Autoren-Archiv

Die “Bild”-Redaktion hat vergessen, wie “SCHMUTZIG” sie berichtet hat

Warnung: In diesem Beitrag geht es um einen Suizid.

Solltest Du Suizid-Gedanken haben, dann gibt es Menschen, die Dir helfen können, aus dieser Krise herauszufinden. Eine erste schnelle und unkomplizierte Hilfe bekommst Du etwa bei der “TelefonSeelsorge”, die Du kostenlos per Mail, Chat oder Telefon (0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222) erreichen kannst.

***

Im aktuellen “Spiegel” ist eine große Geschichte über die letzten Tage im Leben von Kasia Lenhardt erschienen (online nur mit Abo lesbar). Die 25-Jährige nahm sich Anfang Februar dieses Jahres das Leben. Kasia Lenhardt war unter anderem durch eine Teilnahme in der TV-Show “Germany’s Next Topmodel” bekannt geworden. Im “Spiegel”-Text geht es auch um die Rolle ihres Ex-Freundes, Fußballprofi Jérôme Boateng, und die Bedeutung der dem Suizid vorangegangenen medialen Berichterstattung über die Trennung des Paares, vor allem die der “Bild”-Medien.

Die “Spiegel”-Autorinnen zitieren in ihrem Artikel auch einen Sprecher des Springer-Verlages:

Auf SPIEGEL-Anfrage erklärt ein Sprecher des Springer-Verlages, dass Boulevardmedien Themen “grundsätzlich anders, pointierter und emotionaler” aufbereiten. Dass Kasia Lenhardt bereits vor dem Erscheinen des Boateng-Interviews über soziale Netzwerke den Weg in die Öffentlichkeit gesucht habe. Dass man ihr mehrmals angeboten habe, sich auch in “Bild” zu äußern, doch sie sich nicht zu einer Stellungnahme habe entschließen können. Und weiter: “Aber so tragisch und bedauerlich der konkrete Fall auch ist, uns ist wichtig: Wer prominent ist und auf Plattformen wie Instagram private Dinge öffentlich macht, muss natürlich damit rechnen, dass Aussagen auch von Medien wie ‘Bild’ aufgegriffen werden.”

Viel stärker kann der Springer-Sprecher das Agieren der “Bild”-Medien nicht herunterspielen. Dass sie lediglich das aufgegriffen haben, was Kasia Lenhardt zuvor bei Instagram gepostet hat, stimmt schlicht nicht. Die “Bild”-Redaktion hat die Geschichte selbst immer weiter vorangetrieben, ihr Publikum mit immer neuem Schmutz über Lenhardt gefüttert: Sie hat private Nachrichten Lenhardts ohne deren Einverständnis veröffentlicht, sie hat unwidersprochen und ohne Einordnung Vorwürfe Boatengs abgedruckt, zu denen Medienrechtler sagen, dass sie einer Verleumdung gleichkommen, sie hat eine angebliche frühere Freundin das Model als miese Intrigantin darstellen lassen. Keinen dieser Aspekte hat Kasia Lenhardt zuvor bei Instagram veröffentlicht.

Weil sie sich beim Springer-Verlag an all das offenbar nicht mehr erinnern können (oder wollen), erinnern wir hier noch einmal daran, wie grässlich die “Bild”-Berichterstattung im Februar war.

Sucht man im Bild.de-Archiv nach den letzten Artikeln über Kasia Lenhardt vor deren Tod, sieht die Ergebnisliste so aus:

“JETZT WIRD’S SCHMUTZIG – Die privaten Nachrichten von Kasia an Boatengs Ex”

“KASIAS EX-BESTE FREUNDIN – ‘Ich bin schuld am Liebes-Chaos mit Boateng'”

“KASIAS LIEBES-TATTOO – Noch trägt sie Jérôme auf der Haut”

“BOATENG-EX – Kasia Lenhardt gönnte sich Generalüberholung”

“2012 WAR SIE BEI GNTM – Model Kasia Lenhardt (†25) tot”

“JETZT WIRD’S RICHTIG SCHMUTZIG”, schreibt Bild.de fünf Tage vor Kasia Lenhardts Tod. Dazu veröffentlicht die Redaktion “private Nachrichten von Kasia an Boatengs Ex”, nachzulesen nur für zahlenden “Bild-plus”-Kunden. Diese Nachrichten – wohlgemerkt: auch laut Bild.de “private Nachrichten” – hat eine frühere Partnerin Boatengs bei Instagram veröffentlicht, um damit gegen Kasia Lenhardt auszuteilen. Ganz offensichtlich hatte Lenhardt dieser Veröffentlichung nicht zugestimmt, weder durch “Boatengs Ex” noch durch Bild.de. Vom Presserat bekommt Bild.de dafür eine Rüge, die die Redaktion auch unter dem entsprechenden Artikel veröffentlicht. Sie schreibt dazu:

Obwohl diese Nachrichten über Instagram frei abrufbar waren, sieht der Presserat einen Verstoß gegen Ziff. 8 des Pressekodex (Achtung des Privatlebens und informationelle Selbstbestimmung).

Das ist ein bemerkenswerter Ansatz einer Gegenargumentation. Nur mal theoretisch: Was würde “Bild”-Chef Julian Reichelt wohl sagen, wenn man beispielsweise private Details zu seiner Familie auf größtmöglicher Bühne veröffentlicht und bei Kritik darauf hinweist, dass man das ja nur von irgendeinem Instagram-Heiopei abgeschrieben habe?

Einen Tag nach den “privaten Nachrichten” präsentiert Bild.de “KASIAS EHEMALS BESTE FREUNDIN”, die jetzt auspacke (“In BILD schildert Diana nun ihre Sicht auf die Beziehung und das Kennenlernen von Kasia und Boateng.”). Sie zeichnet ein Bild einer hinterhältigen und undankbaren, manipulativen und arroganten Person. Die Redaktion interviewt sie auch bei “Bild TV”. Kasia Lenhardt kommt nicht zu Wort.

Nur wenige Tage zuvor bringt “Bild” ein Interview mit Jérôme Boateng: “TRENNUNG VON KLUM-MODEL – Boateng rechnet mit seiner Ex ab – Es geht um Alkohol, Druck und Erpressung”. Der Fußballer darf darin heftige Vorwürfe gegen Kasia Lenhardt erheben, von “massiven Alkoholproblemen” über eine angebliche Erpressung bis zur Schuld Lenhardts an Boatengs zerstörter Beziehung zu dessen Familie. Ganz am Ende des Interviews schreibt die Redaktion lediglich: “Kasia Lenhardt wollte sich auf BILD-Anfrage nicht äußern.” Nichts wird von “Bild” hinterfragt. Bereits da sind die Rollen klar verteilt.

Auch für dieses Interview bekam “Bild” eine Rüge des Presserats:

Körperliche und psychische Erkrankungen gehören nach Ziffer 8, Richtlinie 8.6 jedoch zur Privatsphäre, über die nicht ohne Zustimmung der Betroffenen berichtet werden soll. Die Redaktion hatte nach eigenen Angaben Lenhardt zwar mit dem Interview konfrontiert, jedoch keine Äußerung dazu von ihr erhalten. Die Redaktion hätte daher ihrer Eigenverantwortung nachkommen müssen und auf die Veröffentlichung des unbelegten Alkoholismus-Vorwurfs verzichten sollen, zumal dieser dazu geeignet war, die persönliche Ehre der Betroffenen nach Ziffer 9 des Pressekodex zu verletzen.

In einem Beitrag des NDR-Medienmagazins “Zapp” bewertet Medienrechtler Matthias Prinz dieses “Bild”-Interview. Er habe an dem Fall persönlich Interesse, weil er zeige, “wo Persönlichkeitsrechtsverletzungen möglicherweise hinführen können.” Die “Gefährdung einer Gesundheit und eines Lebens” durch solche Veröffentlichungen sei “ja nicht von der Hand zu weisen.” Prinz hält das Interview mit Jérôme Boateng für “eindeutig rechtswidrig”: “Er behauptet, die hätte ihn erpresst. Das ist ja Verleumdung.” Die Veröffentlichung verletze aus Prinz’ Sicht so viele verschiedene Aspekte, “dass man sich erstmal überlegen muss: Was macht man überhaupt? Presseratsbeschwerde, Landgericht, sonst irgendwas?” Er würde “in erster Linie die Alkoholvorwürfe nehmen”, weil er die “schon als intimsphärenverletzend sehen würde und damit eindeutig rechtswidrig.”

Julian Reichelt dürfte die Expertise von Matthias Prinz nicht anzweifeln. Der “Bild”-Chef hat sich Prinz’ anwaltliche Hilfe genommen, um gegen einen (anderen) “Spiegel”-Artikel vorzugehen.

“Bild” entdeckt plötzlich Laschets “Wahlkampf-Turbo”

Vergangene Woche hat die “Bild”-Redaktion entdeckt, dass der Twitter-Kanal “WDR aktuell” eine Aussage Armin Laschets zumindest verzerrt wiedergegeben (und später “klargestellt”) hat, dass die WDR-Sendung “Monitor” einen Beitrag gebracht hat, in dem sie zeigt, dass Laschet als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen “beim Klimaschutz eher auf der Bremse steht”, und dass der ARD-“Faktenfinder” eine Aussage des Union-Kanzlerkandidaten (“Wir dürfen die Fehler von 2015 nicht wiederholen”) kritisch auf deren Inhalt überprüft hat. Und schon witterte “Bild” eine große ARD-übergreifende Verhinderungskampagne:

Ausriss Bild-Zeitung - Mit Falsch-Behauptung und Negativ-Berichten - Wollen ARD-Sender Laschet als Kanzler verhindern?

Mit den Aussagen “Wahlkampf ist Sache der Parteien, nicht des öffentlichen Rundfunks” und “Der WDR entwickelt sich vom Rot-Funk zum Grün-TV” konnte die “Bild”-Redaktion sogar Unterstützung aus der Politik für die eigene These zur Anti-Laschet-ARD einsammeln (mehr Politiker kamen im “Bild”-Artikel nicht zu Wort). Das eine Zitat stammt von einer CDU-Politikerin, der die Kritik an ihrem Spitzenkandidaten offenbar nicht schmeckt, das andere von einem CSU-Politiker, dem die Kritik an seinem Spitzenkandidaten offenbar nicht schmeckt. Überraschung.

Aber wie sieht’s denn bei der “Bild”-Berichterstattung über Armin Laschet aus?

Da gab es am Samstag einen interessanten Vorgang. Kurz nach Ende des Wahlkampfauftakts von CDU und CSU in Berlin, erschien auf der Bild.de-Startseite dieser Artikel:

Screenshot Bild.de - Wahlkampfauftakt der Union! Laschet-Rede sollte den Turbo zünden - Er hat's versucht ... - Er gibt Flut und Corona die Schuld für miese Umfrage-Werte

Laut “Gnutiez”, einer Seite, die Änderungen von Überschriften verschiedener Medien trackt, soll die Schlagzeile zuvor noch schärfer gewesen sein:

LASCHET-REDE SOLLTE TURBO ZÜNDEN
Netter Versuch

Dazu hieß es im Artikel:

Schafft CDU-Chef Armin Laschet (60) noch die Wende? Auch nach seiner Rede bleiben Zweifel.

Der gesamte Beitrag verschwand dann plötzlich und ohne irgendeinen Hinweis von Bild.de. Wer die URL heute aufruft, sieht keinerlei Inhalt. Stattdessen erschien auf der Bild.de-Startseite ein neuer Artikel. Und auf einmal konnte Armin Laschet laut “Bild”-Redaktion doch den “Wahlkampf-Turbo” zünden:

Screenshot Bild.de - Laschet zündet mit Merkel und Söder den Wahlkampf-Turbo - Kanzlerkandidat fordert Anti-Links-Schwur von SPD

Noch einmal etwas später übernahm dann “Bild”-Parlamentsbüroleiter Ralf Schuler die Deutungshoheit zum Laschet-Auftritt:

Screenshot Bild.de - Wahlkampf-Auftakt der Union - Markus Söder hat keinen Bock auf Opposition Armin Lascher Ich werde kämpfen - Zwei Fäuste und kein Halleluja

Und weil das vielleicht doch etwas zu kryptisch war (zumindest wir rätseln noch immer, ob ein ausbleibendes “Halleluja” nun was Positives oder Negatives ist), schob die Redaktion auch hier noch mal eine Überarbeitung nach:

Screenshot Bild.de - Wahlkampf-Auftakt der Union - Armin Laschet - Ich werde kämpfen

Und so wurde innerhalb kürzester Zeit auf der Bild.de-Startseite aus dem “netten Versuch” Laschets, der angeblich Flut und Corona als Ausreden nutzte, ein kämpferischer Union-Spitzenkandidat mit “Wahlkampf-Turbo”. Wir haben beim “Bild”-Sprecher nachgefragt, warum der Laschet-kritische Artikel gelöscht wurde, haben bisher aber keine Antwort erhalten.

Eine besondere Nähe zwischen Armin Laschet und dessen Wahlkampfteam auf der einen Seite und der “Bild”-Redaktion auf der anderen konnte man übrigens sechs Tage zuvor beobachten. Der stellvertretende “Bild”-Chefredakteur Paul Ronzheimer schrieb bei Bild.de über “Laschets Plan für Afghanistan”, veröffentlicht um 18:42 Uhr. Erst 43 Minuten später, um 19:25 Uhr, veröffentlichte auch Laschet diesen Plan bei Twitter – interessanterweise mit demselben Rechtschreibfehler wie im Ronzheimer-Artikel. Man fühlte sich beim Lesen an die verräterischen Fehler beim Abschreiben in der Schule erinnert. Oder anders gesagt: Das Laschet-Team muss den Afghanistan-Plan vorab an die “Bild”-Redaktion gegeben haben. Nur zur Erinnerung: Seit Juni dieses Jahres gehört Tanit Koch, Ex-“Bild”-Chefredakteurin, zu Armin Laschets Beraterteam.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Bildblog unterstuetzen

Bild  

“#DankeBild ihr werdet immer besser”

Nach einem Telefonat mit einem ranghohen AfD-Politiker twitterte Martin Schmidt, Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio, vor zwei Wochen:

Screenshot eines Tweets von Martin Schmidt - Sie sagen, sie wollen mit uns nichts zu tun haben, sind aber unsere besten Wahlkämpfer, kostenfrei. Ob Corona, Migration, Klima: bei jedem Thema! Läuft für uns! Sagt mir eines der ranghöchsten Mitglieder der AfD kürzlich am Telefon über die Bild-Zeitung.

Eine solche Geschichte kann der “Bild”-Redaktion und vor allem “Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt nicht gefallen. Immer wieder betont Reichelt, wie “schrecklich” er die AfD finde. Zum Vorwurf, “Bild” sei der verlängerte Arm der AfD, sagt er, dass dies “eine Unverschämtheit” sei: “Man kann das nur dann behaupten, wenn man bereit ist, Fakten schlichtweg zu ignorieren.” Und jetzt erzählt die AfD, wie toll und hilfreich sie die Berichterstattung von Reichelt und dessen Team findet?

“Bild”-Meinungschef Filipp Piatov versuchte dann auch gleich, Martin Schmidts Geschichte zu diskreditieren. Bei Twitter schrieb Piatov:

Screenshot eines Tweets von Filipp Piatov - Der ÖR entfernt sich politisch immer weiter von der Bevölkerung und diffamiert jeden, der das kritisiert, als rechtsextrem. Davon profitiert nur die AfD. Ein 3-jähriger Junge neulich im Zug, Applaus im Abteil

Piatovs offensichtlich ausgedachte Erzählung soll wohl zeigen, dass er auch Schmidts Tweet für erfunden hält. In Sozialen Medien liest man häufiger den Vorwurf, das sei jetzt aber eine “Geschichte aus dem Paulanergarten”, also unwahr. “Bild”-Chef Reichelt retweetete Piatovs Tweet.

Nur drei Tage später zeigte sich allerdings, dass die AfD von der “Bild”-Berichterstattung tatsächlich begeistert ist. Als die Redaktion auf ihrer Titelseite von Angela Merkel forderte: “KANZLERIN, wir wollen EINIGKEIT und RECHT und FREIHEIT”, gab es zahlreiche Danksagungen von AfD-Mitgliedern und -Verbänden. Die Bundestagsabgeordnete Joana Cotar schrieb beispielsweise:

Screenshot eines Tweets von Joana Cotar - Wenn es angebracht ist, muss man auch mal Danke sagen. DankeBild

Ihr Kollege im AfD-Bundesvorstand Stephan Protschka konnte es selbst kaum glauben:

Screenshot eines Tweets von Stephan Protschka - Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass ich die Bildzeitung nochmal lesen werde. DankeBild ihr werdet immer besser. Freiheit für Deutschland. Aber normal. Wird es nur mit der AfD geben. 26. September ist Zahltag!

Guido Reil, für die AfD im Europäischen Parlament, dankte ebenfalls:

“#DankeBild” gilt immerhin bezogen auf aufrüttelnde Berichte gegen Gruppenvergewaltigungen und Mädchenmorde

Auch von der Berliner AfD kam ein Dankeschön an die “Bild”-Redaktion:

Besser spät als nie. #DankeBild für die Übernahme sämtlicher AfD-Positionen.

Und der AfD-Kommunalpolitiker Christian Breu twitterte:

#BILD hilft allen Menschen, die Opfer der skrupellosen Drangsalierungs- und #Lügenpolitiker geworden sind.
#DankeBILD

Neu ist die AfD-Begeisterung für “Bild” nicht. Bereits 2017, vor der vergangenen Bundestagswahl und nachdem die Redaktion ihr eigenes “BILD-Wahlprogramm” veröffentlicht hatte, jubelte Uwe Junge, damals Landes- und Fraktionsvorsitzender der AfD in Rheinland-Pfalz: “Endlich! Die BILD als Wahlkampfblatt für die AfD! Unser Programm in BILD veröffentlicht!” Und auch die Bundespartei stellte zum “Bild”-Wahlprogramm fest: “Hallo @BILD, nahezu ALLES hier findet sich im #AfD-Wahlprogramm!”

Mit ihrer aktuellen Berichterstattung findet die “Bild”-Redaktion übrigens nicht nur Anschluss bei der AfD. Auch in den Telegram-Kanälen vieler Verschwörungserzähler wird sie gelobt. “Spioniker” schreibt zum Beispiel: “Hammer, was die BILD jetzt raushaut! Ich glaube, der kritische Punkt ist erreicht!” und konstruiert aus der gelben Hintergrundfarbe eines Artikelbanners bei Bild.de mit Hilfe des des Flaggenalphabets, wo die Farbe Gelb für das Q steht, eine Verbindung zu QAnon. Michael Wendler sieht “Bild” als einen möglichen “Gamechanger”. Und Eva Herman empfiehlt ein Video von “Bild TV” (“Der Staat hat kein Recht mehr, zu regulieren, wie wir leben”). Die Protagonisten darin: Julian Reichelt und Filipp Piatov.

Mehr über das Verhältnis von “Bild” und AfD schreiben wir übrigens in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste”, vor allem im Kapitel “‘Das wird man ja wohl noch sagen dürfen’ – ‘Bild’ und Rechtspopulisten”. Alle Infos dazu hier.

Bildblog unterstuetzen

Sie nennen sowas “Faktencheck”

Ein Mindestanspruch an einen Faktencheck sollte darin bestehen, dass dort Fakten gecheckt werden; dass also jemand sie überprüft, bestätigt oder korrigiert, weitere Fakten liefert, Klarheit schafft.

Ein “Bild”-“Faktencheck” läuft anders. Da werden Fakten aus dem Zusammenhang gerissen und neu angeordnet, es wird verschleiert, am Ende ist alles unklarer. Erst recht, wenn die Redaktion damit einem Liebling wie Friedrich Merz unter die Arme greifen kann.

Auf Merz’ Twitter-Account erschien vor einigen Tagen folgender Tweet:

Screenshot eines Tweets von Friedrich Merz - Ein grünes Einwanderungsministerium soll möglichst viele Einwanderer unabhängig von ihrer Integrationsfähigkeit nach Deutschland einladen. Die Gender-Sprache soll uns allen aufgezwungen und das Land überzogen werden mit neuen Verhaltensregeln, Steuern und Abgaben.

Die Aufregung darüber war recht groß. Politikerinnen und Politiker verschiedener Parteien (und vor allem der Grünen) kritisierten Merz für dessen Aussagen. Seine Behauptungen seien schlicht Lügen, so der Vorwurf. Und beim Thema Lügen kommt natürlich “Bild” ins Spiel:

Screenshot Bild.de - Einwanderung, gendern, Steuern - Grünen-Attacke von Merz im Faktencheck

Die Redaktion schreibt:

Auf Twitter schrieb Merz, ein grünes Einwanderungsministerium solle “möglichst viele Einwanderer unabhängig von ihrer Integrationsfähigkeit nach Deutschland einladen” und die Gender-Sprache “uns allen aufgezwungen werden”.

… und fragt:

DOCH: Lügt Merz tatsächlich oder hat er recht?

Schon beim Thema Gendern wird die Nebelkerzigkeit dieses “Faktenchecks” deutlich. Zu Merz’ Vorwurf, dass eine Gender-Sprache “uns allen aufgezwungen” werden soll, schreibt “Bild”, dass die Grünen in ihrem Wahlprogramm “570 Mal auf 110 Seiten” und auch sonst ganz gerne gendern. Das war’s. Dass es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass die Partei “uns” im Falle einer Regierungsbeteiligung per Gesetz zum Gendern verpflichten oder es “uns” sonst wie “aufzwingen” will, erwähnt die Redaktion nicht.

Beim Thema Einwanderung führt die “Bild”-Redaktion ihre Leserschaft dann endgültig in die Irre. Sie schreibt:

Fakt ist: Die Grünen wollen nach der Bundestagswahl ein Einwanderungsministerium gründen. Das forderte Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (40) in einem Interview mit einer deutsch-türkischen Interessenvertretung.

Die Grünen planen ein sogenanntes “Teilhabegesetz” und schreiben in ihrem Parteiprogramm: “Wir werden verbindliche Zielvorgaben zur Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen einführen.” Außerdem wollen die Grünen “Zugangswege auch im gering- oder unqualifizierten Bereich” schaffen.

Der entscheidende Satz, mit dem “Bild” vorgibt, Friedrich Merz’ Schreckensszenario von der vermeintlichen Grünen-Einladung an “möglichst viele Einwanderer” stützen zu können: “Wir werden verbindliche Zielvorgaben zur Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen einführen.”

Er steht tatsächlich im Wahlprogramm der Grünen (PDF, Seite 168), aber in einem deutlich anderen Kontext. Während “Bild” es so wirken lässt, als bezöge er sich auf das gesamte Land und die gesamte Gesellschaft und stünde für Masseneinwanderung “auf allen Ebenen”, geht es tatsächlich nur um die Verwaltung in Deutschland und auch eher nicht um zusätzliche Einwanderer. Im Unterkapitel “Vielfalt in der Verwaltung” schreiben die Grünen:

Die Vielfalt der Gesellschaft muss sich auch in ihrer Verwaltung widerspiegeln. Das stärkt die staatlichen Institutionen und trägt zu Vertrauen und Bürger*innennähe bei. Eine diverse und diskriminierungskritische Verwaltung entsteht aber nicht von selbst, sondern benötigt Mittel, Strukturen und gezielte Förderung. (…) Wir werden verbindliche Zielvorgaben zur Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen einführen.

Die Aussage der Grünen, “Zugangswege auch im gering- oder unqualifizierten Bereich” schaffen zu wollen, reißt “Bild” ebenfalls aus dem Zusammenhang. Die Redaktion hat sie von einer “Themenseite”, die die Grünen auf ihrer Website veröffentlicht haben. Auch hier ist der Kontext nicht, dass die Partei “möglichst viele” Menschen nach Deutschland holen will. Der gesamte Satz lautet:

Auf Basis des jährlichen Arbeitskräftebedarfs schaffen wir so Zugangswege auch im gering- oder unqualifizierten Bereich.

In den Sätzen davor geht es um eine “Einwanderungskommission”, die “dem Bundestag jährlich die Anzahl von punktebasierten Talentkarten vorschlagen [soll], mit denen Menschen zu uns kommen können.” Und allgemein handelt die “Themenseite” davon, wie Integration besser gelingen könnte.

Auch das von “Bild” einfach so hingeworfene und nicht weiter erklärte “Teilhabegesetz”, das die Grünen laut Wahlprogramm (Seite 169) tatsächlich planen, steht nicht für “möglichst viel” Zuwanderung. Eigentlich hat es überhaupt nichts mit zusätzlicher Zuwanderung zu tun. Die Grünen schreiben dazu:

Für mehr Repräsentanz und Teilhabe werden wir ein Bundespartizipations- und Teilhabegesetz vorlegen und das Bundesgremienbesetzungsgesetz refomieren. Staatliches Handeln soll auf unsere vielfältige Gesellschaft ausgerichtet sein und Gleichberechtigung sicherstellen. Wer hier dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt hat, muss die Möglichkeit haben, an Wahlen, Abstimmungen und allen anderen demokratischen Prozessen gleichberechtigt teilzunehmen, in einem ersten Schritt wollen wir das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige einführen.

Statt aufzuklären, verzerrt die “Bild”-Redaktion zusätzlich. Und geht in ihrem “Faktencheck” noch einen Schritt weiter als Friedrich Merz. Nun sind es nicht mehr nur “Einwanderer unabhängig von ihrer Integrationsfähigkeit”, die die Grünen angeblich nach Deutschland einladen, sondern “Integrationsverweigerer oder Kriminelle”:

Menschen sollen aufgrund ihrer Herkunft qua Gesetz bevorteilt werden, unabhängig von ihrer Qualifikation, Bildung und Integrationsfähigkeit.

Eine solche Bevorteilung nur aufgrund der Herkunft kann als Einladung zur Migration verstanden werden – selbst für Integrationsverweigerer oder Kriminelle.

Bei “Bild” läuft sowas unter “Faktencheck”.

Mit Dank an Andreas P. für den Hinweis!

Bildblog unterstuetzen

Dieses “Willkür”-Geraune ist gefährlich

Vor wenigen Tagen veröffentlichte “Bild” keinen herkömmlichen Kommentar zur Corona-Lage, sondern einen “CORONA-WUT-KOMMENTAR”, schließlich musste “Bild”-Parlamentsbüro-Leiter Ralf Schuler in seinem Urlaub in Bayern derartigen “Wahnsinn” durchleben:

Am Frühstücksbuffet geht es in Pfeilrichtung am Müsli vorbei. In Plastikhandschuhen angelt man mit der Zange nach Brötchen.

Irre.

Am Montag gab es in “Bild” erneut eine Art Wut-Kommentar, verfasst von “Bild”-Chef Julian Reichelt, allerdings nicht als “WUT-KOMMENTAR” deklariert, sondern als “Essay”.

Screenshot Bild.de - Staat verbietet Querdenker-Demos, aber andere nicht - Diese Willkür ist gefährlich!

Liest man Reichelts Text, könnte man auf die Idee kommen, dass es in Deutschland keine Gewaltenteilung mehr gibt, als wären demokratische Grundprinzipien abgeschafft worden. Der Rechtsstaat? Laut Reichelt nicht mehr existent, zumindest nicht in Berlin. Gerichtliche Entscheidungen? Alles nur noch “Willkür” im Sinne der Regierung. In jeder Zeile riecht es nach Verschwörung, der “Bild”-Chef mischt alles zusammen: “viele Politiker”, die “Regierenden”, die Justiz, die Polizei – bei Reichelt klingen sie alle wie Demokratie-Gefährder.

Reichelts zentrale Beobachtung: In Berlin werden mehrere “Querdenker”-Demos verboten, obwohl eine Woche zuvor noch die Teilnehmer des Christopher Street Day durch die Stadt ziehen durften. Er schreibt dazu:

Und immer mehr beschleicht mich das Gefühl: Recht scheint immer häufiger, was den Regierenden gefällt. Zwei Wochenenden in unserer Hauptstadt, in der unser Parlament steht, sich aber zu den wichtigsten Fragen unserer Freiheit wegduckt: Vor einer Woche der Christopher Street Day (CSD), gestern die verbotene Demo der “Querdenker”.

Erst habe er beim CSD Zehntausende Menschen auf den Straßen gesehen, “dicht an dicht, ohne Maske, tanzend, singend, feiernd, Arm in Arm”, am vergangenen Sonntag hingegen: “Polizei in der ganzen Stadt. An Autobahnabfahrten und Zufahrtsstraßen. Die deutsche Hauptstadt abgeriegelt. Blaulicht, Hubschrauber, Martinshorn.”

Seinen Artikel könnte man auf “Querdenker”-Plakate drucken: “Rechte hat, wer den Wünschen unserer Regierung folgt”. Dort, wo der Regierung der Protest nicht passe, setze sie laut Julian Reichelt Polizei und Justiz ein. Exekutive, Legislative, Judikative – für Reichelt und “Bild” alles die gleiche freiheitsberaubende oder sich wegduckende Bande.

Reichelts Gleichsetzung von CSD und “Querdenken” funktioniert auch nur, weil er sich keinerlei Mühe macht, das Verbot der “Querdenker”-Demos zu erklären. An keiner Stelle nennt er die Begründungen des Gerichts. Man kann sie nachlesen, etwa in einer der drei Pressemitteilungen des letztinstanzlichen Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg. Darin bestätigt das OVG zuvor getroffene Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin folgendermaßen:

Der Auffassung der Antragsteller, dass das Nichttragen einer Maske sowie die Nichteinhaltung der Abstandsregeln von ihrer verfassungsrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit gedeckt sei, hat sich das Gericht nicht angeschlossen. (…) Das Verwaltungsgericht habe eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen, weil Leben und Gesundheit von Menschen mit Blick auf die Gefahr einer COVID-19-Infektion gefährdet seien, wenn die Versammlungsteilnehmer den Mindestabstand und die jeweils zu beachtenden Hygieneregeln wie das Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske missachteten. Diese Annahme habe das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet. Nichts anderes ergebe sich daraus, dass die Polizei bei anderen Versammlungen – etwa zum Christopher Street Day – nicht gegen die Missachtung der Pflicht zum Maskentragen und zur Einhaltung des Mindestabstandes eingeschritten sei. Die vorliegenden Versammlungen seien nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts anders zu beurteilen. Sie stünden im Zusammenhang mit einer Vielzahl von für dieses Wochenende angemeldeten Versammlungen, die den Corona-Maßnahmen-Kritikern und “Querdenkern” zuzurechnen seien. Deren Versammlungen zeichneten sich deutschlandweit dadurch aus, dass die Teilnehmer sie nutzten, um öffentlichkeitswirksam gegen zur Eindämmung der Infektionsgefahr geschaffene Rechtsnormen zu verstoßen, insbesondere indem sie das Abstandsgebot und die Maskenpflicht missachteten.

Und:

Das Hygienekonzept lasse deutliche Zweifel an der Bereitschaft des Antragstellers aufkommen, effektiv auf die Einhaltung der infektionsschutzrechtlichen Anforderungen hinzuwirken. So sehe es etwa das Tragen eines Mund-Nasenschutzes grundsätzlich nicht vor.

Und:

Der 1. Senat weist darauf hin, dass Verstöße gegen allgemeine rechtliche Vorgaben nicht als Teil des Protests gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen von der Versammlungsfreiheit gedeckt sind, wenn sie wie hier zugleich Gefahren für die Gesundheit und das Leben von Menschen begründen.

Während die “Querdenker”-Demos laut OVG also darauf ausgelegt sind, gegen die Hygieneregeln zu verstoßen, gibt es dieses verbindende Element beim CSD nicht. Es stimmt ganz sicher, dass beim Umzug durch Berlin neulich auch zahlreiche CSD-Teilnehmer ohne Maske unterwegs waren. Aber eben nicht als zentrale Idee der Demonstration. Dafür liefert die “Bild”-Redaktion selbst den Beleg: Zur Bebilderung von Reichelts “Essay” wählte sie ein Foto des CSD, auf dem die Personen zwar sehr eng beieinander stehen, aber so gut wie alle eine Maske tragen:

Ausriss Bild-Zeitung - Foto vom CSD

Wenn Julian Reichelt schreibt, dass “mit identischen Methoden” auch der CSD verboten werden könnte, dann hat er insofern Recht, dass auch der CSD beispielsweise im nächsten Jahr nicht stattfinden dürfte, wenn sich überraschend herausstellen sollte, dass das Nicht-Tragen von Schutzmasken zum grundlegenden CSD-Konzept gehört, oder dass der Veranstalter es darauf auslegt, die rechtlichen Vorgaben zu missachten. Auch das ist ein Aspekt, den Reichelt nicht erwähnt: Das Verbot der “Querdenken”-Demos basiert auf zuvor gemachten Erfahrungen mit der Bewegung. Beim CSD gab es zuvor hingegen keine massenhafte Missachtung der Hygieneregeln, auf deren Grundlage ein Gericht ein Verbot hätte aussprechen können.

Reichelts Justiz-Verachtung gipfelt in diesem Absatz:

Gerichte haben die Verbote der “Querdenker”-Demo bestätigt. Das kann man rechtsstaatlich nennen, aber ich sage: In Berlin ist inzwischen zu vieles politisch. Die Justiz, die Straftäter aus politischen Gründen nicht mehr verfolgt, weil sie als “bunt” gelten – Hausbesetzer zum Beispiel.

Der “Bild”-Chef meint offenbar, dass sich die Berliner Justiz nicht mehr im rechtsstaatlichen Rahmen bewegt. Damit sein Weltbild passt, muss Reichelt gleich mehrere Teile der Realität ausblenden: Er verschweigt, dass die Gerichte in Berlin sehr wohl Urteile gegen Hausbesetzer sprechen. Im Oktober 2020 beispielsweise räumte die Polizei das Haus in der Liebigstraße 34 im Berliner Bezirk Friedrichshain, nachdem das Berliner Landgericht ein entsprechendes Urteil gesprochen hatte. Im Januar 2018 räumte die Polizei eine ehemalige Schule in Berlin-Kreuzberg, die von Geflüchteten besetzt wurde. Auch dazu gab es ein Urteil des Berliner Landgerichts. Zum Køpi-Wagenplatz sprach ein Gericht im Juni dieses Jahres ein Räumungsurteil, die Räumung steht noch aus. Im August 2020 räumte die Polizei die linke Kiezkneipe Syndikat in Berlin-Neukölln. Das Betreiberkollektiv hatte auf die Kündigung des Eigentümers nicht reagiert und die Kneipe weiterbetrieben. Ein Berliner Gericht sprach daraufhin ein Räumungsurteil. Und sollte es Julian Reichelt bei seinem Geraune über die politisierte “Willkür”-Justiz um die Rigaer Straße 94 gehen: Dort scheiterten die Räumungsklagen bisher nicht daran, dass die Gerichte die Bewohner für so wunderbar “bunt” hielten, sondern daran, dass für sie unklar blieb, wer der wahre Eigentümer ist, und ob die Klagenden wirklich klagebefugt sind.

Und noch ein Stück Realität, das Reichelt für seine Argumentation ausblenden muss: Derselbe Senat desselben Oberverwaltungsgerichts, der am vergangenen Wochenende die “Querdenken”-Demo verbot und dessen Treue zum Rechtsstaat der “Bild”-Chef infrage stellt, ließ Reichelts Stellvertreter Florian von Heintze Ende August 2020 noch in einem Kommentar jubeln:

Screenshot Bild.de - Gericht kippt Demo-Verbot in Berlin - Triumph für den Rechtsstaat

Das OVG Berlin-Brandenburg kippte am 29. August 2020 nämlich ein Versammlungsverbot des Berliner Polizeipräsidenten, wodurch Proteste gegen die Corona-Maßnahmen, auch der “Querdenker”-Bewegung, in der Hauptstadt stattfinden konnten. Das Gericht schrieb damals dazu:

Zur Begründung hat der 1. Senat u.a. darauf abgestellt, dass die Anmelder konkrete individuelle Hygienekonzepte vorgelegt hätten. Sowohl die ausreichend dimensionierten Versammlungsflächen als auch die Anzahl der eingesetzten Ordner und Deeskalations-Teams sowie die vorgesehene Blockbildung innerhalb des Aufzugs rechtfertigten kein Versammlungsverbot.

Es scheint ganz einfach zu sein: Wenn ein Gericht ein Urteil fällt, das der Meinung Reichelts entspricht, feiern er und sein Blatt den Rechtsstaat; lernt das Gericht dazu – auch das massenhafte Missachten der Maskenpflicht und der Abstandsregeln bei den Protesten am 29. August 2020 dürften dazu geführt haben, dass das OVG inzwischen zu einer anderen Entscheidung gelangt – und fällt ein gutes Jahr später auf einer veränderten Grundlage ein anderes Urteil, ist das laut Reichelt alles “Willkür”, politisch motiviert und nicht rechtsstaatlich.

Bildblog unterstuetzen

Bild  

“Das ist schon sehr viel”, was bei “Bild TV” alles weggelassen wird

Bei “Bild TV” war am Mittwoch der Publizist und Verleger Wolfram Weimer zu Gast. Er kommentierte unter anderem einen Fall aus Leer, wo drei Asylbewerber eine 16-Jährige vergewaltigt haben sollen. Weimer sagte dazu:

Screenshot der Bild-TV-Sendung

Das Problem ist größer als öffentlich drüber geredet wird. Und wenn man sich die Zahlen vom BKA einmal anguckt, ich habe die mal mitgebracht, dann haben wir, die Zahlen sind ganz frisch, im Jahr 2020 5.719 sexuelle Übergriffe von Personen mit Zuwanderungs, also jüngster Zuwanderungshintergrund. Das heißt, das sind jeden Tag 15. Wir haben jeden Tag 15 Fälle in Deutschland. Das ist schon sehr viel.

Und wenn man sich anguckt: Die Entwicklung, im Jahr 2016 waren das nur 3.400. Natürlich: Jeder Fall ist zu viel. Aber man sieht diesen dramatischen Anstieg. Wir haben einen Anstieg um 80 Prozent in wenigen Jahren. Aus einer ganz bestimmten Tätergruppe, man weiß, das sind die 18- bis 30-Jährigen eines ganz bestimmten Milieus. Und das Problem muss adressiert werden.

Mit den “Zahlen vom BKA” dürfte Wolfram Weimer das “Bundeslagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung 2020” (PDF) des Bundeskriminalamts meinen, das im Juni veröffentlicht wurde. Darin geht es um Straftaten in unterschiedlichen Deliktsbereichen, darunter auch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Der Fokus dieser Sonderauswertung liegt auf Delikten, bei denen mindestens ein Zuwanderer oder eine Zuwanderin als tatverdächtig gelten. Das BKA schreibt dazu:

Analog den Festlegungen in der [Polizeilichen Kriminalstatistik] gilt eine tatverdächtige Person in diesem Bundeslagebild als Zuwanderer/Zuwanderin, wenn sie mit dem Aufenthaltsanlass “Asylbewerber/-in”, “Schutzberechtigte/-r und Asylberechtigte/-r, Kontingentflüchtling”, “Duldung” oder “unerlaubter Aufenthalt” registriert wurde.

Bei den Angaben handelt es sich also nicht um verurteilte Täter, sondern um ermittelte Tatverdächtige (eine Unterscheidung, mit der die “Bild”-Redaktion häufiger Probleme hat, die aber ausgesprochen wichtig ist).

Wenn man sich dieses Lagebild tatsächlich “einmal anguckt”, wie Wolfram Weimer vorschlägt, erkennt man, dass seine Wiedergabe bei “Bild TV” teils so unvollständig, so einseitig oder schlicht so falsch ist, dass wir hier für eine umfassendere Darstellung ein paar Infos hinterherschicken wollen.

Vielleicht erstmal zu Weimers Rechenfähigkeiten. Bei einer Steigerung von 3.400 Fällen im Jahr 2016 (ganz genau sind es laut BKA 3.404) auf 5.719 Fälle im Jahr 2020, kommt er auf “einen Anstieg um 80 Prozent”. Richtig gerechnet sind das allerdings 68 Prozent. Die 80 Prozent, die Weimer nennt, sind aber ganz interessant, denn es gibt in der BKA-Statistik tatsächlich eine Steigerung von etwa 80 Prozent: Bei den aufgeklärten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt – also bei den Zahlen, die sich nicht nur auf tatverdächtige Zuwanderer beziehen, sondern auf alle Tatverdächtigen in Deutschland. 2016 waren es 37.442 Straftaten, 2020 67.656 – ein Plus von 80,7 Prozent. Das heißt also: Die Straftaten mit tatverdächtigen Zuwanderern sind im selben Zeitraum weniger stark gestiegen als die Straftaten aller Tatverdächtiger.

Eigentlich ist dieser Vergleich mit den Zahlen aus 2016 aber – ob nun bei den Zuwanderern oder insgesamt – sowieso nicht richtig sinnvoll. Denn es gab in der Zwischenzeit eine Gesetzesänderung, die die Statistik verzerrt. Da weist das BKA in seinem Bundeslagebild auch extra drauf hin:

Mit dem “50. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung” vom 04.11.2016 wurden im Sexualstrafrecht Straftatbestände geändert und neue Straftatbestände eingeführt. Dies führt im Ergebnis dazu, dass im Bereich “Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff im besonders schweren Fall einschl. mit Todesfolge (§§ 177, 178 StGB)” ab dem Berichtsjahr 2017 ein Vergleich mit den Vorjahreszahlen nur eingeschränkt möglich ist.

Wolfram Weimer macht es bei “Bild TV” trotzdem einfach. Hätte er ein anderes Jahr aus der Statistik genommen, hätte seine Erzählung auch nicht mehr so richtig gepasst: Für 2017 nennt das BKA 5.258 “Straftaten mit mindestens einem/einer tatverdächtigen Zuwanderer/Zuwandererin” – eine Steigerung bis 2020 von gerade mal noch 8,8 Prozent. 2018 sind es 6.046 Straftaten. Und seitdem sinkt der Wert: 2019 sind es 5.802 und 2020 die bereits erwähnten 5.719. So stellt das BKA in seinem Lagebild auch optisch extra groß heraus:

Anteil der tatverdächtigen Zuwanderer/Zuwandererinnen an Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung weiter rückläufig

Die Behörde schreibt dazu:

Während die Gesamtzahl der 2020 in der [Polizeilichen Kriminalstatistik] registrierten aufgeklärten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Vergleich zum Vorjahr weiter angestiegen ist (+17,4 %; 2019: +12,7 %), sanken die Fallzahlen mit mindestens einem/einer tatverdächtigen Zuwanderer/Zuwanderin im Berichtsjahr um 1,4 %.

All das bleibt bei Weimers “Bild-TV”-Auftritt gänzlich unerwähnt. Genauso der Vergleich mit den 67.656 aufgeklärten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt in Deutschland im Jahr 2020. Dazu kein Wort von Weimer. Er nennt nur die Straftaten der tatverdächtigen Zuwanderer, liefert keinerlei Einordnung, lässt es so wirken, als wären Sexualstraftaten nur ein Zuwanderer-Problem, eine Sache “eines ganz bestimmten Milieus”. Stattdessen rechnet er 15 Fälle pro Tag aus und sagt: “Das ist schon sehr viel.” Insgesamt sind es noch viel mehr: 185 Fälle pro Tag.

Und dann noch zum Sprachlichen. Wenn Wolfram Weimer sagt: “Und wenn man sich die Zahlen vom BKA einmal anguckt, […] dann haben wir […] im Jahr 2020 5.719 sexuelle Übergriffe von Personen mit Zuwanderungs, also jüngster Zuwanderungshintergrund”, dann ist das gleich doppelt irreführend. Einmal ist nicht endgültig juristisch geklärt, ob diese Personen wirklich die Täter sind. Und vor allem wirkt seine Aussage im Kontext der “Bild-TV”-Sendung so, als würde es sich bei den “5.719 sexuellen Übergriffen” um Delikte wie Vergewaltigungen handeln. Die 5.719 Fälle aus der BKA-Statistik decken aber das gesamte Feld der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ab – von exhibitionistischen Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses bis zu sexuellem Missbrauch. Darunter auch die Paragrafen 177 und 178 des Strafgesetzbuches, in denen es um “Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung” geht. Aber eben nicht nur.

Natürlich kann und soll man über Kriminalität von Zuwanderern berichten und diskutieren. Wir finden nur, dass man dann auch umfassend berichten sollte. Die einseitige Darstellung der BKA-Statistik durch Wolfram Weimer und “Bild TV” verfängt jedenfalls ganz wunderbar. In den Tausenden Kommentaren unter dem Youtube-Video sowie den Facebook- und Twitter-Posts von “Bild” gibt es reichlich Wut auf die Politik, auf “Mutti” Merkel, auf die Justiz, auf Zuwanderer. Und es gibt zahlreiche Danksagungen an die Redaktion, dass jetzt endlich mal jemand die Fakten auf den Tisch lege.

Bildblog unterstuetzen

Guten Freunden gibt man ein Komma

Als sich die Kanzlerkandidatin der Grünen Annalena Baerbock bei ihrer Parteitagsrede im Juni verhaspelte, erst von “liberalen Feinden” sprach, sich dann schnell selbst mit “die Feinde der liberalen Demokratie” korrigierte und nach ihrer Rede offenbar “Scheiße” sagte, war das der “Bild”-Redaktion gleich mehrere Beiträge wert. Bei Gegnern suhlt sie sich in den kleinsten Fehlern, bläst sie auf, reitet auf ihnen rum.

Und bei Freunden?

Am Sonntag war Sebastian Kurz, Bundeskanzler Österreichs und Duzfreund von “Bild”-Chef Julian Reichelt, in der “Bild-TV”-Sendung “Die richtigen Fragen” zu Gast. Im Interview mit “Bild”-Vize-Chefredakteur Paul Ronzheimer, der auch Biograf von Sebastian Kurz ist, ging es unter anderem um die Situation in Afghanistan, das Vordringen der Taliban im Land und daraus möglicherweise resultierende Fluchtbewegungen nach Europa. Kurz sagte dazu:

Wenn Menschen fliehen müssen, dann halte ich die Nachbarstaaten wie die Türkei oder andere sichere Teile Afghanistans definitiv für den richtigeren Ort, als dass die Menschen alle nach Österreich, Deutschland oder Schweden kommen.

Nun ist die Türkei, anders als von Kurz behauptet, kein Nachbarstaat Afghanistans. Zwischen beiden Ländern liegt der nicht ganz kleine Iran. So ein Fehler kann einem natürlich mal passieren. Aber was macht die “Bild”-Redaktion daraus? Bringt sie einen Artikel nach dem anderen, in dem sie fragt, ob ein ehemaliger Außenminister nicht wissen müsste, wo Afghanistan und wo die Türkei liegen? Suhlt sie sich, bläst sie auf, reitet sie drauf rum?

Nichts dergleichen. Stattdessen ändert sie Kurz’ wörtliches Zitat und lässt damit den Fehler verschwinden. Im Bild.de-Artikel zum Auftritt des österreichischen Kanzlers bei “Bild TV” sagt Sebastian Kurz auf einmal:

Wenn Menschen fliehen müssen, dann halte ich Nachbarstaaten, die Türkei oder sichere Teile Afghanistans, definitiv für den richtigeren Ort, als dass die Menschen alle nach Deutschland, Österreich oder Schweden kommen.

Aus dem “wie” wurde wie von Zauberhand ein Komma.

Am Tag von Annalena Baerbocks Parteitagsrede waren im ZDF-“heute-journal”, das über den Grünen-Parteitag berichtete, der Versprecher und das “Scheiße” nach der Rede nicht zu sehen oder zu hören – vermutlich weil die Redaktion sie für nicht so berichtenswert hielt wie “Bild”. Die “Bild”-Redaktion war einigermaßen empört und schrieb dazu:

GRÜNEN-PARTEITAG: ZDF VERSCHWEIGT BAERBOCKS PATZER

Mit Dank an @robertwiesner und @Helge!

Bildblog unterstuetzen

“Bild”-Umfrage zeigt: So häufig antworteten Politiker “Bild”

Ein kleiner, aber durchaus wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer hohen Corona-Impfquote in Deutschland könnte das Impf-Verhalten von Politikerinnen und Politikern sein – im Sinne von: Wenn die den Impfstoffen vertrauen, dann kann ich das doch auch. Oder umgekehrt: Warum sollte ich mich impfen lassen, wenn die das nicht mal tun? Und so wollte die “Bild”-Redaktion wissen: “Wie sehr halten sich die Politiker an ihre eigenen Impf-Aufrufe an die Bürger?”

Screenshot Bild.de - Wie halten es eigentlich unsere Politiker? Das sind die Impf-Quoten der Bundestags-Parteien

“Bild” hat nach eigener Aussage bei allen 709 Mitgliedern des Bundestags nachgefragt, ob sie sich haben impfen lassen. Das Ergebnis:

Screenshot Bild.de - Grafik mit den Impfquoten - CDU/CSU 67 Prozent, SPD 86 Prozent, AfD 3 Prozent, FDP 81 Prozent, Linke 52 Porzent, Grüne 78 Prozent, Gesamt 64 Prozent

Auf den ersten Blick vermeintlich verblüffende Zahlen: Bei CDU/CSU, immerhin Teil der Regierung, die fürs Impfen wirbt, nur 67 Prozent? Die Linke fast zur Hälfte ungeimpft? Woher diese großen Unterschiede bei den verschiedenen Fraktionen? Und insgesamt gerade mal maue 64 Prozent? Erst nach dem zweiten dritten vielleicht vierten Blick, dem Lesen des Kleingedruckten, dem anschließenden Nachdenken über den Begriff “Mindestimpfquote” und dem erneuten Blick auf die Grafik wird klar: Die Impfbereitschaft der Parlamentarier dürfte deutlich höher sein.

Aber erstmal ein paar Erster-Blick-Reaktionen auf die “Bild”-Darstellung:

FDP und Linke überraschen. Bei FDP hätte ich mehr Gegner erwartet. Bei den Linken mehr Solidarität.

Und der mitläuferigste Mitläufer ist… Tatatataaaa

Die #SPD – what else…

Bestimmt alle von Dr. Tod aka #Lauterbach perrrsöönläch geömpft

Stolz auf @spdbt – Klasse!

Dafür habe ich mich einsperren lassen und alles mitgemacht? Dafür dass dann lauter Leute in für die Demokratie wichtigen Rollen sich dann nicht impfen lassen?

Das alles sind Reaktionen auf einen Twitter-Post von “Bild”-Redakteur Julian Röpcke, in dem er die oben gezeigte Grafik als Screenshot veröffentlichte. In alle möglichen Richtung wird sie falsch verstanden: Die SPD als eine Art Sieger der Umfrage (was sie nicht ist). Die Linke mit mangelnder Solidarität (was nicht stimmt). Die FDP mit deutlich höherer Impfbereitschaft als die meisten anderen Parteien (was man so nicht sagen kann). Und, wohl besonders gefährlich: Politikerinnen und Politiker als “Leute in für die Demokratie wichtigen Rollen”, die sich scheinbar “nicht impfen lassen” wollen.

Berechnet man die Impfquote jener Mitglieder des Bundestags, die auf die “Bild”-Anfrage geantwortet haben, liegt sie, mit Ausnahme der AfD, bei jeder Partei über 96 Prozent (Grüne – 98,7 Prozent, SPD – 97,7 Prozent, CDU/CSU – 97,1 Prozent, FDP – 96,4 Prozent, Linke 96,3 Prozent, AfD – 17,6 Prozent, Gesamt – 95,5 Prozent). Die “Bild”-Redaktion hat sich allerdings für eine andere Darstellung entschieden: Sie nimmt die Anzahl der Personen, die geantwortet haben, dass sie ein- oder zweimal geimpft sind, und teilt sie durch die Anzahl aller Mitglieder der jeweiligen Fraktion – womit sie auch die Fraktionsmitglieder einrechnet, die überhaupt nicht geantwortet haben, und bei denen man nicht sagen kann, ob sie geimpft sind oder nicht. Oder wie im Artikel erklärt wird:

Aus den Rückmeldungen errechnete BILD die “Mindest-Impfquote”, also die Quote, die sich aus den sicheren Impf-Bejahungen im Verhältnis zu allen Abgeordneten der Fraktionen im Bundestag ergibt.

Zur Verdeutlichung ein fiktives Beispiel: Fraktion X hat 100 Mitglieder, 40 antworten auf die “Bild”-Anfrage, 38 davon geben an, bereits ein- oder zweimal geimpft worden zu sein. In der “Bild”-Darstellung läge die “Mindestimpfquote” dieser Fraktion damit bei 38 Prozent. Man könnte aber auch sagen: In der Fraktion X sind 95 Prozent der Personen, die sich zurückgemeldet haben, nach eigener Aussage ein- oder zweimal geimpft worden.

So ist die “Bild”-Grafik vor allem eine Darstellung davon, welche Fraktion wie rege auf die “Bild”-Anfrage reagiert hat: Die SPD beispielsweise deutlich stärker als die Linke, die FDP stärker als die CDU/CSU. Nun kann es verschiedene Gründe haben, warum eine Politikerin oder ein Politiker nicht antwortet. Der einen mag die Angabe zur Impfung zu privat sein, der andere hat keine Lust, an einer “Bild”-Umfrage teilzunehmen. Trotzdem erklärt “Bild” die SPD zum “‘Impf-Sieger'” und schreibt: “Zwischen den Fraktionen gibt es jedoch extreme Unterschiede” – wobei der Unterschied, wie gesagt, vor allem darin besteht, ob die verschiedenen Fraktionen häufiger oder seltener geantwortet haben (klammert man die AfD mal aus).

Man kann diese “Mindestimpfquote” durchaus berechnen und sie so darstellen, wie “Bild” es gemacht hat. Wenn die Rückmeldung aus den verschiedenen Fraktionen allerdings so unterschiedlich ist, birgt die Grafik aber eine große Gefahr, missverstanden zu werden – siehe die oben zitierten Reaktionen. Problematisch wird es, wenn im “Bild”-Artikel diese Quote, die lediglich die “sicheren Impf-Bejahungen” angibt, ins Verhältnis zur “aktuellen Impfquote in der gesamtdeutschen Bevölkerung” gesetzt wird (“Sie beträgt fraktionsübergreifend 64 Prozent und liegt damit etwa fünf Prozentpunkte höher als die aktuelle Impfquote in der gesamtdeutschen Bevölkerung (59 Prozent).”). Denn bei letzterer gibt es in der Regel keine ausbleibenden Antworten auf eine Anfrage. Hinzu kommt bei den “Bild”-Zahlen ein weiterer Schwachpunkt: Es handelt sich nur um Selbstauskünfte der Politikerinnen und Politiker.

Bildblog unterstuetzen

Damals, als Julian Reichelt noch Wahlkampf für die Grünen machte

Die “Bild”-Redaktion hatte in der vergangenen Woche einen tollen Einfall, wie sie ihre Abneigung gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und ihre Abneigung gegen die Grünen in nur einem Artikel ausleben kann:

Ausriss Bild-Zeitung - Machen Wetterfrösche Wahlkampf mit Klima?

Ralf Schuler, Leiter des “Bild”-Parlamentsbüros, schreibt:

Eigentlich sollen sie nur das Wetter der nächsten Tage vorhersagen. Doch seit einiger Zeit erklären die Wettermoderatoren im Fernsehen immer öfter ausführlich die Temperaturkurven der letzten Jahre und den Klimawandel.

Als Beispiele nennt Schuler lediglich die Wettermoderatoren Karsten Schwanke (ARD) und Özden Terli (ZDF). Und fragt: “Sachliche Aufklärung oder heimlicher Klima-Wahlkampf?”

Die Antwort lässt er Hermann Binkert geben, einst selbst CDU-Politiker, zwischenzeitlich Mitglied der “Werteunion”, laut “Zeit Online” AfD-Spender und Chef des Meinungsforschungsinstituts INSA:

Fakt ist: “Je stärker das Thema Klimaschutz im Bewusstsein der Bevölkerung ist, desto eher werden die Grünen von der Kompetenz, die man ihnen hier zuspricht, profitieren”, sagt INSA-Chef Hermann Binkert.

Dazu drei Nebengedanken: 1. Wäre dann eine Zeitung, die ständig jene Themen auf der Titelseite platziert, die Rechtspopulisten in die Karten spielen, nicht genauso ein Wahlkampfblatt für die AfD? 2. Das klingt ja fast so, als würden die Grünen laut “Bild” als einzige Partei Antworten auf den Klimawandel haben. Und 3. Wenn Schuler nebulös von “seit einiger Zeit” spricht, ist schwer zu sagen, was er damit genau meint. Karsten Schwanke zum Beispiel hat im November 2018 für die ARD sehr anschaulich die Folgen des Klimawandels erklärt (und dafür eine Grimme-Preis-Nominierung erhalten). Damals war der Wahlkampf für die Bundestagswahl im September 2021 noch nicht so richtig im Gange.

Aber nehmen wir die “Bild”-Logik mal so hin.

Für unser Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” haben wir uns durch das gesamte Œuvre von Julian Reichelt gewühlt. Und dabei überraschende Seiten entdeckt. Denn vor einigen Jahren machte der heutige “Bild”-Chefredakteur und damalige “Bild”-Reporter Reichelt – jedenfalls nach “Bild”-Logik – selbst noch kräftig Wahlkampf für die Grünen. Am 10. April 2007 beispielsweise erschien in “Bild” dieser Artikel:

Ausriss Bild-Zeitung - Bild-Reporter Julian Reichelt mit dem WWF bei den Eisbären in der Arktis - Mensch, lass das Reich dieser Tiere nicht schmelzen

Schon nach dem Lesen des Einstiegs kann man gar nicht anders, als das Kreuz bei den Grünen zu setzten:

Durch arktischen Schnee, der unter meinen Polarstiefeln knirscht, stapfe ich auf ein Wunder zu.

Das Wunder des Lebens, das der eisigen Kälte trotzt (minus 20 Grad). 100 Meter schwere Schritte, 50 Meter, 10 Meter – und dann stehe ich vor ihnen. Zwei junge Eisbärbabys, die sich ins Fell ihrer Mutter kuscheln. Ich sehe das Blinzeln ihrer schwarzen Augen, die wie kleine Kohlestücke sind. Ich sehe das Zittern ihrer Nasen. Ich sehe, wie sich der Körper ihrer Mutter hebt und senkt.

Ich sehe den ganzen überwältigenden Zauber der Natur, der in den Händen des Menschen liegt. Den Zauber, den wir erhalten MÜSSEN.

Reichelts damalige “Lektion aus dem Eis”:

Die globale Erwärmung bedroht das, was unseren Planeten so einzigartig macht!

Warum überhaupt der Besuch beim Eisbär?

Weil sein Lebensraum langsam schmilzt, wurde der Eisbär zum traurigen Wappentier der Erderwärmung. Zum einsamen Helden der Klimakatastrophe. Deswegen hat BILD ihn besucht. Um zu zeigen, welch fantastische Natur wir riskieren, weil wir schneller Auto fahren, öfter fliegen, das Licht in der Wohnung länger brennen lassen wollen.

Als hätte er es direkt aus dem Wahlprogramm der Grünen abgeschrieben. Und so gibt es am Ende des Artikels noch mal einen eindringlichen Appell:

Aber schon am nächsten Tag werden wir eine Eisbärin ohne Junge finden. Ich werde mit meinen Händen das Fell berühren. Die dicken Strähnen, die rau sind vom Meerwasser.

Ich werde berühren, was wir bewahren müssen.

Acht Monate später legte Reichelt mit dem “erschütternden BILD-Report” nach:

Ausriss Bild-Titelseite - Der erschütternde Bild-Report - So machen wir unsere Erde kaputt

Die “Bild”-Redaktion startete zeitgleich die Aktion “RETTET UNSERE ERDE”, in Kooperation mit Greenpeace, dem BUND und WWF: “Darum müssen wir endlich handeln! ES GEHT UM DIE RETTUNG DER ERDE!”

Viel ist von alldem heute nicht mehr übrig. Stattdessen machen “Bild” und Julian Reichelt es nun schon zum Skandal, wenn Wettermoderatoren “ausführlich die Temperaturkurven der letzten Jahre” erklären.

Bildblog unterstuetzen

Belgiens Justizminister findet “Bild”-Vorgehen “moralisch verwerflich”

Am Sonntag wurde in einem belgischen Nationalpark, nicht weit von der Grenze zu Deutschland, die Leiche eines Mannes entdeckt. Es handelt sich dabei um einen ehemaligen Soldaten, der unter Verdacht des Terrorismus und des Rechtsextremismus stand und vor etwa vier Wochen schwerbewaffnet flüchtete, nachdem er Todesdrohungen gegen den bekanntesten Virologen Belgiens ausgesprochen hatte. Die zuständige Staatsanwaltschaft geht von einem Suizid aus.

Die “Bild”-Medien hatten über den Fall und die Suche nach dem Mann ausführlich berichtet. Und sie berichten nun auch ausführlich über den Fund der Leiche: gestern online bei Bild.de und bei “Bild TV”, heute in der gedruckten “Bild”. Die Redaktion zeigt dabei auch ein Foto beziehungsweise ein Video der stark verwesten Leiche. Nur an manchen Stellen hat sie die Aufnahmen verpixelt.

Dieses Vorgehen der “Bild”-Medien findet Belgiens Justizminister Vincent Van Quickenborne – vor allem mit Blick auf die Angehörigen – “geschmacklos und verwerflich”:

Das Aufnehmen und das Veröffentlichen dieser Bilder ist geschmacklos und verwerflich. Es ist inakzeptabel. Es spielt dabei keine Rolle, um wen es geht: Täter, Opfer oder sonst wen. Es ist moralisch verwerflich.

Van Quickenborne spricht von einer “ausländischen Zeitung”, es ist aber recht eindeutig, dass “Bild” gemeint ist, wie auch die belgische Tageszeitung “De Standaard” schreibt. Der Justizminister bedankt sich bei den belgischen Medien, dass sie die Aufnahmen nicht veröffentlicht haben.

Wer sie der “Bild”-Redaktion geschickt hat, ist nicht ganz klar. Der Mann, der die Leiche gefunden und Fotos sowie ein Video angefertigt hat, bestreitet, die Aufnahmen an “Bild” weitergegeben oder verkauft zu haben. Er sagt, er kenne “Bild” gar nicht, was etwas überraschend ist, schließlich hat er nachweislich “Bild TV” ein Interview gegeben. Die zuständige Staatsanwaltschaft hat eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet. Das Büro des Justizministers teilte mit, dass Schritte vorgenommen werden sollen, um die Fotos und Videos aus den ausländischen Medien entfernen zu lassen.

Rechtlich scheint der Fall allerdings nicht eindeutig zu sein: In Belgien ist derzeit zwar die Schändung eines Grabes strafbar, nicht aber die Schändung der Überreste eines Verstorbenen, etwa durch Fotografieren und Verbreiten der Fotos. Justizminister Van Quickenborne will das nun ändern:

Das Aufnehmen/Verbreiten solcher Bilder ist verwerflich. Schrecklich für die Hinterbliebenen. Im neuen Strafgesetzbuch wird die Schändung strafbar sein.

Mit Dank an Philine, Sebastian und Chris für die Hinweise!

***

Solltest Du Suizid-Gedanken haben, dann gibt es Menschen, die Dir helfen können, aus dieser Krise herauszufinden. Eine erste schnelle und unkomplizierte Hilfe bekommst Du etwa bei der “TelefonSeelsorge”, die Du kostenlos per Mail, Chat oder Telefon (0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222) erreichen kannst.

Blättern:  1 ... 12 13 14 ... 111