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Bei der Union völlig legitim, bei Rot-Grün ein Skandal

Es ist der 27. September 2021, am Tag zuvor hat Deutschland gewählt. Die SPD mit Spitzenkandidat Olaf Scholz ist stärkste Kraft, die Union mit Kanzlerkandidat Armin Laschet muss starke Verluste hinnehmen und landet auf Platz 2. Klar ist: Will man keine Fortsetzung der Großen Koalition, muss es ein Dreierbündnis mit den Grünen und der FDP geben. Aber wer wird es anführen: die Sozialdemokraten in einer Ampelregierung? Oder CDU/CSU in einem Jamaika-Bündnis? Beide Varianten sind rechnerisch möglich.

Der “Bild”-Redaktion ist es an diesem Morgen nach der Wahl jedenfalls ganz wichtig, der eigenen Leserschaft zu erklären, dass es völlig in Ordnung ist, wenn ein Zweitplatzierter, in diesem Fall die Union, später die Regierung anführt; und der Erstplatzierte, die SPD, in die Opposition muss:

Screenshot Bild.de - Auch der Zweitplatzierte kann eine Regierung bilden - wie einst Helmut Schmidt

Fakt ist: Das Jamaika-Bündnis kommt wie die Ampel auf eine klare Mehrheit im Parlament – Union und FDP bevorzugen diese Koalition. Fakt ist auch: Kein Gesetz verbietet es dem Zweitplatzierten, sollte es so kommen, eine Regierung anzuführen. 1980 gewann die Union gegen die SPD. Am Ende saß trotzdem Helmut Schmidt und nicht Helmut Kohl im Kanzleramt. (…)

Die SPD wird den Regierungsauftrag für sich beanspruchen. Dennoch hat auch Laschet weiter Chancen auf das Kanzleramt.

Es ist der 9. Februar 2023, heute. In drei Tagen soll in Berlin die Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus stattfinden. Einer aktuellen INSA-Umfrage zufolge liegt die CDU klar vorn, die SPD auf Rang 2. Zusammen mit den Grünen und der Linkspartei könnten die Sozialdemokraten aber die derzeitige rot-grün-rote Koalition fortführen. Dazu könnten alle drei Parteien durchaus bereit sein. Die CDU müsste dann in die Opposition.

Der “Bild”-Redaktion ist es heute jedenfalls ganz wichtig, der eigenen Leserschaft zu erklären, dass es sich in diesem Fall um einen “Wahl-Klau” handeln würde:

Screenshot Bild.de - Am Sonntag wählt die Hauptstadt - Rot-Grün bereitet Wahl-Klau gegen die CDU vor
Ausriss Bild-Zeitung - Am Sonntag wählt die Hauptstadt - Rot-Grün bereitet Wahl-Klau gegen die CDU vor

Erst das Wahl-Debakel! Und jetzt auch noch Wahl-Klau? (…)

In Umfragen hat die CDU mit Kandidat Kai Wegner (50) bis zu 6 Punkte Vorsprung auf SPD und Grüne. Würde bedeuten: Die CDU hätte den Regierungsauftrag.

Doch SPD und Grüne wollen das offenbar verhindern. Man wolle auch bei Niederlage mit der Linkspartei (aktuell bei 12 Prozent) ein Bündnis schmieden – und weiterregieren, heißt es aus beiden Parteien. Es gebe zahlreiche Beispiele, “wo die Regierungsbildung über einen Zweitplatzierten stattfand”, so Grünen-Frontfrau Bettina Jarasch (54) zu BILD.

Im Klartext: Rot-Rot-Grün will der CDU den Sieg klauen!

Das zeigt nicht nur, dass die “Bild”-Redaktion ein demokratisches Fähnchen im Wind ist und sich ihre Überzeugungen je nach beteiligter Partei strickt. Es kann auch brandgefährlich sein, den Leuten mit einem Begriff wie “Wahl-Klau” einzuhämmern, dass ein völlig legitimer und üblicher demokratischer Vorgang mindestens etwas Anrüchiges, wenn nicht gar etwas Verbotenes hat.

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Ohne Loser, aber mit Werbung für die Wunderwaffe gegen Hautalterung

Wenn vier prominente Frauen sich treffen, offen über ihr Single-Dasein plaudern und von ihrer Männersuche erzählen, dürfte das für ein Boulevardmedium ein großes Geschenk sein. Selbstverständlich hat sich “Bild”-Chefreporterin Iris Rosendahl diese Geschichte nicht entgehen lassen:

Screenshot Bild.de - Ruland, Ahrens, Halmich und Bülter im Girls-Talk - Wir wollen keine Loser

Sie gehen zusammen auf Partys, fahren teils zusammen in den Urlaub und sind seit vielen Jahren miteinander befreundet: die Schauspielerinnen Tina Ruland und Mariella Ahrens, Ex-Boxweltmeisterin Regina Halmich und Moderatorin Tanja Bülter.

Und alle eint, dass sie aktuell Single sind. Sie lachen, tuscheln und rechnen, als BILD am SONNTAG die vier darauf anspricht. Dann steht das Ergebnis fest. “Zusammen sind wir 15 Jahre Single”, sagt Tina Ruland.

Vorab musste natürlich noch die Frage geklärt werden, wo das Lach-und-Tuscheltreffen stattfinden könnte. Aber auch dafür gab es eine Lösung:

Zusammen machte das Berliner Freundinnen-Quartett einen Ausflug nach Werder (Havel, Brandenburg) (…) Dort traf BamS die Vier zum exklusiven Interview.

Praktisch.

Ohne unsere Auslassung lautet die Passage im Bild.de-Artikel übrigens so:

Zusammen machte das Berliner Freundinnen-Quartett einen Ausflug nach Werder (Havel, Brandenburg), testete dort ein neuartiges Anti-Aging-Lasersystem PicoSure Pro (eins von drei in Deutschland!) in der Privatpraxis von Dr. med Jasmin Last. Hollywood schwört bereits auf die Wunderwaffe im Kampf gegen die Hautalterung.

Dort traf BamS die Vier zum exklusiven Interview.

Im gesamten Beitrag gibt es keine einzige inhaltliche Verbindung zum “neuartigen Anti-Aging-Lasersystem”, keine zu der Privatpraxis, zum Thema Hautalterung oder zur “Wunderwaffe im Kampf” dagegen. Zu Hollywood gäbe es die Verknüpfung, dass mit Tina Ruland und Mariella Ahrens zwei Schauspielerinnen in der Runde dabei sind, und in Hollywood auch geschauspielert wird. Das wäre es dann aber auch. Es gibt nur diese zwei Absätze, die so überraschend und brachial daherkommen, dass man wohl nicht mehr von Schleichwerbung, sondern von Trampelwerbung sprechen müsste. Dazu noch ein Foto der vier Freundinnen und der Ärztin, die lächelnd um das “eins-von-drei-in-Deutschland-!”-Lasersystem stehen, von der “Bild”-Chefreporterin eigenhändig aufgenommen:

Screenshot Bild.de - Foto von Ruland, Ahrens, Halmich und Bülter neben der Ärztin und der  mit der Bildunterschrift - Die Freundinnen testeten das Anti-Aging-Lasersystem PicoSure Pro bei Dr. med. Jasmin Last (35, ganz links). Die Ärztin für Ästhetische Medizin zu BamS: Wer mit seinem eigenen Gesicht verzögert und natürlich älter werden möchte, ist bei mir richtig. Der Laser hilft bei der Hautverjüngung, Narben und Pigmentreduzierung.

Nach dem eingeschobenen, nicht gekennzeichneten Werbeblock für die Praxis geht es zusammenhangslos wieder um die Partnersuche der vier Promi-Frauen:

(…) Hollywood schwört bereits auf die Wunderwaffe im Kampf gegen die Hautalterung.

Dort traf BamS die Vier zum exklusiven Interview.

Gegen einen neuen festen Partner hätten aber alle vier nichts einzuwenden. Doch der muss auch ins Profil passen.

Und so weiter.

In der gedruckten “Bild am Sonntag” ist der Artikel ohne die Passage zu “PicoSure Pro” und das Foto erschienen. Dort geht es nur um die vier Freundinnen und ihr Single-Leben.

Mit Dank an Bastian für den Hinweis!

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“KEIN FOTOCREDIT!”

Im nordrhein-westfälischen Ibbenbüren wurde vor zwei Wochen eine Lehrerin an einer Berufsschule mit mehreren Messerstichen getötet. Als tatverdächtig gilt ein Schüler, der selbst die Polizei gerufen hat, bislang aber zur Tat schweigen soll.

In den “Bild”-Medien kann man seitdem beobachten, wie rücksichtslos sich eine Redaktion mit ihrer Berichterstattung allen gegenüber verhalten kann – dem Opfer und dessen Familie, den Schülerinnen und Schülern, den Gästen beim Trauergottesdienst.

Bereits zwei Tage nach der Tat zeigte Bild.de in einem Artikel (auf jegliche Verlinkungen verzichten wir bewusst) ein Foto des Opfers und eines des Tatverdächtigen. Das Bild der Lehrerin sieht so aus, als hätte der “Bild”-Fotograf ein öffentlich zugängliches Gruppenportrait abfotografiert. “Bild” zeigt die Frau ohne jegliche Unkenntlichmachung.

Genauso den Tatverdächtigen. Den scheint derselbe Fotograf aus größerer Entfernung aufgenommen zu haben. Der 17-Jährige trägt auf dem Bild zwar einen Mundschutz, auf eine Verpixelung oder einen Augenbalken hat die “Bild”-Redaktion allerdings verzichtet. Der Minderjährige ist eindeutig zu erkennen.

Offenbar haben “Bild”-Reporter auch die Schülerinnen und Schüler der Berufsschule in Ibbenbüren behelligt. Im Artikel zitieren sie eine “Schülerin” mit einer Aussage “zu BILD” und einen “Jugendlichen” mit einer Aussage “zu BILD”. Dass sich auch diese teils minderjährigen Personen in einem Ausnahmezustand befinden dürften, wissen die “Bild”-Reporter. In einem früheren Artikel zum selben Fall schrieben sie:

Ein Sprecher der Bezirksregierung in Münster am Mittwoch: “Der Unterricht ist abgesagt, aber die Schule bleibt geöffnet.” Damit sei gewährleistet, dass die Schüler eine Anlaufstelle haben.

Ein Krisen-Interventions-Team, Schulpsychologen und Notfallseelsorger seien vor Ort

Am vergangenen Freitag fand in einer Kirche in Ibbenbüren die Trauerfeier für die getötete Lehrerin statt. Auch darüber berichtete “Bild”:

Obwohl die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt war, behielt die Trauerfeier einen sehr stillen und privater Charakter.

So “still” und “privat” wie eine Trauerfeier eben sein kann, wenn vor der Tür ein “Bild”-Fotograf lauert und Fotos von den Trauernden macht. Drei Fotos sind im Bild.de-Artikel eingebettet. Zwei davon – eine Nahaufnahme des Autos, mit dem der Sarg der Lehrerin zur Kirche gebracht wurde, und eine Nahaufnahme von trauernden Menschen (immerhin mit verpixelten Gesichtern), die sich in den Armen liegen – hat die “Bild”-Redaktion, vermutlich aus Versehen, mit einem verräterischen Fotocredit versehen:

Screenshot Bild.de - Bildunterschrift des einen Fotos - Am frühen Nachmittag erreicht der Sarg der Lehrerin die Christus-Kirche in Ibbenbüren - dazu der Fotocredit Foto: KEIN FOTOCREDIT!
Screenshot Bild.de - Bildunterschrift des zweiten Fotos - Die Trauernden spenden sich gegenseitig Trost - dazu der Fotocredit Foto: KEIN FOTOCREDIT!

Offenbar war auch den “Bild”-Leuten klar, dass niemand namentlich mit der fotografischen Belästigung von Trauergästen in Zusammenhang gebracht werden möchte.

Mit Dank an Tihomir für den Hinweis!

“Regierung-verschenkt”-Schlagzeile ist “Bild” nicht zu billig

Die Stromproduzenten in Deutschland haben 2022 laut “Bild” 62,05 Terawattstunden Strom ins Ausland exportiert, also etwas mehr als 62 Milliarden Kilowattstunden. Sie sollen dafür rund 12,5 Milliarden Euro bekommen haben. Das entspricht einem durchschnittlichen Preis pro Kilowattstunde von etwa 20 Cent.

Es muss allerdings auch immer mal wieder Strom nach Deutschland importiert werden. Laut “Bild” waren das im vergangenen Jahr 35,77 Terawattstunden. Der importierte Strom kostete im Schnitt pro Kilowattstunde circa 27 Cent.

Wer den exportierten Strom weder produziert noch gehandelt hat: die Regierung.
Was der exportierten Strom nicht wurde: verschenkt.

Und jetzt kann die “Bild”-Redaktion aus all diesen Informationen mal eine Schlagzeile für die Bild.de-Startseite basteln:

Screenshot Bild.de - Regierung verschenkt Energie ins Ausland - und wir zahlen drauf! Der große Strom-Skandal - Dazu zu sehen ein Foto von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck

Das stimmt so einfach nicht.

Auch mit dem Halbsatz “und wir zahlen drauf!” empört sich die “Bild”-Redaktion in ihrer Überschrift maximal missverständlich. Was sie zu meinen scheint, ist die Differenz zwischen den Preisen für importierten und exportierten Strom. Darauf kommt man aber auch nur, wenn man mit einem “Bild-plus”-Abo hinter die Bezahlschranke gucken kann. Für alle anderen dürfte es so klingen, als hätten “wir” dem “Ausland” nicht nur Energie “geschenkt”, sondern als hätten “wir” dafür auch noch irgendetwas zusätzlich zahlen müssen.

Ebenfalls nur mit “Bild-plus”-Abo erfährt man den Hauptgrund für den massiven Stromexport aus Deutschland in andere Länder:

Wir verkaufen Strom vor allem, weil wir es müssen! Denn: Es gibt nicht genügend Speicher und Leitungen für den Strom-Transport vom windreichen Norden in den Süden – und so wird er ins Ausland verscherbelt. (…)

Wenn erneuerbare Energieträger an wind- und sonnenreichen Tagen voll ausgelastet sind, ist Strom sehr billig. Wegen fehlender Infrastruktur kann der Strom an solchen tagen trotzdem nicht ausreichend in den Süden fließen.

Die Ursache liegt also nicht in einem altruistisch gesinnten Robert Habeck, der die Nachbarn kostenlos mit Energie versorgen will, sondern in mangelnden Speicherkapazitäten und fehlenden Nord-Süd-Leitungen innerhalb Deutschlands.

Inzwischen hat die “Bild”-Redaktion die Überschrift leicht angepasst. Aus “verschenkt” wurde “verscherbelt” …

Screenshot Bild.de - Regierung verscherbelt Energie ins Ausland - und wir zahlen drauf! Der große Strom-Skandal

… den Rest hat sie so gelassen.

Gesehen bei @MKreutzfeldt

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Bild  

“In einem YouTube-Talk”

Eigentlich schätzen die “Bild”-Medien Gloria von Thurn und Taxis sehr. Sie wird beispielsweise in die “Bild-TV”-Talkrunde “Viertel nach Acht” eingeladen und sorgt dort mit der Frage, ob “Deutschlands Abstieg politisch gewollt” ist, für Wirbel. Sie darf der “Bild”-Leser- und Zuschauerschaft erklären, dass Ex-Papst Benedikt XVI. “ein sehr liebevoller und schüchterner Mann” sei. Und kommt jemand von “Bild am Sonntag” zum 60. Geburtstag vorbei, dann bietet Gloria von Thurn und Taxis bei der “Schloss-Tour” eine Show als Putzkraft. Es ist eine gut funktionierende Symbiose.

Aber heute:

Ausriss Bild-Titelseite - Verlierer - Mit einem wirren Stasi-Vergleich schockt Fürstin Gloria von Thurn und Taxis. In einem YouTube-Talk ging es unter anderem um Deutschlands neue Lust am Polizeistaat. Die Fürstin über die DDR: Die haben zwar auch ein bisschen mitgehört, aber die waren wesentlich toleranter. BILD meint: Setzen, sechs.

Es ist allein schon bemerkenswert, dass “Bild”-Textchef Alexander von Schönburg aushalten muss, dass sein Arbeitgeber seine eigene Schwester aufgrund eines “wirren Stasi-Vergleichs” auf der Titelseite zur Verliererin des Tages erklärt. Aber dann ist da ja noch dieser ominöse “YouTube-Talk”, bei dem das alles passiert ist, und dessen Namen die “Bild”-Redaktion nicht nennen will. Wo kann man denn bitte derart hanebüchenen Unsinn erzählen? Wer lässt so eine DDR-Verklärung unwidersprochen zu? Müsste ein ernstzunehmender Moderator da nicht einschreiten? Und warum nennt “Bild” den Namen des Formats nicht, in dem Gloria von Thurn und Taxis derart geschwafelt hat?

Nun …

Screenshot des Youtube-Formats Achtung Reichelt - zu sehen sind der ehemalige Bild-Chefredakteur und heutige Moderator der Sendung Julian Reichelt und dessen Talk-Gästin Gloria von Thurn und Taxis - dazu die Bauchbinde Gloria von Thurn und Taxis - Die neue Lust am Polizeistaat
(Auf einen Link verzichten wir bewusst.)

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Wie die Blackout-Gefahr einmal durch den Springer-Kosmos gereicht wird

Bis vergangenen Mittwoch, also bis die “Bild”-Redaktion sich einschaltete, war es eine Geschichte von einem Behördenchef, der merkwürdig unsachkundige Dinge sagt, und den “Welt”-Medien, die daraus klick- und verkaufsträchtige Überschriften basteln. Dann kam eben “Bild” dazu und verdrehte das Ganze zu einem möglichen Polit-Vertuschungsskandal.

Angefangen hat es alles mit einem Interview in der “Welt am Sonntag”. Auf die Frage “Rechnen Sie angesichts der Energieknappheit mit Blackouts?” antwortete Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK):

Wir müssen davon ausgehen, dass es im Winter Blackouts geben wird. Damit meine ich eine regional und zeitlich begrenzte Unterbrechung der Stromversorgung. Wobei die Ursache nicht nur Energieknappheit sein wird, sondern auch das gezielte, zeitweise Abschalten der Netze durch die Betreiber, mit dem Ziel, die Netze zu schützen und die Gesamtversorgung nicht zu gefährden.

Das Risiko dafür steigt ab Januar und Februar, sodass wir davon ausgehen, dass es von da an stellenweise für eine gewisse Zeit zu Unterbrechungen der Stromversorgung kommt.

Das ist eine bemerkenswerte Aussage, weil sie a) vom “obersten Katastrophenschützer” des Landes kommt und b) dessen Verständnis von einem Blackout ziemlich genau das Gegenteil der Blackout-Definition einer anderen Bundesoberbehörde, der Bundesnetzagentur, darstellt. Die Bundesnetzagentur, die für die Energieinfrastruktur in Deutschland zuständig ist, versteht unter einem Blackout:

ein unkontrolliertes und unvorhergesehenes Versagen von Netzelementen. Das führt dazu, dass größere Teile des europäischen Verbundnetzes oder das gesamte Netz ausfallen (sogenannter Schwarzfall). Ein solches Ereignis könnte beispielsweise auftreten, wenn in einer angespannten Last- und Erzeugungssituation zusätzlich schwere Fehler an neuralgischen Stellen des Übertragungsnetzes auftreten. Ein Blackout ist also grundsätzlich kein durch eine Unterversorgung mit Energie ausgelöstes Ereignis, sondern bedingt durch Störungen im Netzbetrieb.

Das, was Ralph Tiesler im “WamS”-Interview beschreibt – ein regional und zeitlich begrenztes, mitunter gezieltes Abschalten der Netze, um diese zu schützen -, klingt hingegen nach einem Brownout. Auch dafür hat die Bundesnetzagentur eine Definition:

Demgegenüber steht der sogenannte (kontrollierte) Brownout. Dieser kann notwendig werden, wenn im Vergleich zur nachgefragten Menge zu wenig Strom produziert werden kann, z.B. aufgrund eines Brennstoffmangels für Kraftwerke oder einer allgemein zu geringen Erzeugung, beispielsweise auch durch Nichtverfügbarkeiten von Erzeugungsanlagen. In diesem Fall ist es notwendig, die Nachfrage soweit zu reduzieren, dass das Angebot die Nachfrage wieder vollständig decken kann. Nur so kann die Versorgung mit Strom weiterhin stabil und zuverlässig gewährleistet werden.

Tiesler scheint das eigentlich auch zu wissen. Gleich eine Antwort später sagt er:

Wie gesagt, wir rechnen eher mit kurzfristigen, sogenannten Brownouts als mit lang anhaltenden, großflächigen Blackouts. Gute Vorbereitung ist aber auch dafür wichtig.

Er liefert also im gleichen Interview die Auflösung zur Verwirrung, die er eine Antwort zuvor selbst gestiftet hat.

Wie kann eine Redaktion mit diesem Durcheinander nun umgehen? Sie könnte im Interview schon nach der ersten Antwort widersprechen und sowas sagen wie: “Moment, Herr Tiesler, Sie meinen doch gar keinen Blackout, sondern einen Brownout, oder?” Oder sie erklärt der Leserschaft nachträglich in einem Zusatztext, dass Tieslers Aussage “Wir müssen davon ausgehen, dass es im Winter Blackouts geben wird” mit der darauffolgenden “Damit-meine-ich”-Definition nicht zusammenpasst. Oder sie macht es so, wie die “Welt”-Medien es machen, isoliert und überbetont Tieslers Warnung vor einem eher unwahrscheinlichen Blackout und steigert damit bei einer ohnehin schon verunsicherten Bevölkerung die Verunsicherung:

Ausriss Welt am Sonntag - Katastrophenschutz erwartet Strom-Blackouts im Winter
Screenshot Welt.de - Oberster Katastrophenschützer - Müssen davon ausgehen, dass es im Winter Blackouts geben wird

Mit der ersten Schlagzeile auf der Titelseite lag die “Welt am Sonntag” in ganz Deutschland an Kiosken, Tankstellen und in Bäckereien. Die zweite Schlagzeile schaffte es auf die Welt.de-Startseite. Die große Blackout-Winter-Warnung konnte also von vielen gesehen werden, das dazugehörige Interview mit all den Brownout-Einschränkungen in Ralph Tieslers Antworten konnte hingegen nur jener Bruchteil mit einem “Welt-plus”-Abo lesen.

Bereits an dem Sonntag schaltete sich auch Tieslers Behörde ein. Bei Twitter erklärte sie in einer “Klarstellung des BBK”:

Ein großflächiger Stromausfall in Deutschland ist äußerst unwahrscheinlich. Das elektrische Energieversorgungssystem ist mehrfach redundant ausgelegt und verfügt über zahlreiche Sicherungsmechanismen, um das Stromnetz bei Störungen zu stabilisieren.

Ebenso wird die Wahrscheinlichkeit als gering angesehen, dass es regional und zeitlich begrenzt zu erzwungenen Abschaltungen kommt, um die Gesamtversorgung weiter sicherzustellen.

Auf ein solches Szenario hatte sich BBK-Präsident Ralph Tiesler in seinem Interview mit der “Welt am Sonntag” bezogen, um die grundsätzliche Bedeutung von Vorsorgemaßnahmen hervorzuheben.

Die missverständliche Formulierung bedauert das BBK und stellt diese hiermit klar.

Das rief die “Bild”-Redaktion auf den Plan:

Screenshot Bild.de - Rückzieher vom Katastrophenschutz - Will Faeser die Blackout-Warnung vertuschen?

Die “Bild”-Autoren Johannes C. Bockenheimer und Nikolaus Harbusch schreiben:

Versucht das Innenministerium, die Energiekrise zu beschönigen?

Innenpolitiker diskutieren, warum eine Behörde des Ministeriums von Nancy Faeser (52, SPD) Warnungen vor Stromausfällen im Winter kurz darauf zurücknahm. (…)

War Faeser beziehungsweise ihren Beamten die Stromausfall-Warnung des BBK-Chefs also zu heikel?

Bockenheimer und Harbusch geben sich große Mühe, der eigenen Leserschaft möglichst wenig zu dem Fall zu erklären. Sie lassen all das, was gegen ihre Vertuschungsthese spricht, großzügig weg. Im “Bild”-Text erfährt man weder, dass Tiesler im “WamS”-Interview mit einer alternativen Blackout-Definition arbeitet, noch, dass er eine Antwort später seine Aussage selbst relativiert und von Brownouts spricht.

Das “Bild”-Duo könnte ganz einfach erzählen, “warum eine Behörde des Ministeriums von Nancy Faeser (52, SPD) Warnungen vor Stromausfällen im Winter kurz darauf zurücknahm.” Man muss davon ausgehen können, dass sie als Springer-Mitarbeiter Zugang zu “Welt-plus”-Artikeln oder zur “Welt am Sonntag” haben. Im Interview mit Ralph Tiesler hätten sie die Antwort gefunden. Sie hätten es auch in einem Tweet von Malte Kreutzfeldt nachlesen können oder in einem Text vom “Volksverpetzer”. Dort steht überall, dass Tiesler eine erfundene Blackout-Definition verwendet hat, was die “Klarstellung” des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe erklärt. Und das wiederum ist auch die Antwort auf die Frage aus den Überschriften von “Bild” und Bild.de, ob Nancy “Faeser die Blackout-Warnung vertuschen” will: Es geht schlicht um die Richtigstellung einer verhunzten Interviewaussage. Johannes C. Bockenheimer, Nikolaus Harbusch und die “Bild”-Redaktion können das alles nicht nicht gewusst haben.

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“Bild” und “die unwahrscheinliche dritte Möglichkeit”

Die russische Armee hat Polen bombardiert!

So beginnt der Kommentar von “Bild”-Chefredakteur Johannes Boie, den man heute in der gedruckten “Bild” lesen kann und der bereits gestern Abend bei Bild.de erschienen ist. Überschrieben ist er mit “Putin spielt mit dem Weltkrieg”:

Ausriss Bild-Zeitung - Kommentar - Putin spielt mit dem Weltkrieg - von Johannes Boie

Auch die heutige “Bild”-Titelseite lässt wenig Zweifel am Ursprung der Rakete (oder Raketen), die gestern im polnischen Dorf Przewodów eingeschlagen ist und zwei Menschen getötet haben soll:

Ausriss Bild-Titelseite - Nach amerikanischen Angaben - Zwei Tote - Putin feuert Raketen nach Polen - Nationaler Sicherheitsrat einberufen

Genauso deutlich auf Seite 2:

Ausriss Bild-Zeitung - Gezielter Angriff oder verirrte Geschosse? Polen in höchster Alarmbereitschaft - Putin-Raketen auf Nato-Gebiet

Und bei Bild.de hieß es schon gestern Abend eindeutig:

Screenshot Bild.de - Nationaler Sicherheitsrat einberufen - Zwei Tote! Russen-Raketen in Polen eingeschlagen

Heute berichtet Bild.de:

Screenshot Bild.de - Nach Explosion in Polen - Hinweise auf ukrainische Flugabwehrrakete

Denn so klar, wie die “Bild”-Medien es erscheinen ließen, war die Lage gestern Abend nicht. Inzwischen sollen die USA davon ausgehen, dass die Rakete nicht von Russland aus gestartet wurde, sondern dass es sich um eine Flugabwehrrakete handelt, die ukrainische Soldaten abgefeuert haben. Gestern wurde die Ukraine erneut heftig von Russland mit Raketen beschossen. US-Präsident Joe Biden antwortete auf die Frage, ob es zu früh sei, um sagen zu können, ob die Rakete von Russland abgefeuert wurde, dass es vorläufige Informationen gebe, die dagegensprächen. In Anbetracht der Flugbahn der Rakete sei es unwahrscheinlich, dass sie von Russland abgefeuert wurde, so Biden. Der polnische Präsident Andrzej Duda sagte, es gebe keine Beweise dafür, dass die Rakete von Russland abgefeuert wurde. “Höchstwahrscheinlich” stamme sie von der ukrainischen Luftabwehr, so Duda, “absolut nichts deutet darauf hin, dass dies ein absichtlicher Angriff auf Polen war”. Und auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte heute in einer Pressekonferenz, dass die bisherigen Untersuchungen darauf hinweisen, dass es sich um eine Flugabwehrrakete der Ukraine gehandelt hat.

“Bild” und Johannes Boie meinten hingegen, mehr zu wissen.

Auf der heutigen Titelseite hat die Redaktion über ihrer riesigen Überschrift zwar noch klein “NACH AMERIKANISCHEN ANGABEN” geschrieben. Aber das ist ein etwas merkwürdiger Versuch, die Tatsachenbehauptung jemand anderem zuzuschreiben. Es gab durchaus eine Meldung der Nachrichtenagentur AP, in der ein um Anonymität bittender “U.S. official” von russischen Raketen spricht, die nach Polen geflogen seien. Es gab gestern Abend aber auch eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters, in der ein namentlich genannter Sprecher des Pentagon sagt, dass man bislang keine Informationen habe, mit denen man Medienberichte bestätigen könnte, dass es sich um Raketen Russlands handelt.

Einen Hinweis auf “die Nachrichtenagentur AP mit Berufung auf einen US-Geheimdienstbeamten” hat auch Chefredakteur Johannes Boie bei Bild.de noch nachträglich in seinen Kommentar geschrieben. Und nicht nur das. In der Ursprungsversion, die heute auch in der “Bild”-Zeitung zu lesen ist, legt Boie sich fest, dass es sich um “einen bewaffneten Angriff auf Nato-Territorium” handelt, erörtert die politischen Folgen, sollte es sich dabei um ein Versehen Russlands handeln, und schreibt anschließend:

Oder Putin hat die Nato mit Absicht angegriffen. Dann muss das Militärbündnis hart zurückschlagen. Denn die Nato kann ihr Territorium nicht einfach bombardieren lassen, ihre Bürger nicht im russischen Bombenhagel sterben lassen. Putin reagiert nur auf Gewalt.

Der irre Tyrann bringt uns immer näher an einen dritten Weltkrieg.

Inzwischen findet man bei Bild.de an dieser Stelle einen weiteren Absatz. Die Passage lautete nun:

Oder Putin hat die Nato mit Absicht angegriffen. Dann muss das Militärbündnis hart zurückschlagen. Denn die Nato kann ihr Territorium nicht einfach bombardieren lassen, ihre Bürger nicht im russischen Bombenhagel sterben lassen. Putin reagiert nur auf Gewalt.

Sollte die unwahrscheinliche dritte Möglichkeit zutreffen, dass die Explosion die Folge der ukrainischen Flugabwehr war, dann sind – tatsächlich – auch die Russen schuld. Denn sie spielen an der Nato-Grenze mit dem Feuer.

Der irre Tyrann bringt uns immer näher an einen dritten Weltkrieg.

In üblicher “Bild”-Manier fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass an dem Text nachträglich etwas verändert wurde.

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Bild.de lässt mögliche Täter-Uhr stehen bleiben

In der Nacht auf den 3. Oktober ist im bayerischen Hohenaschau eine 23-jährige Frau getötet worden. Etwa um 2:30 Uhr soll sie einen Club verlassen und sich auf den Heimweg gemacht haben. Bereits kurz darauf, spätestens um 3 Uhr, soll es zu dem Verbrechen gekommen sein. Die Polizei sucht noch nach Tatverdächtigen und setzt dabei auch auf eine Armbanduhr: Die Beamten fanden ein markantes, überwiegend aus Holz gefertigtes Modell am mutmaßlichen Tatort, das Armband aufgerissen. Ganz in der Nähe lag auch ein Ring, den das Opfer am Abend noch getragen hatte. Ob die Uhr mit der Tat in Verbindung steht, ist nicht klar. Die Polizei sucht aber nach dem Besitzer.

Am Mittwoch waren Fall und Uhr auch Thema in der ZDF-Sendung “Aktenzeichen XY… Ungelöst”. Hans-Peter Butz, Leiter der eingesetzten Sonderkommission, war zu Gast im Studio.

Und dann konnte Bild.de gestern auch noch berichten:

Screenshot Bild.de - Mordfall Hanna bei Aktenzeichen XY ungelöst - Um 2:39 Uhr blieb diese Uhr stehen - Sie wurde in der Nähe des Tatorts gefunden
(Unkenntlichmachung durch uns.)

“Bild”-Reporter Jörg Völkerling schreibt:

Butz im Gespräch mit XY-Moderator Rudi Cerne: “Es ist möglich, dass die Uhr beim Kampf mit dem Täter abgerissen wurde.” Auffällig: Die Zeiger blieben bei 2.39 Uhr stehen!

Das lässt den Zusammenhang von Uhr und Tat noch klarer erscheinen: Die Tatzeit liegt zwischen 2:30 Uhr und 3 Uhr, die Zeiger der gefundenen Armbanduhr sollen laut Bild.de um 2:39 Uhr stehen geblieben sein – Treffer!

Das Problem dabei: Die Uhr ist, anders als von Völkerling behauptet, gar nicht stehen geblieben. Schon in der ZDF-Sendung konnte man auf zwei verschiedenen, eingeblendeten Fotos erkennen, dass sich der Sekundenzeiger zwischen beiden Aufnahmen bewegt hat:

Screenshot Aktenzeichen XY ungelöst - Zu sehen sind zwei verschiedene Fotos der Uhr, auf denen der Sekundenzeiger unterschiedliche Stellungen hat

Auf Nachfrage bestätigte uns ein Sprecher des zuständigen Polizeipräsidiums Oberbayern Süd:

Die Stellung der Zeiger der Uhr spielt, wie wir bereits bei Veröffentlichung der Fotos erwähnt haben, keine Rolle. Die Uhr war zum Zeitpunkt des Fundes funktionstüchtig, lief also. Das Foto entstand am Tag nach dem Fund der Uhr, zufällig zu einer Zeit, die mit der – von Medienvertretern vermuteten – Tatzeit übereinstimmen könnte.

(Hervorhebungen im Original.)

Oder anders gesagt: Die “Bild”-Redaktion stiftet bei einen Verbrechen, bei dem sowieso noch vieles geklärt werden muss, zusätzliche Verwirrung.

Mit Dank an Stefan für den Hinweis!

“Bild” packt auch die Bundespolizei-Zahlen auf den Tisch, die laut Bundespolizei gar nicht von der Bundespolizei stammen

“Alle Zahlen auf den Tisch!”, forderte gestern “Bild”-Autor Frank Schneider in seinem Kommentar. Es geht ihm um die Zahlen der illegalen Einreisen nach Deutschland, und Schneider meint, dass das Bundesinnenministerium und Ministerin Nancy Faeser versuchen, “Zahlen zu schönen, zu verschleiern. Oder kleinzurechnen.”

Ja, “alle Zahlen auf den Tisch” ist tatsächlich eine gute Idee im Sinne der Transparenz und Aufklärung, wenn man vorher nicht Statistiken durcheinander mischt, die nicht vergleichbar sind, unergründliche Zahlen dazwischenwirft und das fehlerhafte Ergebnis dann der eigenen Leserschaft als potenziellen Skandal verkauft:

Ausriss Bild-Titelseite - Rund 40000 illegale Einreisende weggeschummelt? Frau Faeser, erklären Sie uns das bitte mal!
Ausriss Bild-Zeitung - Statistik der Ministerin weist zehntausende Migranten zu wenig aus - Schummelt Faeser sich die Flüchtlings-Zahlen schön?

Das ist die “Bild”-Berichterstattung, die gestern neben Schneiders Kommentar erschienen ist. Zusammen mit Zara Riffler und Peter Tiede schreibt Schneider:

Die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, rast seit Monaten rauf! […]

Doch die zuständige Innenministerin ignoriert die hohen Zahlen der Bundespolizei offenbar. BILD erfuhr: Nancy Faeser (52, SPD) weist intern viel weniger aufgegriffene illegal-eingereiste Migranten aus.

► Laut “Migrationsanalyse-Bericht” ihres Ressorts wurden im September 12 701 illegal Eingereiste von Bundespolizisten aufgegriffen. Die Bundespolizei hat dagegen andere Zahlen: 20 000. […]

Fest steht: Seit Januar sind laut Faeser-Statistik insgesamt rund 57 000 Migranten eingereist. Laut Bundespolizei gut 100 000. Beim zuständigen Flüchtlingsamt BAMF stellten bis Ende September offiziell sogar 154 557 Personen einen Asylantrag.

Es handelt sich also um drei verschiedene Statistiken, die “Bild” nennt: Da wäre einmal eine aus Nancy Faesers Innenministerium, eine, die von der Bundespolizei stammen soll, und eine vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). “Bild” verrührt alle zu einem schnaubenden Aufreger.

Am ehesten passen noch die Statistiken zusammen, die “Bild” dem Innenministerium und der Bundespolizei zuschreibt. In beiden soll es um von der Bundespolizei aufgegriffene illegal Eingereiste gehen. Schneider, Riffler und Tiede nehmen sich schlicht die eine und die andere Zahl und rechnen sie gegeneinander auf: Statistik der Bundespolizei (“gut 100 000”) minus Statistik des Innenministeriums (“57 000”) gleich “Bild”-Schlagzeile (“Rund 40 000 illegale Einreisende weggeschummelt?”).

Das Problem dabei: Die Zahlen, die “Bild” der Bundespolizei zuschreibt, sollen nicht von der Bundespolizei stammen. Eine Sprecherin des Innenministeriums, dem die Bundespolizei untergeordnet ist, teilte uns gestern auf Nachfrage mit:

Die heute von der BILD-Zeitung genannten Zahlen, welche dort der Bundespolizei zugeordnet werden, stammen nicht von der Bundespolizei und sind nicht nachvollziehbar. Wir können diese Zahlen ausdrücklich nicht bestätigen.

57.647 sei die korrekte von der Bundespolizei festgestellte Gesamtzahl unerlaubter Einreisen von Januar bis einschließlich September 2022, so die Sprecherin.

Die Bundespolizei sah sich gestern genötigt, eine Pressemitteilung mit der Überschrift “Unerlaubte Einreisen – Bundespolizei ordnet öffentlich kursierende Zahlenangaben ein” zu veröffentlichten. Auch sie nennt 57.647 illegale Einreisen von Januar bis September 2022 (beziehungsweise 71.011, wenn man die gerade veröffentlichte, aber noch nicht qualitätsgesicherte Zahl aus dem Oktober dieses Jahres hinzunimmt). Bundespolizeipräsident Dieter Romann sagt in der Mitteilung mit Blick auf die Arbeit der Beamtinnen und Beamten:

Nicht dienlich ist dabei, die Lauterkeit und Transparenz ihrer Arbeit in Zweifel zu ziehen. Auch die Zahlentransparenz bleibt selbstverständlich unverändert bestehen.

Nur, um das noch einmal zu verdeutlichen: “Die hohen Zahlen der Bundespolizei”, die Innenministerin Nancy Faeser laut “Bild”-Artikel “offenbar” ignoriere und die sie laut “Bild”-Kommentator Frank Schneider schöne, verschleiere oder kleinrechne, stammen laut Bundespolizei gar nicht von der Bundpolizei.

Aber woher dann? Woher haben Schneider, Riffler und Tiede die Zahlen? Unsere Anfrage dazu beim “Bild”-Sprecher blieb bislang unbeantwortet.*

Was im Zusammenhang mit den Zahlen zu illegal Eingereisten übrigens nicht unwesentlich ist: 1. Menschen können illegal nach Deutschland einreisen, von der Polizei aufgegriffen werden und damit in die Statistik eingehen, ohne die Absicht zu haben, einen Asylantrag zu stellen. 2. Kann es zu einer Mehrfachersfassung derselben illegal eingereisten Person kommen, weil die entsprechende Polizei-Statistik keine personenbezogenen Daten umfasst. Aber das nur nebenbei.

Es gibt dann ja noch eine weitere Statistik, die der “Bild”-Artikel ins Verwirrspiel bringt:

Beim zuständigen Flüchtlingsamt BAMF stellten bis Ende September offiziell sogar 154 557 Personen einen Asylantrag.

Diese Zahl ist im Zusammenhang mit der illegalen Einreise nach Deutschland ziemlich ungeeignet. Zuallererst ist sie zu hoch, wenn es um Personen gehen soll, die dieses Jahr nach Deutschland gekommen sind: Bei den 154.557 Anträgen 2022 handelt es sich nämlich um Erst- und Folgeanträge. Nimmt man nur die Erstanträge in diesem Jahr (bis einschließlich September), sind es laut BAMF 134.908 (PDF). Was “Bild” darüber hinaus nicht erläutert: Auch Menschen, die legal nach Deutschland eingereist sind, können einen Asylantrag stellen und damit in der Statistik landen. Und: Bekommt eine Asylbewerberin in Deutschland ein Kind, landet auch dieses mit einem Asylantrag in der Statistik – ganz ohne legale oder illegale Einreise. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt dazu:

Reist ein minderjähriges lediges Kind nachträglich ins Bundesgebiet ein oder wird es nach der Asylantragstellung der Eltern hier geboren, haben die Eltern, von denen noch mindestens ein Elternteil im Asylverfahren ist, oder die Ausländerbehörde das Bundesamt von der Geburt zu informieren. Damit gilt der Asylantrag des Kindes ebenfalls als gestellt. […]

Ist der Antrag der Eltern bereits entschieden, wenn ihr Kind geboren wird oder nachträglich einreist, müssen sie für das Kind einen gesonderten Asylantrag stellen.

Das Durcheinanderwerfen von Statistiken, das Hinzuziehen von Zahlen, bei denen niemand weiß, woher sie stammen, das falsche Skandalisieren zeigt Wirkung. Gestern Nachmittag schrieb die AfD bei Twitter:

#Faeser rechnet sich die alarmierenden Zahlen der nach #Deutschland strömenden #Zuwanderer schön. So gibt ihr Ministerium viel geringere Zahlen an, als tatsächlich gezählt werden.

Die “Bild”-Redaktion hat mit ihrem Artikel offenbar die Zielgruppe erreicht.

*Nachtrag, 18:40 Uhr: Der “Bild”-Sprecher hat inzwischen auf unsere Anfrage, woher die Zahlen stammen, geantwortet:

Es handelt sich bei den von BILD genannten Vergleichszahlen um Daten der Bundespolizei. Diese hat BILD unter Beachtung des Quellenschutzes öffentlich gemacht. Diese beinhalten nicht nur die offiziell genannten Zahlen der Bundespolizeiinspektionen direkt an der Grenze, sondern auch die illegalen Migranten, die später in den Zügen und/oder im Inland aufgegriffen werden. Die offizielle Meldung der Bundespolizei wie auch die offiziellen Zahlen des BAMF bestätigen diese kleingerechnete Diskrepanz nur.

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Der Muezzin ruft zum Gebet, der “Bild”-Kolumnist zur Klage

Joachim Steinhöfel, Rechtsanwalt und “Bild”-Kolumnist, hat einen ganz großen Wunsch:

Screenshot Bild.de - Alahu Akbar in Köln - Eine Klage gegen den Muezzin-Ruf muss her - Eine Kolumne von Joachim Steinhöfel

Steinhöfel schreibt:

Seit etwa zwei Wochen kommt man in Köln-Ehrenfeld auch ungewollt in den Genuss ganz besonderer religiöser Unterweisung.

“Allahu Akbar” (Allah ist der Größte) schallt es jetzt regelmäßig aus den Lautsprechern der Zentralmoschee.

Tatsächlich läuft derzeit ein “zweijähriges Modellprojekt” der Stadt Köln: Der Adhān, also der Ruf des Muezzin zum Gebet, darf nun auch außerhalb der Moschee hörbar sein – einmal in der Woche, immer freitags zwischen 12 und 15 Uhr, maximal fünf Minuten lang. Momentan nutzt das nur die DİTİB-Zentralmoschee im Kölner Stadtteil Ehrenfeld, erstmals am 14. Oktober, ein zweites Mal am vergangenen Freitag.

Und genau dagegen solle laut Steinhöfel nun “ein betroffener Anwohner zügig vor Gericht gehen”:

Seine Klage hätte Aussicht auf Erfolg. Art. 4 des Grundgesetzes (GG) schützt nicht nur die Religionsfreiheit der Muslime, sondern auch die sogenannte negative Religionsfreiheit der Nicht-Muslime. Niemand darf gezwungen werden, gegen seinen Willen mit religiösen Bekundungen behelligt zu werden. Eine Rolle spielt auch Art. 14 GG, der das Eigentum garantiert.

Denn negative Auswirkungen auf die Immobilienpreise, wenn man sich akustisch nach Mekka versetzt fühlt, sind denkbar.

Ob das alles rechtlich wirklich stringent ist, sei mal dahingestellt. Interessanter ist eh, was Joachim Steinhöfel in seinem Text partout nicht erwähnt: Der Muezzin-Ruf der Kölner Zentralmoschee ist nicht besonders weit zu hören. Die Lautstärke ist vertraglich auf höchstens 60 Dezibel festgelegt, was in etwa einer normalen Unterhaltung mit einem Abstand von einem Meter entspricht.

Einige Redaktionen hatten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den zwei Freitagen, an denen der Muezzin-Ruf bisher zu hören war, zur Moschee in Ehrenfeld geschickt. Darunter auch der “Kölner Stadt-Anzeiger”, wo Redakteur Oliver Görtz berichtet (nur mit Abo lesbar), dass “auf dem Platz vor dem Haupteingang” der Moschee die Stimme des Muezzin “in Zimmerlautstärke vernehmbar” sei, an der Straße davor höre man “fast nichts”:

Eine schnelle Messung mit einer nicht geeichten Smartphone-App ergibt rund 70 Dezibel – inklusive Umgebungsgeräusche.

Auf dem Bürgersteig der Venloer Straße vor der Moschee misst die Smartphone-Anwendung schon bevor der Muezzin beginnt knapp 80 Dezibel. Während er ruft, ändert sich die Amplitude nicht. Jedes vorbeifahrende Auto übertönt den kaum hörbaren Muezzin.

Ähnliches berichtet Tom Hoops bei t-online.de. Er hat unter anderem mit einem Anwohner gesprochen:

Die Religionsfreiheit sei wichtig, doch die Moschee sei zugleich eine staatliche Institution des türkischen Präsidenten, was die Angelegenheit zu etwas Politischem machen würde. Er ergänzt schulterzuckend: “Ich wohne hier um die Ecke und habe letzte Woche nichts vom Ruf gehört. Meine Nachbarn auch nicht”. Deswegen sei er heute ganz nah herangekommen.

Und ein Polizist antwortet auf die Frage, “ob der Ruf lauter oder leiser war als erwartet”:

“Sagen wir mal so, wenn ich mich hier mit Ihnen etwas lauter unterhalte” – er richtet sich auf und erhebt leicht seine Stimme – “dann waren die Lautsprecher sogar etwas leiser”.

An wen richtet sich Joachim Steinhöfels Klage-Appell also? An vielleicht eine Handvoll Leute, die in der Umgebung der Moschee wohnen und die ein leises Stimmchen vernehmen können? An ein Dutzend Personen? Ist das inzwischen die Zielgruppengröße von “Bild”? Oder handelt es sich einfach nur um astreinen Populismus?

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