haben

(Dieser Eintrag wirft Steine aus dem Glashaus.)

Nachtrag, 21. Juli. Spät, aber immerhin halbtransparent hat “Welt Online” den Artikel korrigiert und hinzugefügt:

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieser Nachricht wurde Zypern fälschlich als “griechische Inselrepublik” bezeichnet. Fakt ist, dass Zypern eine eigenständige Republik ist und kein Ableger Griechenlands. Wir bitten um Entschuldigung.

Interview-Promotion

Selten wurde in der breiten Öffentlichkeit soviel über richtiges Zitieren diskutiert wie heute. Der FDP-Europaabgeordnete Jorgo Chatzimarkakis etwa musste gerade schmerzhaft erfahren, dass Anführungszeichen nicht ganz so bedeutungslos sind, wie ihr Spitzname “Gänsefüßchen” nahelegen könnte; andere prominente Politiker stolperten darüber, dass sie Aussagen anderer in ihren Promotionen als eigene ausgegeben haben.

Im Journalismus ist das alles anders, wie uns “Zeit Online” beweist, wo sich seit gestern folgende, relativ dramatische Überschrift findet:

ZDF-Sportchef: "Der Frauenfußball wird wieder von der Bildfläche verschwinden"

Die Anführungszeichen sind brav an ihrem Platz, und man kann “Zeit Online” auch nicht vorwerfen, sich die Aussagen des ZDF-Sportchefs Dieter Gruschwitz angeeignet zu haben. Eher…

…umgekehrt:

ZEIT ONLINE: Der Frauenfußball wird nach der WM in Deutschland also wieder von der Bildfläche verschwinden? Ihre Bundesligaspiele werden weiterhin wohl nicht im bundesweiten TV zu sehen sein und die Olympia-Qualifikation fürs kommende Jahr haben die Frauen verpasst.

Gruschwitz: Da haben Sie Recht. Schon bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 waren die Frauenfußballspiele eine attraktive Programmware für uns. Aber auf dieser großen Bühne werden die deutschen Fußballerinnen in London 2012 nicht vertreten sein. Das Ausmaß des Olympia-Startverlusts wird in seinen vielschichtigen Auswirkungen von einigen noch gar nicht so richtig wahrgenommen.

Mit Dank an Jakob V.

Nachtrag, 17.15 Uhr. Der Interviewer sagt, im Gespräch habe Gruschwitz seine Aussage “Der Frauenfußball wird wieder von der Bildfläche verschwinden” wiederholt und gesagt, dass er sie teile.

Haarte Zeiten für Wayne Rooney

Es gibt Geschichten, die schreiben sich fast von alleine. Die Sache mit Wayne Rooney, dem britischen Fußballspieler, der sich vor sechs Wochen Haare transplantieren ließ, aber heute scheinbar mehr Glatze hat als vorher, ist so eine Geschichte. Es brauchte nur eines Fotos, auf dem man einen klaren Blick auf die aktuellen Haarverhältnisse auf Rooneys Schädel werfen konnte, und keiner Recherche. Boulevardmedien in aller Welt, von Bild.de über die “Sun” bis “Spiegel Online”, machen sich mit unverhohlener Häme über den scheinbaren Misserfolg der Operation lustig.

“Trotz Moos nix los”, feixt “Spiegel Online”, wo sich offenbar schlecht bezahlte Mitarbeiter damit trösten, dass man sich mit Geld doch nicht alles kaufen kann: “Fußballstar Wayne Rooney hat Tausende Pfund in eine Haartransplantation investiert. Die Resultate sind äußerst spärlich.” Zunehmend müsse sich Rooney “eingestehen, dass die Transplantation wohl wenig bis gar nichts gebracht hat”.

Die Konkurrenz von Bild.de titelt: “Bei Rooney wächst kein Gras mehr…”, zweifelt am “langfristigen Erfolg der Behandlung” und meint, Rooney hätte die 11.000 Euro, die die Umpflanzung der Haare angeblich gekostet hat, besser für einen “schönen Urlaub” ausgegeben: “Mit Sonnencrème für die Glatze…”.

Die Online-Redaktion der “Rheinischen Post” diagnostiziert: “Transplantation ohne Wirkung”. Grundlage dafür ist ein Bericht des Sport-Informationsdienstes, dessen Haar-Experten heute meldeten: “Wayne Rooney (25), englischer Fußball-Nationalspieler in Diensten von Manchester United, muss sich wohl mit dem Gedanken an eine Glatze abfinden.”

In einem Wort: nein.

Vermutlich wird Rooney sogar damit gerechnet haben, zum jetzigen Zeitpunkt weniger Haare zu haben als vor dem Eingriff. Die Leute, die solche Transplantationen anbieten oder vermitteln, weisen nämlich ausdrücklich auf folgenden Umstand hin: Einige Wochen nach der Operation fallen die meisten verpflanzten Haare (und teilweise sogar einige alte Haare) zunächst einmal aus. Die Wurzeln bleiben aber erhalten. Erst nach etwa drei bis vier Monaten beginnt das neue Haar zu wachsen; abgeschlossen ist das alles nach rund einem Jahr.

Was hätte das für eine nette Geschichte werden können, wenn man das aufgeschrieben hätte: Ein Lehrstück an einem prominenten Beispiel, mit weniger Häme über den doofen reichen haarlosen Fußballspieler, aber voller Hoffnung für Menschen, die an Haarausfall leiden. Es hätte halt jemand recherchieren müssen, anstatt bloß auf- und abzuschreiben, was jeder sieht und sich (fälschlicherweise) denkt, aber wer sollte das tun? Journalisten?

Mit Dank an Andreas K.!

Reinkarnation: Gesteinigter Hund war Ente

Die Geschichte könnte aus einem Monty-Python-Film stammen, stand aber in der halben Welt auf den Nachrichtenseiten. In der Version von “Spiegel Online” geht sie so:

Gericht verurteilt Hund zum Tod durch Steinigung. Ein Hund läuft in ein Justizgebäude und sorgt dort für Panik - dafür hat ein israelisches Rabbiner-Gericht das streunende Tier zum Tod durch Steinigung verurteilt. Ein Richter hielt den Störenfried offenbar für die Reinkarnation eines missliebigen Anwalts.

Sie können sie aber gerne auch auf den Internetseiten der “Süddeutschen Zeitung” (dort erstaunlicherweise im Ressort “Service”), der “B.Z.”, der “Rheinischen Post” oder des “Stern” nachlesen, falls Sie sie in den gedruckten Ausgaben von “Tagesspiegel”, “Bild”, “Express” oder “Hamburger Morgenpost” verpasst haben. Im Online-Auftritt der BBC war das Stück zeitweise einer der am häufigsten weiterverbreiteten Nachrichtentexte.

Den Experten vom “Berliner Kurier” war es sogar gelungen, ein Foto des Tieres zu bekommen (siehe rechts), obwohl es sich — so geht die Geschichte jedenfalls weiter — der Vollstreckung des Todesurteils durch Weglaufen entzogen hatte.

Die Geschichte ging vor allem dank der tatkräftigen Unterstützung durch die Nachrichtenagentur AFP um die Welt und löste teilweise anti-semitische Hassausbrüche aus. Und sie ist, Überraschung!, falsch. (Und der Hund auf dem Foto nur ein Symbolhund.) Die Wahrheit ist ein bisschen weniger spektakulär:

Ein Hund war ins Gerichtsgebäude gekommen.

Er ließ sich nicht ohne weiteres vertreiben.

Die Richter riefen den städtischen Hundefänger.

Schon in der Version, die die israelische Internetseite ynetnews.com veröffentlicht hatte und eine Quelle für viele der Falschmeldungen war, hatte ein Dementi gestanden. Entgegen der reißerischen Überschrift “Dog sentenced to death by stoning” behauptete der Artikel letztlich nur, dass die Richter spielende Kinder aufgefordert hätten, den Hund mit Steinen zu vertreiben. Die Nachrichtenagentur AFP ließ diesen Teil der Geschichte beim Weitererzählen der Einfachheit halber weg und weigert sich bis heute, ihren Fehler zu korrigieren.

Auch die Katholische Nachrichtenagentur KNA verbreitete die Story, schob vier Tage später aber immerhin eine Meldung “Rabbiner dementieren Bericht über Steinigung für einen Hund” nach. Die fand erstaunlicherweise nicht ganz so große Resonanz.

Viele internationale Medien haben die Falschmeldung inzwischen gelöscht, korrigiert oder sich entschuldigt. Deutschen Journalisten scheint das vergleichsweise egal zu sein.

Mit Dank auch an Arne P. und H.N.

Nachtrag / Korrektur, 17:55 Uhr. “Spiegel Online” hat die Meldung doch korrigiert, oder genauer: einen neuen Artikel mit dem Dementi veröffentlicht, den ursprünglichen Artikel aber aus irgendwelchen Gründen unverändert gelassen.

Presserat missbilligt Nutella-Geschmiere

(Diese Geschichte lag ein bisschen bei uns rum, ist aber immer noch gut.)

Anfang März erschien in der “Bild”-Zeitung ein erstaunlicher Hinweis “In eigener Sache”:

Am 08.01.2011 hatten wir im Rahmen eines Interviews mit Mats Hummels dessen Tätigkeit als Werbepartner und das von ihm beworbene Produkt in unangemessener Weise betont. Wir bedauern dies.

Das ist eine erstaunlich treffende Beschreibung für das “Nutella-Frühstück”, zu dem sich “Bild” Anfang Januar mit dem Dortmunder Bundesliga-Spieler Mats Hummels getroffen hatte. Der Brotaufstrich war in Wort und Bild groß in Szene gesetzt:

Die Bild.de-Version des Artikels ist Anfang März ebenfalls durch Hinweis “In eigener Sache” ersetzt worden.

Was war passiert? Nun, es könnte etwas damit zu tun haben, dass BILDblog sich beim Presserat über die Werbegeschichte beschwert hatte. Im Lauf des Verfahrens bekommt dann immer das Medium Gelegenheit zu Stellungnahme, und in diesem Fall fiel sie für “Bild”-Verhältnisse ungewöhnlich aus:

Die Rechtsabteilung der Axel Springer AG räumte ein, einen Fehler gemacht zu haben. Der Presserat fasst ihre Erklärung so zusammen:

Zwar sei der Begriff der sogenannten “Nutella-Boys” (…) in Sportkreisen und auch anderen Medien inzwischen allgemein verbreitet. (…) Dennoch hätte die penetrante Nennung des Produktnamens in BILD-(Ruhr) keineswegs erfolgen dürfen. Die Chefredaktion habe den Artikel umgehend moniert und mit den Kollegen besprochen. Leider sei zu diesem Zeitpunkt der Artikel bereits von BILD-Online übernommen worden.

Der Presserat sah in dem “Nutella-Interview” klar Schleichwerbung, wertete die Erklärung “in eigener Sache” aber zugunsten der Zeitung und sprach deshalb keine “Rüge”, sondern nur eine “Missbilligung” aus.

Bild, dpa  etc.

Die Medien sind krank

Wie wird aus einer interessanten Information eine Nachricht, die viele Medien und damit viele Menschen erreicht? Die Geschichte der Meldung, dass die Deutschen 2010 wieder häufiger krank feierten, die in dieser Woche durch die Medien ging, ist ein gutes Lehrstück.

1.

Immer am Anfang des Jahres gibt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit eine große Tabelle mit Daten über die Entwicklung der Arbeitszeit in Deutschland heraus. Darin steht unter anderem, wie viele Überstunden die Arbeitnehmer gemacht haben und wie oft sie krank waren.

In diesem Jahr veröffentlicht das IAB die Zahlen am 20. Januar und erwähnt in einer Pressemitteilung unter anderem, dass der Krankenstand 2010 gegenüber dem Vorjahr leicht zugenommen habe. Die Agentur dapd berichtet, doch die Nachricht bleibt ohne größere Resonanz.

2.

Irgendwann später im Jahr ruft der “Bild”-Redakteur Stefan Ernst beim IAB an und fragt, ob man nicht irgendwelche exklusiven Daten für ihn habe. Das Institut verneint, weist aber auf die vielen interessanten Informationen auf der eigenen Internetseite hin. Ernst greift auf die Arbeitszeit-Tabelle zurück und macht aus den eigentlich längst bekannten Angaben über die Überstundenentwicklung einen Artikel, der am 14. Februar auf Seite 1 erscheint.

3.

Die Nachrichtenagenturen AFP, dpa und epd melden daraufhin unter Bezug auf “Bild” die IAB-Zahlen aus dem Januar über die Entwicklung der Überstunden. dpa ergänzt sie in einer weiteren Meldung am selben Tag um die IAB-Daten über den leicht erhöhten Krankenstand.

4.

Einige Monate vergehen. Eines Tages erinnert sich “Bild”-Mann Stefan Ernst bei der Suche nach einer aufregenden Wirtschaftsgeschichte für die Seite 1 offenbar an die alte IAB-Tabelle. Diesmal greift er sich ein anderes Detail heraus: die Angaben über den erhöhten Krankenstand. So meldet “Bild” am 14. Juni noch einmal, was das IAB bereits im Januar und dpa bereits im Februar gemeldet hat:

5.

Die Nachrichtenagentur dpa berichtet daraufhin eilig unter Bezug auf “Bild”, dass sich der Krankenstand laut IAB 2010 leicht erhöht habe. Autor der Meldung ist derselbe dpa-Mann, der dieselbe Nachricht schon vier Monate zuvor geschrieben hatte.

6.

Auf der Grundlage der dpa-Meldung verkaufen nun “Handelsblatt”, “taz”, “Berliner Zeitung”, “B.Z.”, “Spiegel Online” und viele andere als Neuigkeit, was das IAB gut fünf Monate zuvor veröffentlicht hat und was dpa vier Monate zuvor bereits einmal gemeldet hat.

Und wir lernen:

  • Nachrichten müssen in der “Bild”-Zeitung stehen, damit Nachrichtenagenturen sie wahrnehmen.
  • Wenn sie in der “Bild”-Zeitung stehen, sind sie für Nachrichtenagenturen immer ein Thema, selbst dann, wenn sie sie bereits Monate zuvor schon vermeldet haben.
  • Was Nachrichtenagenturen melden, ist für andere Medien eine Nachricht, selbst wenn es alt, bekannt oder falsch ist.

Falsch auch? Ja. Vermutlich hat der Krankenstand im vergangenen Jahr gar nicht zugenommen. Die IAB-Studie beruht auf Stichproben, die solche Schlüsse, wie sie das Institut und die Medien ziehen, gar nicht zulässt. Mehr dazu hier:

Real Madrid, Gottschalk, Prinz Charles

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. Ein Cyber-Märchen
(spox.com, Fatih Demireli)
Die medientaugliche Erfolgsgeschichte des 17-jährigen Fußballspielers Serdar Mete Coban, der schon für Galatasaray Istanbul, Inter Mailand und West Ham United gespielt hat und nun nach Real Madrid wechseln soll, hat einen Haken: Es gibt ihn nicht.

2. Warum Gottschalks letzte Sendung nicht die letzte ist
(dwdl.de, Alexander Krei)
Moderiert Thomas Gottschalk am kommenden Samstag zum letzten Mal “Wetten dass…?”, wie Bild.de und andere schreiben? Das ZDF versucht seit Monaten vergeblich, diesen Irrtum aus der Welt zu schaffen.

3. Wer ist diese Frau?
(klatschkritik.de, Antje Tiefenthal)
Ein Gruppenfoto von schönen, jungen, reichen Frauen auf der Kunst-Biennale in Venedig fasziniert “Bild”, “Bunte” und “Gala” — aber wen es eigentlich zeigt, wissen sie nicht.

4. Corrections and clarifications
(guardian.co.uk)
Eine Richtigstellung aus dem britischen Königshaus: “The Prince of Wales does not employ and has never employed an aide to squeeze his toothpaste for him. This is a myth without any basis in factual accuracy.”

5. Uebermorgen.TV: Content-Farmen
(elektrischer-reporter.de, Video)
Mario Sixtus zeigt in einer düsteren Vision, wie industriell produzierte Texte in Zukunft das Internet überwältigen könnten.

6. Wulst
(damaschke.de, Giesbert Damaschke)
Stammt das Zitat “Kunst kommt von Können, nicht von Wollen, sonst hieße es Wullst” wirklich von Karl Kraus (oder Friedrich Nietzsche, Karl Valentin, Joseph Goebbels)?

Bild  

Das Kreuz mit der Griechen-Hetze

Am vergangenen Freitag erfand die “Bild”-Zeitung einen “Wirbel” um den deutschen Botschafter in Athen. Der habe “die Berichterstattung deutscher Medien in der Griechenland-Krise” kritisiert, stellte “Bild” fest, fragte treuherzig: “Wen hat Wegener damit gemeint?”, bekam aber keine Antwort.

Und damit zu einem ganz anderen Thema:

Griechen verhöhnen Europa ... und kriegen trotzdem neue Milliarden

Die “Bild”-Autoren Ralf Schuler und Paul Ronzheimer, der in diesem Jahr den Herbert-Quandt-Medien-Preis für herausragenden Wirtschaftsjournalismus erhält, lassen in ihrem Bericht offen, ob zukünftige Hilfspakete für Griechenland von einem Demonstrationsverbot abhängig gemacht werden sollten oder das griechische Volk vielleicht kollektiv verpflichtet werden könnte, seine Dankbarkeit für drastische Sparmaßnahmen angemessen auszudrücken.

Unerwähnt lassen sie auch, dass es nicht einmal einen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Foto und den jüngsten Beschlüssen der EU gibt, Griechenland weiter zu unterstützen: Das Bild entstand bereits vor einer Woche, am 30. Mai.

Besonders verblüffend ist aber diese Stelle im “Bild”-Text:

Unter einem Hakenkreuz-Plakat stand: “Die EU ist die Krönung aus UdSSR-Zentralismus und Glühbirnen-Faschismus”.

Nein. Das steht nicht unter dem Hakenkreuz-Plakat. Das steht unter einem Foto von dem Hakenkreuz-Plakat — in einem Hass- und Hetzblog namens “Politically Incorrect”, das sich vor allem dem Kampf gegen Moslems und alles vermeintlich Linke verschrieben hat.

Und nun kann man darüber streiten, was schlimmer ist: Dass “Bild”-Redakteure ihre Informationen über die Welt von einer solchen Seite beziehen. Oder dass sie zu blöd sind, sie wenigstens richtig abzuschreiben.

Mit Dank an Jens Sch., Christian, Webreporter, Dr. Nötigenfalls, Icke und Josef N.

Nachtrag, 7. Juni 2011. “Bild” hat den Online-Artikel korrigiert und bringt auch in der gedruckten Ausgabe “Berichtigung”, schafft es aber nicht, die traurige Wahrheit zuzugeben:

Berichtigung

BILD berichtete gestern, unter einem Demonstrations-Plakat in Athen habe der Satz gestanden: “Die EU ist die Krönung aus UdSSR-Zentralismus und Glühbirnen-Faschismus”. Nach neuen Erkenntnissen hat dies nicht auf dem Plakat gestanden.

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