Autoren-Archiv

Weihnachts- und Winterpause

Liebe Leserinnen und Leser,

wir sind ab heute in der Weihnachts- und Winterpause. Ab dem 13. Januar geht’s hier wieder weiter. Bis dahin wünschen wir euch allen eine schöne Weihnachtszeit, ein paar ruhige Tage und einen guten Start ins neue Jahr!

Liebe Grüße
vom BILDblog-Team

Zur Rückkehr von Marion Horn

Im November 2019, als klar war, dass Marion Horn den Axel-Springer-Verlag verlassen wird, hatten wir hier im BILDblog einen kritischen Blick auf Horns Schaffen als Chefredakteurin der “Bild am Sonntag” veröffentlicht: Zum Abschied von Marion Horn.

Was von uns als Rückschau auf die kleinen Merkwürdigkeiten und das große Schlimme gedacht war, könnte nun als Vorschau dienen: Gestern wurde bekannt, dass Marion Horn zum Springer-Verlag zurückkehrt, als Vorsitzende der Chefredaktionen der “Bild”-Gruppe. Daher veröffentlichen wir unseren Beitrag von damals unverändert hier noch einmal: Zur Rückkehr von Marion Horn.

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Marion Horn war nicht mal ein halbes Jahr im Amt, da zeigten sich selbst hartgesottene Islamhasser beeindruckt. So schrieb das Hetzportal “Politically Incorrect” im März 2014 verblüfft:

Ja was ist denn in die BILD am SONNTAG (BamS) gefahren? (…) Gleich zwei mal packt das Springer-Blatt das heiße Thema Islam an – und zwar in einer Deutlichkeit, die es in sich hat.

Schon auf dem Titelblatt prangt die unmissverständliche Headline: “Islam-Rabatt für Jolins Mörder”. Ohne Fragezeichen!

Tatsächlich behauptete die “Bild am Sonntag” gemeinsam mit den anderen “Bild”-Medien ohne Fragezeichen, in Deutschland gebe es einen “Islam-Rabatt”, also mildere Strafen vor Gericht, wenn es sich bei den Straftätern um Muslime handelt.

Titelseite BILD am Sonntag: Islam-Rabatt für Jolns Mörder

In Wahrheit kam eine Studie, die die “Bild”-Medien als vermeintlichen Beleg für den in Deutschland vorherrschenden “Islam-Rabatt” anführten, sogar zum genau gegenteiligen Schluss: Deutsche Strafgerichte würden sogenannte Ehrenmörder “nicht milder als andere Beziehungstäter” behandeln, “sondern sogar strenger.”

Der zweite Artikel in der “Bild am Sonntag”, über den sich “Politically Incorrect” damals so freute, war ein Interview mit einem deutsch-türkischen Schriftsteller – große “BamS”-Überschrift: “‘Islam gehört zu uns wie die Reeperbahn nach Mekka'”.

Fazit der Fremdenfeinde:

“Zum Regieren brauche ich BILD, BamS und Glotze”, sagte Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder vor zehn Jahren. Wenn die oben erwähnten Artikel eine intensive und schnörkellose Debatte über die Gefahren des Islam in Deutschland auslösen, könnte die BamS vom heutigen 30. März 2014 eine nicht zu unterschätzende Katalysator-Funktion gehabt haben.

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So ging sie also los, Marion Horns Karriere als Chefredakteurin der “BamS”. Und nun, gut sechs Jahre später, geht sie zu Ende: Wie der Axel-Springer-Verlag in dieser Woche mitteilte, verlässt Horn die “Bild am Sonntag”.

Mit “Kompetenz und Leidenschaft” habe sie als Chefredakteurin “insbesondere die investigative und politische Relevanz von BILD am SONNTAG geprägt”, sagte Springer-Chef Mathias Döpfner.

Werfen wir zum Abschied also einen Blick zurück auf ihr glorreiches Werk.

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Als erste Frau an der Spitze der “BamS”, als bekennende “schlimme Feministin” ging es ihr immer auch darum, ein Zeichen zu setzen: für Frauen, gegen Sexismus. Klischees und stereotype Rollenbilder seien ihr zuwider, sagte sie mal, und dagegen kämpfe sie an:

Wir versuchen bei “BamS”, andere Frauenbilder zu zeigen.

Zum Beispiel solche:

Ein großes Foto in der

Herzogin Kate war im Mai 2014 “dem Wind sei Dank” das Kleid hochgerutscht, wodurch ihr Po entblößt wurde.

Der Windhauch des royalen Helikopters bei der Landung in den australischen Blue Mountains sorgte für diesen kurzen, aber magischen Moment.

Diesem “magischen Moment” widmete die “Bild am Sonntag” unter Feministin Horn fast die ganze letzte Seite.

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Im Juli 2014 veröffentlichte die “BamS” neben den anderen “Bild”-Medien zahlreiche Fotos und persönliche Informationen von Menschen, die beim Abschuss eines Flugzeuges über der Ukraine ums Leben gekommen waren.

Eine Erlaubnis der Angehörigen hatte die Redaktion nicht eingeholt. Die Veröffentlichung wurde später auch vom Presserat kritisiert.

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Wenige Tage später entschied sich Marion Horn für den Abdruck eines islamfeindlichen Kommentars ihres damaligen Stellvertreters Nicolaus Fest. “Der Islam stört mich immer mehr”, schrieb er darin, ihn störe “die weit überproportionale Kriminalität von Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund”, “die totschlagbereite Verachtung des Islam für Frauen und Homosexuelle” und vieles mehr. Der Islam sei wohl “ein Integrationshindernis”, was man “bei Asyl und Zuwanderung ausdrücklich berücksichtigen” solle.

Ich brauche keinen importierten Rassismus, und wofür der Islam sonst noch steht, brauche ich auch nicht.

Nach massiver Kritik verließ Fest die “Bild am Sonntag”. Horn entschuldigte sich mehr oder weniger – und blieb.

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Im Monat darauf verkündete die “Bild am Sonntag” exklusiv, Schauspieler Henning Baum habe das Ende seiner Serie “Der letzte Bulle” bestätigt. Noch am selben Tag teilte sein Management mit, das Zitat in der “BamS” sei frei erfunden.

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Zwei Wochen später berichtete die “Bild am Sonntag” über den Mord an einem 14-jährigen Mädchen und druckte im Artikel ein Foto des vermeintlichen Täters, das die Redaktion bei Facebook geklaut hatte:

Tatsächlich hatte der Abgebildete überhaupt nichts mit der Tat zu tun.

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Im Dezember 2014 fragte die “Bild am Sonntag” empört:

Haben wir nicht alle Lichter am Baum?

Denn in Berlin-Kreuzberg, so die Behauptung der “BamS”, müsse der Weihnachtsmarkt neuerdings “Winterfest” heißen. Auf “dem Altar der politischen Korrektheit” werde “die christliche Tradition geopfert”, insinuierte das Blatt.

In Wahrheit stimmte die Geschichte gar nicht: “Wie die Märkte sich nennen, ist uns total egal”, erklärte das zuständige Bezirksamt auf unsere Nachfrage. Die “Bild am Sonntag” hatte sich das Weihnachtsmarktverbot ausgedacht – und lieferte den besorgten Bürgern und Islamhassern einmal mehr neue Munition.

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Im darauffolgenden Frühjahr berichtete die “BamS”, dass die Schweizer Bundesanwaltschaft Franz Beckenbauer wegen der WM-Vergabe an Russland und Katar als Zeugen befragen wolle. Die Schweizer Bundesanwaltschaft teilte auf unsere Nachfrage mit, dass das Quatsch sei. Die Geschichte in der “Bild am Sonntag” sei sogar “mehrfach falsch”. Die Redaktion habe nicht mal bei ihr nachgefragt.

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Im Monat darauf schrieb die “BamS” auf ihrer Titelseite, Angela Merkel habe in Bayreuth einen “Kollaps” erlitten.

Angela Merkel - Kollaps in Bayreuth
Zwei Stunden nach diesen Fotos kippte Merkel um

Die Meldung des angeblichen Schwächeanfalls verbreitete sich rasend schnell, doch kurz darauf brachte die Nachrichtenagentur AFP folgende (wortwörtliche) Breaking News:

Regierungssprecher: Merkel bei Wagner-Festspielen nicht kollabiert – Kein Schwächefall – Stuhl der Kanzlerin brach zusammen

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Im August 2015 wurde in Schleswig-Holstein die Leiche eines Mannes gefunden, der Suizid begangen hatte. Daraufhin bat die Polizei die Medien darum, die Fotos, die sie zur Fahndung veröffentlicht hatte, “aus der Berichterstattung zu nehmen”.

Die “Bild am Sonntag” ignorierte nicht nur die Bitte der Polizei, sondern lieferte möglichen Nachahmern auch gleich noch den genauen Ort des Suizids:

Von dieser Brücke sprang ein Vater in den Tod

(Wenn du selber Probleme hast, depressiv bist oder über Suizid nachdenkst, kansst du dich jederzeit unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 an die TelefonSeelsorge wenden.)

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Anfang 2016 druckte die “Bild am Sonntag” zahlreiche Fotos und persönliche Informationen von Menschen, die bei einem Zugunglück in Bad Aibling gestorben waren.

Diesen 11 Opfern schuldet ihr die Wahrheit! (dazu 11 Porträtfotos)

Eine Zustimmung der Angehörigen lag wieder nicht vor, und wieder wurde die Veröffentlichung vom Presserat kritisiert.

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Wenige Monate später druckte die “Bild am Sonntag” zahlreiche Fotos und persönliche Informationen von Menschen, die bei einem Anschlag auf ein Einkaufszentrum in München getötet worden waren.

Titelseite der

Eine Zustimmung der Angehörigen lag wieder nicht vor, und wieder wurde die Veröffentlichung vom Presserat kritisiert.

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Im September 2016 druckte die “Bild am Sonntag” einen Gastkommentar des Fußballers Arne Friedrich. Der meldete sich kurz darauf bei Twitter zu Wort und erklärte, die Redaktion habe in seinem Kommentar rumgepfuscht. Als Beweis schickte er einen Screenshot seines Originaltextes mit:

Negative Überschrift eingesetzt, Textteile weggelassen, so wird aus positiv plötzlich negativ. @HerthaBSC @bild Daumen-nach-unten-Emoji

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An Ostern 2017, nachdem ein Mann einen Anschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund verübt hatte, titelte die “Bild am Sonntag”:

Gott sei Dank -BVB-Bomben zündeten eine Sekunde zu spät

Wie sich später herausstellte, war auch diese Geschichte Unsinn. Die Bundesanwaltschaft teilte in einer Pressemitteilung mit, die Sprengsätze seien “zeitlich optimal gezündet” worden.

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Anfang 2018 behauptete die “Bild am Sonntag”:

4 von 5 Flüchtlingen fallen bei Deutsch-Test durch

Doch auch diese Schlagzeile war falsch. Tatsächlich ergab die Statistik, dass nicht “4 von 5 Flüchtlingen” bei ihrem Deutsch-Test durchfallen, sondern dass vier von fünf Flüchtlingen, die Analphabeten sind, nicht das Sprachniveau B1 erreichen. Insgesamt schafften nicht nur 20 Prozent einen Abschluss, wie von “BamS” behauptet, sondern 76 Prozent.

Auch diese falsche Schlagzeile war eine willkommene Vorlage – nicht nur für andere Medien, sondern vor allem für rechte Hetzer.

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Wenige Wochen später schrieb die “Bild am Sonntag”:

Weil Behörde Asylantrag zu spät bearbeitete - 7300 Euro im Monat für Flüchtlingsfamilie

Was in der Überschrift schon mal nicht klar wurde: Dabei handelte es sich nicht um eine drei- oder vierköpfige Familie, sondern um eine Mutter mit neun Kindern. Zudem wurden die 7300 Euro für die zehnköpfige Familie nicht bar ausgezahlt, sondern ein Großteil wurde schon vorher abgezogen, um die Kosten für die Unterbringung in einem Asylwohnheim inklusive aller Nebenkosten zu begleichen. Auch die Dauer der Bearbeitung war entgegen der “BamS”-Behauptung komplett irrelevant. Und auch sonst gab sich die “Bild am Sonntag” große Mühe, in dem Artikel möglichst viel Irreführendes und Falsches unterzubringen.

Tatsächlich hätte jede deutsche Mutter mit neun Kindern im selben Alter als Sozialhilfeempfängerin genauso viel und dieselben Leistungen bekommen wie die Flüchtlingsfamilie. Davon war in der “Bild am Sonntag” allerdings nichts zu lesen.

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Als im Dezember 2018 über die Nachfolge von Angela Merkel an der Spitze der CDU abgestimmt werden sollte, veröffentlichte die “Bild am Sonntag” eine Liste von 1001 Delegierten und verriet, für welchen Kandidaten/welche Kandidatin sie jeweils stimmen würden. Allerdings erklärten daraufhin etliche der angeblich Befragten, sie hätten überhaupt nicht mit der “Bild am Sonntag” gesprochen.



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Sechs Jahre war Marion Horn Chefredakteurin der “Bild am Sonntag”. Sechs Jahre, in denen ihr Blatt Unwahrheiten in die Welt setzte, Persönlichkeitsrechte verletzte und den Hass gegen den Islam befeuerte. Die Liste ließe sich noch viel weiter fortsetzen, mit Schleichwerbung, geheuchelter Selbstkritik oder politischen Kampagnen.

Oder wie man beim Axel-Springer-Verlag sagt: “Kompetenz und Leidenschaft”.

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Winterpause

Liebe Leserinnen und Leser,

wir hoffen, ihr hattet schöne Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr!

Hier im BILDblog ist derzeit noch Winterpause – ab kommenden Montag, 10. Januar, gibt es wieder Neues zu lesen.

Bis dahin alles Gute,
euer BILDblog-Team

“Bild” und Hitlers Badewanne

Der folgende Text sollte eigentlich in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” erscheinen, hat aus Platzgründen aber einfach nicht mehr reingepasst. Darum freuen wir uns, ihn nun exklusiv hier zu veröffentlichen.

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Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Das Drei-Millionen-Dollar-Märchen

Um ihre spektakulären Schlagzeilen zu konstruieren, braucht die “Bild”-Zeitung nicht viel. Manchmal genügt ein kleines Stück altes Papier.

„Es ist nur ein kleines Stück altes Papier, doch es kann ihr Leben verändern!“, schreibt die Dresdner “Bild”-Regionalausgabe im Herbst 2012.1 Auf einem Flohmarkt hätten Rentner Herbert und Lebensgefährtin Astrid (Namen geändert) einen Schwung alter Briefmarken gekauft. „Als ich diese auf dem Küchentisch ausbreitete, stockte mir der Atem!“, sagt Opa Herbert. Denn vor ihm liegt allem Anschein nach eine absolute Rarität: eine blaue One-Cent-Briefmarke mit dem Konterfei von Benjamin Franklin und einem eingepressten Muster, dem sogenannten „Z Grill“. Sie ist eine der seltensten Briefmarken der Welt, bisher sind lediglich zwei Exemplare bekannt (zum Vergleich: von der „Blauen Mauritius“ existieren noch zwölf2). Darum beträgt der Katalogwert der „Z Grill“ auch stolze drei Millionen Dollar.3

Ob Opa Herbert auf seinem Küchentisch genau diese Marke liegen hat, muss aber erst noch geprüft werden. „Das Echtheitszertifikat kann in diesem Fall jedoch nur die ‚Philatelic Foundation‘ in New York ausstellen“, zitiert “Bild” einen Briefmarkenexperten. Doch da gibt es einen Haken. Opa Herbert: „Ich habe nur 600 Euro Rente. Damit kann ich mir die Reise und die Prüfgebühr nicht leisten.” Verzweifelt suche er jetzt einen Sponsor, schreibt “Bild”, und damit endet der Artikel.

Dann passiert ein paar Tage lang gar nichts. Doch als plötzlich die britische “Daily Mail” über den Fall berichtet4, erkennt “Bild” offenbar das Potenzial der Story und hebt sie groß in die Bundesausgabe: „SAMMLERGLÜCK! Rentner findet 2,5-Mio.-Briefmarke auf dem FLOHMARKT“.5 Nun springen auch andere nationale und internationale Medien auf und berichten über die „Sammlersensation vom Flohmarkt“.6 Ob es sich bei der Briefmarke wirklich um das seltene Stück handelt, stehe aber immer noch nicht fest, schreibt “Bild”: „Offiziell muss die Echtheit der One-Cent-Marke noch von der ‚Philatelic Foundation‘ in New York bestätigt werden. Ohne ein Zertifikat dieser Stiftung kann die Marke nicht in einem Auktionshaus verkauft werden.“

Und dank der bundesweiten Aufmerksamkeit gibt es für die „Briefmarken-Millionäre“, wie “Bild” sie schon nennt, eine gute Nachricht: Ein Verlag für Briefmarkenzubehör bietet an, die Reisekosten nach New York zu übernehmen. Opa Herbert beantragt sofort einen neuen Reisepass: „Mein alter ist fast abgelaufen, genügt für den Flug nach New York nicht mehr.“7

Drei Wochen später ist es dann so weit: Endlich treten Opa Herbert und der “Bild”-Reporter die langersehnte Reise an. Endlich kann die Briefmarke auf Echtheit geprüft werden. Endlich geht es mit dem Flugzeug nach: London. „Jetzt brachte er seine Marke persönlich nach London – zur Wertermittlung. BILD begleitete ihn!“

Nanu? Statt in die USA fliegen sie auf einmal nach England. Und legen die Marke nicht der „Philatelic Foundation“ in New York, sondern der „Royal Philatelic Society“ in London vor. Eine Erklärung für den plötzlichen Kurswechsel liefert “Bild” nicht.

Der Grund ist aber nicht schwer zu erraten. Denn in New York wäre ihnen etwas dazwischengekommen, das der sensationellen Berichterstattung ein schnelles Ende bereitet hätte: die Wahrheit.

Schon einen Tag nachdem “Bild” zum allerersten Mal über den Fall berichtet hatte, also lange bevor die “Bild”-Maschinerie so richtig anlief, hatte die New Yorker „Philatelic Foundation“ bereits öffentlich und sehr eindeutig erklärt, dass die Briefmarke nicht die erhoffte Rarität sei: „Wir haben ihm [Opa Herbert] mitgeteilt, dass es nicht der Z-Grill ist“, sagte David Petruzelli von der Foundation gegenüber der amerikanischen “Huffington Post”, die den Fall in der “Bild”-Zeitung entdeckt und dann bei der Foundation nachgefragt hatte. 8 „Er hat uns einen guten Scan davon zugeschickt. Es ist nicht die Briefmarke“, so das Ergebnis der Experten. Der Mann solle sich nicht damit herumquälen, einen Sponsor zu suchen und nach New York zu fliegen. Das hätten schon viele Sammler getan und seien dann enttäuscht worden. Die Marke von Opa Herbert sei es nicht mal wert, daran zu lecken, jedenfalls nicht im Vergleich zu drei Millionen Dollar. „Ich habe mein Bestes gegeben, ihm zu erklären, dass es nicht die Briefmarke ist. Wir wollten nicht, dass er sich die Mühe macht.” Der Fund sei wahrscheinlich nicht der „Z Grill“, sondern ein „F Grill“. Er schätze den Wert auf unter hundert Dollar.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften die Leute von “Bild” also gewusst haben, dass an der Geschichte nichts dran ist. Doch statt ihre Leser darüber aufzuklären, geben sie sich erst richtig Mühe, das Märchen von der „Millionen-Marke“ als Wahrheit zu verkaufen. So zitieren sie (eine Woche nachdem der New Yorker Experte erklärt hatte, dass es nicht die besagte Briefmarke sei) unter der Überschrift: „Profis von Millionen-Marke begeistert“ einen deutschen Gutachter mit den Worten: „Sie ist zu 99 Prozent echt, womöglich wertvoller als die Blaue Mauritius. Eine Fälschung ist unwahrscheinlich.“9

Derselbe „Gutachter“ erklärt jedoch wenig später dem “Briefmarken Spiegel”:

„Also erstmal bin ich kein Gutachter. Und zweitens sind die Sätze vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Ich habe zwar erwähnt, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine echte, also schlichtweg um eine nicht gefälschte Briefmarke handelt, die auch echt gelaufen sein dürfte. Aber ich habe nie behauptet, dass es sich um die besagte Rarität handelt. Dies könnte ich ja auch gar nicht beurteilen.” Dazu in der Lage wäre einzig die Philatelic Foundation.10

Und was die von der Briefmarke hält, wissen wir ja nun. “Bild” aber erwähnt New York einfach überhaupt nicht mehr und reist ohne Erklärung nach London – wo die Marke erst einmal in einem Tresor landet, weil die Prüfung „ein halbes Jahr dauern“ könne, wie “Bild” schreibt.

Am Ende des Tages durfte [Opa Herbert] seine Marke persönlich in den großen Tresorraum der Royal Society legen – wo sie jetzt bleibt. Dann rief er Freundin [Astrid] (71) in Sachsen an: „Es ist geschafft, ich liebe dich!“11

Mit dieser rührenden Szene endet die Serie über das kleine Stück Papier, aus dem “Bild” ein halbes Dutzend Artikel und internationale Aufmerksamkeit generieren konnte. Während die eigentliche Frage, ob es wirklich drei Millionen Dollar wert ist, für die “Bild”-Leser weiter unbeantwortet bleibt.

Im Sauseschritt Ost-West-Konflikt

Die Wahrheit, schreibt Günter Wallraff schon 1977 in „Der Aufmacher“, liege bei “Bild” „oftmals weder in noch zwischen den Zeilen, sie liegt mehr unter den Zeilen, jedenfalls unter den gedruckten“. Gedruckt werde alles, was die Auflage steigert; nicht gedruckt werde, was den Verkauf nicht fördert. „Ein klassisches Prinzip, einfach und gleichzeitig universell anwendbar.“ 12

Dass die Briefmarke von Opa Herbert laut den Experten in New York weniger als hundert Dollar wert ist, wird nicht gedruckt. Und dass auch die Prüfer in London schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass es sich mitnichten um die wertvolle Rarität handelt, wird von “Bild” erst Jahre später in einem Nebensatz erwähnt. Aber auch davon lässt sich die Redaktion nicht beirren: Im selben Artikel behauptet sie weiterhin, Opa Herbert habe die „Millionen-Briefmarke“ gefunden, einen „wertvollen Schatz, der sogar die blaue Mauritius in den Schatten stellt“.13

Diese selektive Realitätsverweigerung ist ein wesentlicher Bestandteil in der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Ein Mittel, das die Redakteure einsetzen, um Geschichten künstlich aufzubauschen und am Leben zu halten. Nicht nur bei den großen, ernsten Themen wie Ausländerkriminalität oder Corona, auch bei kleineren, leichteren wie eben Briefmarken. Oder dem Sandmännchen.

Über das hat der “Bild”-Reporter, der für die Briefmarken-Story verantwortlich war, ein paar Jahre zuvor auch mal einen Artikel geschrieben, der ebenfalls für großes Aufsehen sorgen sollte. „Sandmann in den Westen verkauft“, lautet die Schlagzeile, die im Februar 2009 ausschließlich in den ostdeutschen Ausgaben von “Bild” zu lesen ist. Im Artikel schreibt der Reporter, dass „der Osten“ ab April „die Lizenz für seinen größten TV-Liebling“ verliere:

Generationen von Kindern brachte Sandmännchen (…) seit 1959 ins Bett. Und bis heute schalten ihn täglich 1,5 Mio. Fans ein. Genauso erfolgreich ist der TV-Knirps als Märchenfigur auf den Bühnen zwischen Rügen und Fichtelberg.

Doch damit ist jetzt Schluss. Ausgerechnet zum 50. Sandmann-Geburtstag hat der RBB die Sandmann-Lizenz in den Westen verkauft. Und zwar an das Kölner Theater Cocomico. (…) Der Vertrag läuft vorerst zwei Jahre. Danach können wir wieder auf unseren Sandmann hoffen!14

Tatsächlich wurden lediglich die Musical-Rechte an das Kölner Theater vergeben, wie uns ein RBB-Sprecher damals auf Nachfrage erklärt. Für das Sandmännchen im Fernsehen bleibe alles wie gehabt – was auch “Bild” bekannt gewesen sein dürfte, denn zwei Tage vorher hatte bereits die “Sächsische Zeitung” berichtet, dass sich an der Ausstrahlung im Fernsehen nichts ändere.

Nach Erscheinen des “Bild”-Artikels ruft ein Sprecher des RBB beim Autor des Textes an und weist ihn darauf hin, dass die Berichterstattung irreführend sei. Doch der lässt sich nicht vom Kurs abbringen und schreibt in der nächsten “Bild”-Ausgabe wieder über das Sandmännchen:

Der schnelle Verkauf unseres Sandmännchens in den Westen – Tausende Kinder zwischen Rügen und Fichtelberg sind traurig. (…) „Die Entscheidung, die Lizenz nach Köln zu geben, ist uns nicht leicht gefallen“, räumt [ein RBB-Sprecher] ein.15

Letzteres sei übrigens, wie uns der RBB-Sprecher damals versichert, ein Satz, den “Bild” „komplett frei erfunden“ habe.16 Er selbst habe das „nie gesagt“ – nicht zuletzt deshalb nicht, weil das Sandmännchen im Westen ohnehin längst so beliebt sei wie „zwischen Rügen und Fichtelberg“ und mehrere Jahrzehnte nach dem Mauerfall eigentlich nicht zum Ost-West-Konflikt tauge.

Eigentlich.

„Ist das die Unterhose von Eva Braun?“

Auch bei anderen Themen wird die Wahrheit häufig tief unter den Zeilen begraben. Gut zu beobachten beispielsweise in der Berichterstattung über einen alten Dauergast der “Bild”-Medien.

„Hitlers geheimer Gold-Zug!“, heißt es im Spätsommer 2015 groß auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung, dazu ein Foto von Adolf Hitler, hinter ihm ein mit Kanonen bestückter NS-Zug.17 Im Westen Polens sei „ein verschollener Panzerzug der Wehrmacht entdeckt“ worden, schreibt “Bild”, an Bord sollen sich „von den Nazis geraubte Schätze und Kunstwerke befinden“. Zwei Hobbyforscher seien auf den Sensationsfund gestoßen, weil ihnen ein alter Mann auf dem Sterbebett das Versteck verraten habe. Ein polnischer Minister habe den Fund „zu 99 Prozent“ bestätigt.

In seriösen Medien kommen sofort Zweifel auf. “Spiegel Online” zitiert den polnischen Zentralbankchef, der die Geschichte einen „Hoax“ nennt.18 “Zeit Online” interviewt einen polnischen Geschichtsjournalisten, der sich an die erfundenen Hitler-Tagebücher erinnert fühlt. Auch die angeblichen Beweisfotos seien „dubios“, befindet “Zeit Online” und ahnt: Der Sensationsfund „könnte zur Ente verpuffen“.19

“Bild” hingegen lässt so gut wie keinen Zweifel an der Sache und ist ganz vorne mit dabei: „BILD vor Ort – Was passiert mit Hitlers Gold-Zug?“, „BILD traf den Mann, der das Geheimnis lüften kann“, „Historikerin brachte BILD-Reporter auf die Spur“. Tagelang folgt ein Artikel auf den nächsten: „Nazi-Zug versetzt Experten in Goldrausch“, „Juwelen, Gold, Bernsteinzimmer? Das Geheimnis um den Nazi-Zug von Polen“, „Zeigen Satelliten-Bilder, wo der Nazi-Zug steckt?“, „Geteilte Böschung mit auffälligem Bewuchs: Führt diese Furche zu Hitlers Gold-Zug?“20

Währenddessen machen sich, wie der Korrespondent von “Zeit Online” berichtet, „tausende Schaulustige und Abenteurer“ auf den Weg nach Niederschlesien, „um sich in den teils einsturzgefährdeten und womöglich verminten Stollen auf Schatzsuche zu begeben – und dabei in Lebensgefahr“.21 Sechs Tage später stürzt ein 39-jähriger Mann auf der Suche nach dem Zug in eine Vertiefung und stirbt.22

Als auch in den Wochen danach keiner der zahllosen Schatzsucher fündig wird, verschwindet der vermeintliche Hitler-Schatz nach und nach wieder aus der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Als die Suche einige Monate später offiziell abgebrochen wird23, ist ihnen das nicht mal mehr eine kleine Meldung wert.

Die “Bild”-Artikel zum angeblichen Nazi-Gold-Zug sind auch heute noch online abrufbar. Viele davon sind mit großen Fotos von Adolf Hitler bebildert, einige nur gegen Bezahlung lesbar. Hitler verkauft sich. Was selbst “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner sauer aufstößt:

Was mich anwidert, ist, dass Hitler eine Art Marke geworden ist. (…) Was mich nervt, ist seine unverminderte Gegenwart. Hitler-Filme, Zeichnungen von ihm werden in Auktionshäusern feilgeboten, Filme, „Der Untergang“, Bücher, „Er ist wieder da“.

Seine Ur-Enkel sind wieder da, sie werfen Brandbomben auf Flüchtlingsheime.

Mit dem Gold-Zug ist Hitler wieder da. Das Finstere, das Abscheuliche.

Die Schatzsuche nach dem Nazi-Gold ist für mich wie in Scheiße suchen.24

In der wühlt Wagners Heimblatt aber immer wieder gerne. Die Münchner Regionalausgabe von “Bild” zum Beispiel macht ein paar Monate vor dem Nazigoldrausch in Polen eine andere vermeintliche Hitler-Entdeckung, diesmal im Keller einer Hochschule.

„Das ist Hitlers Reichspartei-Badewanne“, titelt sie über dem halbseitigen Foto einer gammeligen Badewanne. Sie sei „schon ganz braun“, witzeln die Autoren: ein „rechteckiges Stück Geschichte – direkt aus Adolf Hitlers Büro-Badezimmer!“ Und exklusiv hinein in die “Bild”-Zeitung. Die Wanne sei zwischen 1933 und 1937 „in das Dienstbad des Diktators“ eingebaut worden und schließlich im Keller der Hochschule gelandet, heißt es im Artikel.25

Auf die Frage, ob sich Hitler „am Feierabend hier bei einem Schaumbad“ entspannte, gibt sich “Bild” die Antwort zwar gleich selbst – „höchstwahrscheinlich nicht“ –, doch das hält sie nicht davon ab, groß über den angeblich sensationellen Fund zu berichten. Belege gibt sie für das alles nicht an, weder Zitate von Experten noch handfeste Spuren oder Beweise, nicht mal ihre Quelle verraten die Autoren.

Der Kanzler der Hochschule erklärt uns damals auf Nachfrage:

Die Meldung ist aufgrund einer nicht autorisierten Auskunft unseres Hausmeisters erschienen. “Bild” hatte einen Bericht über unterirdische Gänge in München bringen wollen. Dabei sahen die Reporter die Badewanne im Keller und haben nachgefragt. Ob die Badewanne wirklich aus Hitlers Badezimmer stammt, wissen wir nicht. Ich wehre mich deshalb stets gegen Spekulationen. Leider war “Bild” nicht bereit, auf die Meldung zu verzichten.26

Stattdessen macht “Bild” aus der ranzigen Badewanne, in der Hitler höchstwahrscheinlich nicht gebadet hat, eine fast ganzseitige Geschichte und lässt jegliche Zweifel unter einer großen Schlagzeile verschwinden.

Im Juni 2017 dominiert Hitler wieder die “Bild”-Titelseite. „Hitlers Silberschatz gefunden“, heißt es dort groß neben einem Foto des Diktators. In Argentinien sei hinter einem Bücherregal ein „bizarrer Nazi-Schatz“ entdeckt worden: „STATUEN, KATZEN-SPARDOSE!“27 Als sich drei Monate später herausstellt, dass es sich um Fälschungen handelt28, ist davon in der “Bild”-Zeitung nichts mehr zu lesen.

„Hitlers geheimer Cognac-Keller entdeckt“, titelt “Bild” im Sommer 2015.29 Hier, in einem Keller in Sachsen, behauptet die Zeitung, habe „Adolf Hitler (†56) Ende 1944 seine Delikatessen und Unmengen Cognac“ versteckt. Beweise dafür hat sie bis heute nicht geliefert.30

„Es ist immer das Gleiche“, heißt es im 1978 erschienenen Dramolett „Der deutsche Mittagstisch“ von Thomas Bernhard: „Kaum sitzen wir bei Tisch an der Eiche, findet einer einen Nazi in der Suppe. Und statt der guten alten Nudelsuppe bekommen wir jeden Tag die Nazisuppe auf den Tisch. Lauter Nazis statt Nudeln.“31

Bei “Bild” wird vor allem einer aufgetischt. „Hitlers Lieblingsbücher“32, „Hitlers Bar“33, „Hitlers Mietvertrag“34, „Hitlers Hoden-Diagnose“35, “Grüner mit Hitler-Droge erwischt”36. Zwischendurch auch mal ein bisschen personelle Abwechslung: „BILD findet Görings Modell-Eisenbahn“37. Oder: „Wie kam Costa Cordalis an den Nazi-Teppich von Goebbels?“38 Oder: „Ist das die Unterhose von Eva Braun?“39

Solche „Hitlereien“ finden sich auch in anderen Medien, schreibt Daniel Erk, der für die Onlineausgabe der “taz” sechs Jahre lang das “Hitlerblog” geführt hat:

In diesen Jahren ist keine, wirklich keine Woche vergangen, in der Hitler nicht Thema in der Presse gewesen wäre, in der nicht irgendein Kasper einen mal guten, mal schlechten Hitler-Witz gemacht hätte oder in der die Symbole und Begriffe des Dritten Reiches nicht in einem abwegigen oder ärgerlichen Kontext aufgetaucht wären. Wirklich: keine einzige Woche.

Zu einem Erkenntnisgewinn hätten die Geschichten aber so gut wie nie geführt:

Idealerweise wäre das ja ein Kommunikationsanlass, um über den Hitler-Wahn, die Ängste, Symbole und Tabus zu sprechen. Stattdessen sieht man immer nur Titelgeschichten über Hitlers letzte Stunden und liebste Hunde. Die Boulevardisierung des Themas hat die Substanz längst verdrängt.40

Aber um Substanz, darum, die Leser zu informieren, geht es ja auch nicht, jedenfalls nicht der “Bild”-Zeitung. Verkauft werden nicht Tatsachen, sondern Geschichten. Und wenn die Fakten nicht zur Schlagzeile passen, werden sie geschickt umgedichtet oder verschwiegen. Dann erwähnen die “Bild”-Medien einfach gar nicht, dass sich der Sensationsfund als Fälschung entpuppt hat. Oder sie fliegen statt nach New York, wo sie die Realität erwarten würde, nach London, wo sie die Geschichte noch weiterfüttern können. Wer sich nur in “Bild” informiert, glaubt womöglich heute noch, dass in Polen ein Nazi-Zug voller Gold gefunden, dass das Sandmännchen in den Westen verkauft und dass Opa Herbert Briefmarkenmillionär wurde.

„Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“

Dass gerade die Hitler-Geschichten in “Bild” seit Jahren so eine prominente Rolle spielen, dürfte aber nicht nur daran liegen, dass sie gut geklickt und gekauft werden. Absurde Schlagzeilen wie „UFO-Sekte will jetzt Hitler klonen!“41 oder „Zeigten Kornkreise Hitlers Bombern den Weg?“42 haben der Zeitung insbesondere unter Chefredakteur Kai Diekmann hin und wieder einen ironischen Touch verliehen: auch mal albern sein, sich selbst nicht so ernst nehmen. In dieser Zeit erschienen immer wieder Geschichten wie „Haben Außerirdische den Windrad-Flügel geklaut?“43, oder „Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“44, oder „Liegt da ein abgehacktes Bein auf dem Mars?“45

Doch seit Julian Reichelt das Steuer übernommen hat, finden solche Blödeleien kaum noch statt. Die “Bild”-Themenseite „Mystery“ („Aliens, Ufos, Übersinnliches“), die unter Diekmann laufend mit bekloppten Ufo-Geschichten befüllt wurde, besteht heute aus Artikeln wie „Mutter (84) und Sohn saßen wochenlang tot auf dem Sofa“46 oder „Wie Corona-Leugner um die Promis werben“47. Generell findet man in den heutigen “Bild”-Medien augenzwinkernde Elemente eher selten. Der Ernst hat Einzug gehalten. Und: die Politik.

Denn unter Reichelt ist auch die scherzhafte Seite von “Bild”, so sie denn mal zum Vorschein kommt, oft politisch aufgeladen. „Ist Wladimir Putin ein unsterblicher Vampir?“, heißt es dann zum Beispiel: „Gruselige Nachrichten zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin: Ist der Kreml-Chef unsterblich? Beteiligt er sich seit knapp 100 Jahren an russischer Kriegspolitik? Oder sogar schon seit Jahrhunderten?“48

Oder: „Ist Donald Trump die dritte Inkarnation des Teufels? Wird der New Yorker Immobilienmogul einen 27 Jahre langen Weltkrieg auslösen?“, wie “Bild” Anfang 2017 fragt, unter der Überschrift: „Sagte Nostradamus die Trumpocalypse voraus?“49

Andere Albernheiten, mit Aliens und ohne Agenda, hat “Bild” auf vereinzelte Ausnahmen reduziert. Hitler geht aber immer noch.

„Letzter Hitler bricht sein Schweigen!“, verkündet “Bild” im Oktober 2018 exklusiv auf der Titelseite: „BILD traf den Groß-Neffen in den USA“.50 Für die Story hat die Redaktion die komplette Seite 3 der Bundesausgabe freigeräumt, in der Mitte: ein riesiges Foto von Adolf Hitler.

Der Mann, den “Bild” in den USA gefunden hat und „Alexander Hitler“ nennt, soll um viele Ecken ein Nachfahre Adolf Hitlers sein. Mit Medien redet er eigentlich nicht. Als die “New York Times” ihn 2006 aufspürt, bittet er „vehement und wiederholt“ darum, nicht identifiziert zu werden, aus Angst vor einem Mediensturm und davor, dass man ihn fälschlicherweise für einen Nazi halten könnte.51

Er heißt nicht mal Hitler. Das schreibt auch der “Bild”-Redakteur im Artikel – und nennt ihn trotzdem so, immer und immer wieder. „Alexander Hitler lebt in einem Holzhaus.“ „DEAD END steht auf dem Schild vor der Straße, in der Alexander Hitler wohnt.“ „Gepflegt sind dafür die vielen Topfpflanzen, die hier stehen. Fleißiges Lieschen, Bartnelken, Eisbegonien, Funkien. Die amerikanischen Hitlers haben einen grünen Daumen.“

In der kleinen Stadt wisse „fast niemand“, dass der Mann „der letzte Hitler“ sei, schreibt die “Bild”-Zeitung. Und als wollte sie etwas daran ändern, verrät sie, in welcher Gegend der Mann wohnt, beschreibt sein Grundstück, was für ein Auto er fährt. „Er ist groß, zirka 1,85 Meter, trägt ein türkis-weiß-kariertes Hemd und eine beigefarbene Cargohose. Alexander Hitler.“ Im Artikel zeigt “Bild” über die gesamte Seitenbreite ein Foto, das offenbar aus größerer Entfernung aufgenommen wurde: Der Mann steht in der Tür seines Hauses, sein Gesicht ist nicht verpixelt.

Wir haben damals bei “Bild” nachgefragt, ob der Mann wusste, dass er fotografiert wird, und ob er eingewilligt hat, dass dieses Foto veröffentlicht wird. Der “Bild”-Redakteur wollte uns darauf nicht antworten.

Die Geschichte und das unverpixelte Foto des Mannes gehen um die Welt. Stolz präsentiert “Bild” am nächsten Tag „internationale Presse-Reaktionen“52: Zeitungen in England, Spanien, der Türkei „und über 100 weitere Medien“ hätten über die “Bild”-Zeitung und den „letzten Hitler“ berichtet.

Obwohl er weder ein „Hitler“ ist noch „der letzte“ – er hat noch zwei Brüder. Die auch nicht Hitler heißen. Auch bei deren Haus (das “Bild” ebenfalls abbildet) klingelt der Redakteur. „Die Tür öffnet sich einen Spalt. Ein Mann, um die 50 Jahre alt, schiebt das Fliegengitter beiseite und streckt seinen Kopf heraus. Volles, dunkles Haar, glatt rasiertes, kantiges Gesicht. Hitler trägt kurze Hose.“

Als sich der “Bild”-Redakteur als solcher zu erkennen gibt, schließt der Mann sofort die Tür. Und schaltet die Rasensprenger an.

BILDblog-Lesefonds

Wir haben unser Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” geschrieben, weil wir – wie schon immer mit dem BILDblog – möglichst vielen Leuten zeigen wollen, wie “Bild” arbeitet, damit sie diese Zeitung (wenn überhaupt) differenziert und mit einer angemessenen Portion Skepsis lesen können. Nun wissen wir allerdings auch, dass die 18 Euro, die das Buch kostet, für viele nicht einfach so locker sitzen.

Deswegen haben wir den BILDblog-Lesefonds gestartet: Allen, die das Buch gerne lesen (oder der “Bild”-lesenden Verwandtschaft geben) wollen, es sich momentan aber nicht leisten können, wollen wir ein Exemplar schenken.

Unser Budget ist natürlich begrenzt, das heißt, wir können nur eine bestimmte Anzahl von Exemplaren verschenken. Wir warten jetzt eine Weile ab und schauen, wie viele Leute das Formular weiter unten ausfüllen. Sollten es mehr sein, als wir Exemplare haben, werden wir die Bücher unter allen, die sich gemeldet haben, verlosen. Daher noch eine Bitte: Nutzt dieses Angebot bitte nicht aus, wenn ihr euch das Buch eigentlich leisten könntet, und lasst die Exemplare für die, an die wir bei dieser Aktion gedacht haben. Danke!

Nachtrag: Uns freut sehr, dass es mehrere Anfragen gab, ob und wie man die Aktion finanziell unterstützen kann, sozusagen als Lesepate. Der einfachste Weg dürfte sein, wenn ihr mal hier schaut. Da gibt es alle Infos, wie man das BILDblog allgemein finanziell unterstützen kann. Solltet ihr eine normale Banküberweisung wählen, dann schreibt in den Verwendungszweck einfach “Buch”. Solltet ihr Paypal oder Steady nutzen wollen, dann schickt uns am besten noch eine kurze Mail, von der E-Mail-Adresse, mit der ihr bei Paypal/Steady angemeldet seid, an [email protected] hinterher. Dann können wir eure Unterstützung dem Lesefonds zuordnen. Vielen lieben Dank!

Die Aktion ist inzwischen beendet.

Bild  

Eine Woche, wie “Bild” sie liebt

Die aktuelle Ausgabe eines internen Newsletters an “Bild”-Mitarbeiter (“Die Woche bei BILD”), den Julian Reichelt und Alexandra Würzbach aus der “Bild”-Chefredaktion seit Kurzem regelmäßig verschicken, beginnt so:

Liebe Kollegen und Kolleginnen, dear all,

und weiter geht’s mit “Die Woche bei BILD”. Und wie immer, war auch die bunt und aufregend, spannend und emotional – so, wie wir es kennen und (meistens) lieben. Ob Seilbahn-Unglück oder Lukaschenko-Flieger, Killer-Zahnarzt, DHL-Erpresser, Herz für Kinder, ESC, Werder Bremen und viele, viele andere Geschichten, die toll aufgeschrieben, super fotografiert/gefilmt und bebildert, schön layoutet, top konvertiert und überragend geklickt waren. Danke für die hervorragende Teamleistung in der ganzen Republik!

Wenn ein Mann drei Menschen erschossen haben soll, und “Bild” mit dem “Killer-Zahnarzt” auf Klickjagd gehen kann; wenn der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko eine Passagiermaschine abfangen, anschließend einen sich im Flugzeug befindlichen Regimekritiker und dessen Freundin festnehmen lässt, und das alles bei Bild.de so richtig “top konvertiert”; wenn in Italien eine Seilbahn abstürzt, 14 Menschen dabei sterben, und die “Bild”-Redaktion endlich mal wieder unverpixelte Fotos von Verstorbenen und Überlebenden zeigen kann, darunter auch ein zwei- und ein fünfjähriges Kind:

Ausriss Bild-Zeitung - Er ist der einzige Überlebende des Seilbahn-Horrors vom Lago Maggiore - E. (5) weiß noch nicht, dass seine Familie tot ist

… dann ist das so eine Woche, wie Reichelt, Würzbach und “Bild” sie “(meistens) lieben”.

Na, dann: Glückwunsch!

Ein Jahr Corona in “Bild”

Der folgende Text sollte eigentlich in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” erscheinen, hat aus Platzgründen aber einfach nicht mehr reingepasst. Darum freuen wir uns, ihn nun exklusiv hier zu veröffentlichen.

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Unser Buch ist ab heute überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Kein Thema hat die Berichterstattung der “Bild”-Medien in der jüngeren Vergangenheit so sehr bestimmt wie die Corona-Pandemie. Aber wie genau sah diese Berichterstattung aus? Wie hat sich die Redaktion positioniert? Was war gut und was schlecht? Schaut man sich an, wie “Bild” im Jahr 2020 über das Coronavirus berichtet hat, lassen sich neun Phasen erkennen. Diese sind nicht komplett trennscharf, sie überlappen sich teilweise oder laufen parallel.

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Die Kennenlernphase (Januar 2020)

Es ist nur eine kurze Meldung, gerade mal 18 Zeilen lang, unauffällig platziert auf Seite 10 neben einem Ratgeberbeitrag, der erklärt, wie die Vorsätze für das neue Jahr “wirklich zu schaffen sind”. Überschrift: “SARS in China ausgebrochen?”

In der chinesischen Großstadt Wuhan ist eine mysteriöse Lungenkrankheit ausgebrochen. Bislang seien 27 Erkrankte identifiziert worden. Laut Experten sei die Ursache der Erkrankung derzeit noch unklar. Das chinesische Parteiorgan “Volkszeitung” spricht von “schweren Lungenentzündungen”. Beobachter befürchten jedoch, das SARS-Virus könnte die Ursache für die Erkrankung sein.1

An diesem 2. Januar 2020 schreibt “Bild” erstmals über das, was sich zur weltweiten Pandemie entwickeln wird.

In den folgenden Tagen passiert erst mal: nichts. Fast drei Wochen dauert es, bis in “Bild” zum ersten Mal von “Corona” die Rede ist. Am 22. Januar erscheint ein Artikel über einen “Berliner Professor”, der das “Corona-Virus” entschlüssele. Gemeint ist der Virologe Christian Drosten. Zu diesem Zeitpunkt gebe es “schon 6 Tote in China”, schreibt die Redaktion auf Seite 6:

Das neue Corona-Lungenvirus breitet sich auf dem asiatischen Kontinent aus.

Die Zahl der Infizierten stieg in China auf 291. Dazu kommen Fälle in Thailand, Japan, Südkorea, Taiwan und sogar in den USA. Sechs Menschen starben bereits.

Noch wird das Risiko einer Ausbreitung auch in Deutschland als gering gewertet.2

“Bild” zitiert Drosten mit: “Wir müssen uns in Deutschland darauf vorbereiten, dass es zumindest in Einzelfällen auch zu Einschleppungen der Erkrankung kommt.”

Von nun an geht es ganz schnell, exponentiell sozusagen. Bereits einen Tag später fragt “Bild”: “CORONA-VIRUS – Panikmache oder echte Gefahr für die Welt?”3 Schon jetzt haben die Layouter den Artikel in das Gelb getunkt, das sie traditionell bei Seuchen verwenden4 und das die Berichterstattung des kommenden Jahres optisch prägen wird. Am 27. Januar sind laut “Bild” “Europas Flughäfen in Alarm-Bereitschaft”, denn: Das “Corona-Virus breitet sich rasant aus – viele weitere Fälle”.5 Zwei Tage später dann die erste Corona-Titelseite: “Bundeswehr rettet Deutsche aus der Seuchen-Zone +++ Sondermaschine startet heute nach China +++ Schon vier Corona-Fälle in Deutschland +++ Botschaft organisiert Krisentreffen +++ Ansturm auf Schutzmasken +++ Was Sie jetzt wissen müssen”. Ein “Bild”-Redakteur schreibt im Kommentar: “Keine Panik!”, schließlich gelte: “Fast so schlimm wie ein Virus ist die Angst davor.”6

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Die Angst- und Alarmphase (Januar bis März 2020)

Nur einen Tag nach diesem Versuch, die Leserschaft etwas zu beruhigen, titelt “Bild”: “Deutsche China-Rückkehrer auf Isolier-Station – Corona-Angst!”7 Auch einen Tag später: “Corona-Angst – China-Rückkehrer werden HIER isoliert!” Im Blatt schlägt die Redaktion “Corona-Alarm auf Kreuzfahrtschiff” und schreibt von der “Sorge um Weltwirtschaft”.8 Wiederum einen Tag später steht auf Seite 1: “CORONA-ALARM in Deutschland, Vater und Tochter (5) erkrankt – Hier holen sie die erste Familie ab”. Dazu zeigt “Bild” ein großes Foto einer (immerhin verpixelten) Familie, die von Menschen in Schutzanzügen in Rettungswagen gebracht wird.9 “Bild am Sonntag” bietet am Tag darauf eine Übersicht über die “Seuchen der Angst” der vergangenen Jahre.10

Auch auf der Bild.de-Startseite herrscht zu dieser Zeit vor allem Verunsicherung, Ungewissheit und Angst: “CORONAVIRUS KAM DIREKT AUS DER SEUCHENZONE”11, “VIRUS-ANGST IN DEUTSCHLAND! Apotheken gehen die Schutzmasken aus”12, “Schlangen sollen das Coronavirus auf uns übertragen haben”13, “Ist es gefährlich, Pakete aus China anzunehmen?”14

Nachdem ein erster Corona-Ausbruch in Bayern15 unter Kontrolle zu sein scheint, verschwindet das Virus fast vollständig wieder von der “Bild”-Titelseite. Andere Themen sind wichtiger: “AKK gegen Merkel – Bitterböser Machtkampf”16, “Nach AKK-Abgang – MERZ KÄMPFT UM DIE MACHT IN DER CDU”17, “Deutschlands schlimmste Rentner-Abzocker gefasst!”18 Die Corona-Meldungen, die es nach ganz vorne schaffen, klingen fast schon hoffnungsvoll: “CORONA-Rückkehrer aus Quarantäne entlassen!”19, steht am 17. Februar auf Seite 1.

Eine Woche später ist es mit der Hoffnung allerdings vorbei. Die Schlagzeilen der Woche lauten:

• CORONA-ALARM! Italien riegelt Städte ab
• Minister Spahn schlägt CORONA-ALARM – “Die Epidemie ist in Europa angekommen”
• CORONA-AUSBRUCH im Rentner-Paradies – Deutsche Touristen im Hotel auf Teneriffa gefangen
• CORONA – So schützen Sie sich JETZT!
• Regierung beruft Expertenrunde ein – Der Krisen-Plan gegen Corona
• Corona-Verdacht im Regierungs-Flieger
• Wochenende im Bann von CORONA – Weltgrößte Tourismus-Messe in Berlin abgesagt +++ Konzerte, Fußballspiele auf der Kippe +++ Schon 54 Infizierte +++ Dax rauscht ab +++ Autogramm-Verbot für Bayern-Spieler +++ ERSTER HUND positiv +++ WHO löst “höchste Alarmstufe” aus +++ BILD sagt, was Sie jetzt beachten müssen20

Bei Bild.de ist die Stimmung dieselbe. Obendrauf kommen Fotos von leeren Supermarktregalen und Anleitungen zu “Hamsterkäufen”: “FAMILIENVATER ZEIGT SEINEN VORRATSKELLER – Wegen Corona! Das habe ich für 420 Euro eingekauft”.21 “Hohe Verkaufszahlen bei Aldi und Lidl – Hamsterkäufe wegen Coronavirus!”22 Die “Bild”-Redaktion treibt ihre Leserschaft in die schon teilentleerten Supermärkte: “CORONA-ANGST IN DEUTSCHLAND – Diesen Vorrat brauchen Sie für zehn Tage Quarantäne!”23 Und damit es auch schmeckt, erzählt Koch Johann Lafer bei “Bild-TV”: “Das können Sie aus Ihren Corona-Vorräten kochen”.24 Nur eine Woche später meldet “Bild”: “TAFELN SCHLAGEN ALARM – Wegen Hamstereinkäufen! Weniger Essen für Bedürftige”.25

Die Redaktion macht (nicht nur) in dieser Zeit aus der Angst der Leser Geld. Sie eröffnet mit fragenden Überschriften teils ganz alltägliche Schreckensszenarien und gibt die Antworten nur hinter der “Bild-plus”-Paywall: “BILD fragte bei Hersteller Hakle nach – Kann Klopapier wirklich knapp werden?” (Antwort: Nein).26 Oder: “ITALIEN SCHLIESST ZAPFSÄULEN – Machen auch bei uns die Tankstellen dicht?” (Antwort: Nein).27 Und: “Fast 100 Milliarden Euro fehlen – GEHT DEUTSCHLAND PLEITE?” (Antwort: Nein, “Deutschland kann kaum pleite gehen”).28 Es scheint “Bild” nicht darum zu gehen, die Leserschaft ordentlich und gewissenhaft zu informieren, sondern um den Verkauf von Abos: In der “Amazon”-Doku “BILD.Macht.Deutschland?” sagt Julian Reichelt in einer Redaktionskonferenz mit Blick auf die Corona-Krise: “Es geht darum, dass wir in einer Zeit, in der unsere Auflage morgen um die Hälfte einbrechen kann, eine wirtschaftliche Perspektive haben.”29

Wie folgenreich die “Bild”-Berichterstattung in einer derart angespannten Situation sein kann, zeigt sich am 22. März. Im Corona-Liveticker bei Bild.de erscheint eine Meldung zum Ortenau-Klinikum in Offenburg. Überschrift: “Das Klinikum Offenburg sucht händeringend Helfer!”30 Im Text steht:

Das Klinikum Offenburg (Baden-Württemberg) ist am Limit – und richtet diesen Appell an die Öffentlichkeit: Dringender Appell an euch!

Wir benötigen im Klinikum Offenburg dringend helfende Hände. Ob mit oder ohne medizinische Erfahrung spielt keine Rolle. Es gibt Bedarf in der Küche, an der Pforte, Essen verteilen, Betten schieben. Und wer medizinische Kenntnisse hat im pflegerischen Bereich.

Wer jemand kennt, der jetzt zum Beispiel in Kurzarbeit ist, bitte melden. Per E-Mail: […] oder telefonisch […].31

Die “Bild”-Redaktion nennt eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer, die man anschreiben beziehungsweise anrufen soll, wenn man helfen möchte. Nur: Das Klinikum sucht gar nicht “händeringend Helfer”. “Bild” scheint blindlings aus einer kursierenden WhatsApp-Nachricht abgeschrieben zu haben. Die Redaktion von “Hitradio Ohr” fragt hingegen mal beim Klinikum nach:

Auf HITRADIO OHR-Anfrage hieß es heute (Sonntag) vom Ortenau Klinikum, das sei wohl Fake News.

Es gebe Überlegungen, ob das irgendwann nötig sei und intern gebe es beim Ortenau Klinikum die Überlegung, ob man sich – wenn sich die Situation verschlechtere – auch an die Öffentlichkeit wende. Das sei aber nur eine Idee und momentan KEIN Aufruf an die Bevölkerung. Beim Klinikum stehe wegen des “Fake-Aufrufs” das Telefon nicht mehr still.32

Nun ist es eine Sache, dass die Mitarbeiter des Klinikums auch dank “Bild” auf “rund 1000 Anfragen” reagieren müssen und damit nicht ihrem eigentlichen Job nachgehen können. Dazu kommt, dass die Meldung in dem Liveticker den Eindruck vermittelt, dass ein Krankenhaus die Situation nicht mehr im Griff hätte und bereits “am Limit” wäre. Das Ortenau Klinikum sieht sich genötigt, diesem Eindruck entgegenzuwirken. Es veröffentlicht eine Stellungnahme und betont, dass man “bestens ausgestattet” sei.33

Erst nach mehreren Stunden löscht Bild.de die Falschmeldung und schreibt in einer späteren Liveticker-Meldung, dass ein gefälschter Appell des Klinikums Offenburg im Umlauf sei. Die eigene Rolle bei dieser Geschichte bleibt unerwähnt.

Von solchen Fehltritten abgesehen, macht die “Bild”-Redaktion in den ersten Monaten des Jahres 2020 aber gar keinen schlechten Job. Viele Artikel sind stark boulevardesk und emotional aufgeladen; die Berichterstattung ist rückblickend im Umfang und in ihrer Dringlichkeit der Bedrohung und der potenziellen Entwicklung allerdings durchaus angemessen. Selbst “Bild”-Chef Julian Reichelt klingt ungewohnt versöhnlich. Am 9. März kommentiert er:

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass es nicht auf jede Frage eine gute Antwort, nicht für jede Sorge sofortige Beruhigung gibt.

Aber eben auch, dass wir als Land in dieser Situation in bestmöglichen Händen sind: Unsere medizinische Versorgung ist überragend, unsere Ärzte sind pflichtbewusst und engagiert, deutsche Experten und Virologen genießen weltweit einen exzellenten Ruf und die Politik mit Gesundheitsminister Jens Spahn reagiert konsequent, aber besonnen.34

Bei einer Person scheinen sich Reichelt und “Bild” hingegen nicht “in bestmöglichen Händen” zu fühlen: bei Bundeskanzlerin Angela Merkel.

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Die Anti-Merkel-Phase (ab Ende Februar 2020, seitdem andauernd)

Am 28. Februar schreibt Bild.de: “Nur Merkel kneift in Sachen Corona-Krise”. Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, Italiens Premier Guiseppe Conte und US-Präsident Donald Trump mit Reden ihre Bürger beruhigen würden, sei von Angela Merkel nichts zu hören oder zu sehen: “Deutschland in der Corona-Krise. Und wo steckt die Kanzlerin?”35 Am 11. März, also zwei Tage nach Julian Reichelts Lobeshymne auf die “bestmöglichen Hände”, in denen sich Deutschland befinde, titelt “Bild” groß: “Kein Auftritt, keine Rede, keine Führung in der Krise – Die Kanzlerin und das CORONA-CHAOS”. Merkel sei kaum zu sehen und äußere sich zu Corona nur wenig, kommentiert der stellvertretende “Bild”-Chefredakteur Paul Ronzheimer: “Sie lässt die Bevölkerung allein. Dabei müsste sie jetzt Führung zeigen!”36

Wie wichtig eine Stellungnahme der Kanzlerin in den entscheidenden Fragen für “Bild” ist, zeigt sich einen Tag später. Merkel sitzt mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher in einer Pressekonferenz, die anwesenden Journalisten können Fragen stellen. Als erster ist der Leiter des “Bild”-Parlamentsbüros dran. Er fragt, welche Auswirkungen das alles jetzt “auf die Wiesn in Bayern” habe.37

Die TV-Ansprache, die Angela Merkel am 18. März hält38 und die viele Menschen bewegt39, reicht “Bild”-Chef Julian Reichelt nicht. In einem langen Kommentar schreibt zwar auch er, dass Merkel “den richtigen Ton getroffen” habe, “doch inmitten emotionaler Appelle zum Ernst der Lage blieb sie der Bevölkerung das Wichtigste schuldig: eine Erklärung, was SIE persönlich in ihrem Amt für die Menschen tun wird.” Reichelt feuert daraufhin eine lange Reihe von Vorwürfen ab, die als Fragen formuliert sind, in denen er die Kanzlerin attackiert und sich als Kämpfer für all jene inszeniert, “die seit Jahren die Steuerkassen füllen”. Auf dem Spiel stehe “alles, was wir uns seither aufgebaut und erarbeitet haben”. Merkel solle endlich sagen, wie sie den Menschen helfen wolle, “mit dem Geld, das wir alle erarbeitet haben”. Er schreibt Sachen wie:

Wo bleibt das Versprechen der Kanzlerin, dass deutsche Kernindustrien wie der Autobau und die Luftfahrt auch nach der Corona-Krise international wettbewerbsfähig bleiben werden? Wenn am Ende dieser Gesundheitskrise Massenarbeitslosigkeit steht, überlassen wir das Land mit Ansage den Extremisten.

Oder er fragt, wo das Versprechen der Kanzlerin bleibe, “dass China, das aus der selbst verschuldeten Epidemie nun Profit schlagen will, keine deutschen Unternehmen erwerben und keinen Zugang zu deutscher Infrastruktur bekommen wird”.40 Solche Dinge will er wissen, zu einem Zeitpunkt, an dem man noch nicht mal sicher sagen kann, ob die Wiesn nun stattfinden können oder nicht.

Einer macht es aus “Bild”-Sicht deutlich besser als Angela Merkel. Nachdem Österreichs Kanzler Sebastian Kurz laut “Bild” “CORONA-KLARTEXT” gesprochen hat, schreibt die Redaktion sehnsüchtig: “So einen brauchen wir auch!” Es seien “nur 520 Kilometer zwischen Berlin und Wien. Aber in der Corona-Krise fühlt sich Österreich an wie eine andere Welt”:

Während Kanzlerin Angela Merkel (65, CDU) angeschlagen wirkt, sich mit den Ministerpräsidenten auf keine gemeinsame Linie einigen kann, zeigt Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (33) Führungsstärke.

Fast täglich steht er kerzengerade vor den TV-Kameras, präsentiert eine Knallhart-Maßnahme nach der anderen: Kaffeehäuser nur noch bis 15 Uhr geöffnet. Alle nicht dringend benötigten Läden sind geschlossen. Die Ski-Orte St. Anton und Ischgl abgeriegelt. Schulen sind längst dicht.

Kurz zeige: “SO geht der Shutdown eines ganzen Landes!”41

Die Idee, Deutschland herunterzufahren, findet bei “Bild” Unterstützung. In einem “DAS-MEINT-BILD”-Kommentar schreibt die Redaktion, dass “wir beweisen” müssten, “dass wir nicht nur 82 Millionen Einzelpersonen sind, sondern eine Gemeinschaft”:

Jetzt muss jeder von uns ein Vorbild sein!

Die Politik darf bei harten Maßnahmen gegen das Virus nicht zögern. Wenn Gesundheitsminister Jens Spahn und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder vorübergehend Schulen schließen wollen, dann verdient das die Unterstützung der Bevölkerung. Dies dient unserem Schutz.42

Bei “Bild-TV” warnt ein Arzt: “Deutschland braucht den kompletten Shutdown!”43 Am 22. März beschließen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten tatsächlich umfangreiche Kontaktbeschränkungen.44 Und die “Bild”-Berichterstattung legt eine bemerkenswerte Kehrtwende hin.

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Die Wieder-öffnen-Phase (März bis Mai 2020)

Bis hierhin hat “Bild” wiederholt und eindringlich klargemacht, welche “Angst” man vor dem Coronavirus haben müsse, wie schrecklich untätig Angela Merkel sei, wie sehr es “unserem Schutz” diene, wenn beispielsweise die Schulen geschlossen werden, und wie führungsstark Sebastian Kurz “eine Knallhart-Maßnahme nach der anderen” präsentiere. Nun machen Merkel und ihre Regierung ziemlich genau das, was “Bild” fordert – und das ist nun auch wieder falsch.

Gerade mal vier Tage nach dem Beschluss zu den Kontaktbeschränkungen, am 26. März, lässt “Bild” “CORONA-SKEPTIKER FRAGEN: ,Sind Löscharbeiten verheerender als der Brand?‘”45 Am 28. März titelt “Bild” groß: “Riesen-Wirrwarr um Kampf gegen Corona – Maßnahmen lockern oder nicht?”. Im Blatt fragt die Redaktion ungeduldig: “Wann sollen die Corona-Regeln denn nun gelockert werden?”46 Wieder zwei Tage später fragt ein “Bild”-Kolumnist: “WIE LANGE HALTEN WIR DAS DURCH?” Einen Tag später schreibt er: “Wir hören zu viel auf Virologen!” Auf der Titelseite derselben Ausgabe ruft die Redaktion einen “nationalen Kraftakt gegen Corona” aus (als würden Politiker und viele andere Menschen nicht schon seit Wochen kraftakten): “BILD sagt, was SOFORT passieren muss”. Neben der Forderung, dass Kanzlerin Merkel “jeden Tag zum Volk sprechen” müsse, und dem genialen Einfall, dass ein “neues Wirtschafts-Wunder” doch ganz praktisch wäre, ist für “Bild” von besonderer Bedeutung, dass die Fußball-Bundesliga endlich wieder ihren Betrieb aufnehmen dürfen soll.47 Dieser Wunsch könnte nicht ganz uneigennützig sein: Die Sport-Berichterstattung, und dort speziell die Fußball-Bundesliga, ist für die “Bild”-Medien immens wichtig.

In Österreich rückt Kanzler Kurz von seinen “Knallhart-Maßnahmen” ab und beschließt, dass ab Mitte April einzelne Läden wieder aufmachen dürfen. Die “Bild”-Redaktion ist erneut hin und weg: “DER KURZ-PLAN – So was wollen wir auch!” Auf Seite 1 schreibt sie: “NEUSTART NACH CORONA – Ösis machen‘s uns vor – Erste Geschäft in Österreich ab 14. April wieder geöffnet – aber Merkel bleibt hart”.48

Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird deutlich, dass die “Bild”-Berichterstattung vor allem einem Grundsatz folgt: Hauptsache dagegen. Bis zu den Lockerungen der Kontaktbeschränkungen am 6. Mai49 schreiben die “Bild”-Medien konsequent gegen die Einschränkungen an: “Kanzlerin, machen Sie unser Land wieder auf!”, fordert “Bild” am 15. April auf der Titelseite.50 Es geht um “Chaos um Corona-Regeln”51, die Redaktion lässt einen Chefarzt im Blatt fordern: “MACHT DIE KLINIKEN WIEDER AUF … und zwar FÜR ALLE!”52 Bild.de berichtet über “DIE WUT DER WIRTE”53 und schreibt zu möglichen “CORONA-LOCKERUNGEN”: “Merkel will nicht, aber muss!”54 Die “Bild am Sonntag” titelt am 12. April: “WIR WOLLEN ZU HAUSE BLEIBEN!” Was erstmal wie eine Forderung nach einer Lockdown-Verlängerung klingt, ist das Gegenteil: “Ein Aufruf von 28 Prominenten über 70”, die anbieten, zu Hause zu bleiben, “damit die Jungen eine Zukunft haben und die Wirtschaft nicht kollabiert”. Oder anders gesagt: Die Alten bleiben drin, damit alle anderen wieder raus und loslegen können. Keine dieser 28 Personen dürfte übrigens bei einer Umsetzung des Plans in einer winzigen Wohnung ohne Balkon festsitzen. Die Wir-wollen-zu-Hause-bleiben-Promis auf der “BamS”-Titelseite sind größtenteils Millionäre und Milliardäre wie Dietmar Hopp, Friede Springer und Hubert Burda.55

Personen, die sich nicht auf “Bild”-Linie befinden und sich nicht für Lockerungen, sondern eher für strengere Maßnahmen aussprechen, bekommen von der Redaktion Gegenwind. Auch und gerade Wissenschaftler.

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Die Anti-Drosten-Phase (April bis Mai 2020)

“Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht”, schreibt “Bild” am 26. Mai groß auf Seite 1. Im Blatt lautet die Überschrift: “Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch”. Es seien “FRAGWÜRDIGE METHODEN” zum Einsatz gekommen.56 Im Artikel liefert der Autor allerdings keinen einzigen Beleg für die auf der Titelseite hergestellte Kausalität zwischen Studie und geschlossenen Schulen und Kitas. Stattdessen versucht er, die bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorgesehenen kritischen Überprüfungen durch andere Wissenschaftler als eine Art Zoff zwischen Forschern darzustellen.

Die “Bild”-Geschichte wird stark kritisiert. Sogar von den Wissenschaftlern, die “Bild” im Beitrag als Kronzeugen gegen den Virologen Christian Drosten anführt. Sie alle distanzieren sich umgehend von dem Bericht. Einer schreibt bei Twitter, dass er “nicht Teil einer Anti-Drosten-Kampagne sein” wolle.57 Ein anderer stellt klar: “Ich wusste nichts von der Anfrage der BILD und distanziere mich von dieser Art Menschen unter Druck zu setzen auf das schärfste.”58

Bereits einen Tag zuvor veröffentlicht Christian Drosten bei Twitter einen Screenshot einer E-Mail des “Bild”-Autors. Dieser wollte, dass der Wissenschaftler Fragen zu seiner Studie beantwortet, und räumte dafür lediglich eine Stunde ein. Drosten schreibt bei Twitter, er habe “Besseres zu tun”. Anfangs ist in dem Screenshot auch die Handynummer des “Bild”-Mitarbeiters zu sehen. Nach Kritik löscht Drosten diesen Tweet wieder und postet die “Bild”-Anfrage noch einmal, diesmal ohne Handynummer.59

Das Verhalten von “Bild” sorgt für größeres Entsetzen – über die Schärfe des Angriffs, den aufgebauten Druck in der Anfrage, das Hochjazzen einer eigentlich vorsichtigen Formulierung des Virologen, das Unverständnis der Redaktion für wissenschaftliche Abläufe und Diskussionen, die falsche Verknüpfung zwischen Drostens Studie und Schulschließungen.60 Die Medienforscherin Johanna Haberer sagt zur Anti-Drosten-Kampagne von “Bild”: “Der Boulevard lebt von Angst und Unsicherheit. Und natürlich kann man einen Wissenschaftlerkonflikt zu einem persönlichen Kleinkrieg hochkochen. Beim Thema Gesundheit ist das allerdings fahrlässig.”61

Die “Bild”-Kampagne gegen Christian Drosten läuft zu diesem Zeitpunkt schon einige Wochen. In einer Reihe von Beiträgen wird Drostens Autorität als Wissenschaftler untergraben 62, die Redaktion arbeitet genüsslich frühere Fehleinschätzungen heraus63, stellt ihn als Einflüsterer dar, macht ihn zum Kollegenschwein64. Sie reißt Aussagen aus dem Zusammenhang, verfälscht zeitliche Abläufe und erfindet Behauptungen.65 Dazu inszeniert sie eine Art Seifenoper: Es gebe einen “Virologen-Clinch um CORONA-STUDIE”66 zwischen Hendrik Streeck und Christian Drosten, inklusive “zweiter Runde”67. Es ist eine Trivialisierung und Boulevardisierung von Wissenschaft. Die Bild.de-Leser können zum Beispiel abstimmen: “Welchem Virologen vertrauen Sie am meisten?”68 Das Ergebnis ist eine Mischung aus Ranking und Quartettspiel mit Angaben zum “Spezialgebiet”, dem Privatleben und dem jeweils “größten Irrtum”.69

Im Artikel “DREI EXPERTEN, DREI MEINUNGEN – Wie sehr kann man sich auf unsere Virologen verlassen?” erklärt “Bild” Drosten Ende April zum “Corona-Flüsterer der Kanzlerin” und gibt ihm damit etwas Rasputinhaftes.70 Im großen Vertrauen, das Angela Merkel dem Virologen entgegenbringt, und im daraus resultierenden Einfluss Drostens könnte sich der eigentliche Kern der massiven Kritik der “Bild”-Redaktion verstecken: Ihre Anti-Drosten-Kampagne ist im Grunde eine Verlängerung ihrer Anti-Merkel-Kampagne.71

Andere Personen, tatsächliche oder vermeintliche Experten, mit denen “Bild” einer Meinung ist, werden im Vergleich deutlich freundlicher behandelt.

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Die Klügste-Köpfe-Phase (ab Mai 2020, seitdem andauernd)

Am 8. Mai, nur zwei Tage nach der Entscheidung der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten, den Lockdown zu beenden, hat “Bild” im Blatt “Deutschlands klügste Corona-SKEPTIKER” zusammengetrommelt.72 Sie “KRITISIEREN DIE HARTEN MASSNAHMEN”: Der “Lockdown war ein Riesen-Fehler”.73 Einer dieser sechs “honorigen Meister ihres Fachs” ist der Professor Stefan Homburg. Am Tag nach Veröffentlichung des “Bild”-Artikels steht Homburg in Stuttgart auf der Bühne einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen und behauptet, dass die Wissenschaftler, die die Bundesregierung zur Corona-Pandemie zurate zieht, “weitgehend korrumpiert” seien. Außerdem sagt er, dass er inzwischen besser verstehe, was 1933 bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten passiert sei.74 Später verschärft er diese Aussage bei Twitter: “Das hier IST 1933.”75 Schutzmasken hält Homburg für “Sklaven-Masken, mit denen die Bevölkerung psychisch niedergehalten werden soll”.76 Er schürt Ängste vor der Corona-Impfung, indem er twittert: “Selbst wenn nur einer von Tausend an oder mit der Impfung stirbt, macht das bei Durchimpfung der deutschen Bevölkerung rund 80.000 Impftote.”77 Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass “einer von Tausend an oder mit der Impfung stirbt”. In der Phase-III-Studie des Impfstoffs von Pfizer und BioNTech beispielsweise gab es unter den rund 43.500 Probanden keinen einzigen Todesfall.78 Homburgs verschiedensten Behauptungen wurde in zahlreichen Faktenchecks widersprochen.79

Ein weiterer “honoriger” Experte ist Klaus-Dieter Zastrow, den die “Bild”-Medien meist als “Hygiene-Papst” präsentieren.80 Zastrow sagt, die Gefahr einer zweiten Infektionswelle sei “ein Hirngespinst”.81 Auf der “Bild”-Titelseite vom 6. Mai ist ein Foto von ihm zu sehen, dazu die Überschrift: “Hygiene-Papst sicher – Es wird KEINE zweite Welle geben”.82 Ein paar Monate später kommt die zweite Welle doch.83 Am 29. September knöpft sich Zastrow Angela Merkel vor. Die Kanzlerin hatte vorgerechnet, dass es in Deutschland bis Weihnachten 2020 bis zu 19.200 Neuinfektionen pro Tag geben könnte.84 Für Zastrow ist das “purer Alarmismus”, das habe “nichts mit der Realität zu tun.”85 Tatsächlich trat das Szenario der Kanzlerin noch viel früher ein als von ihr prognostiziert.86 Kaum ein anderer Experte kommt zu dieser Zeit in der Corona-Berichterstattung der “Bild”-Medien so häufig zu Wort wie Klaus-Dieter Zastrow.

Neben Homburg, Zastrow und drei weiteren Professoren gehört laut “Bild” auch eine “Journalistinnen-Legende” zu den sechs “klügsten Corona-SKEPTIKERN” des Landes: Patricia Riekel, früher Chefredakteurin des Peoplemagazins “Bunte”.87 “Sie wäre lieber dem schwedischen Weg der Mahnungen statt Verbote gefolgt”, schreibt “Bild” über Riekel. Es ist keine große Überraschung, dass die Redaktion sie dafür lobend erwähnt.

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Die Oh-wie-schön-ist-Schweden-Phase (Mai bis Dezember 2020)

Monatelang ist Schweden, wo die Corona-Maßnahmen lange Zeit auf Empfehlungen und Freiwilligkeit basieren88, für die “Bild”-Redaktion das Nonplusultra. “Mehr Schweden wagen!”, fordert ein “Bild”-Kommentator im Juli.89 Der Leiter des Ressorts “Meinung” schreibt im September über “Drei Schweden-Wahrheiten, die niemand hören will”90 und berichtet im Oktober: “Deutschland macht dicht, Schweden auf!”91 Bei “Bild-TV” läuft eine Doku über “SCHWEDENS SONDERWEG DURCH DIE CORONA-KRISE”: “,Wir leben hier unser normales Leben weiter‘”.92 In der “Bild”-Zeitung gibt es zeitweise sogar eine eigene tägliche Rubrik: “Und wie geht‘s SCHWEDEN?” Am 11. Mai ist dort beispielsweise zu lesen, dass Stars in der Hauptstadt Konzerte gäben, “trotz Corona”:

In Schweden finden wieder vermehrt Kultur-Veranstaltungen mit Publikum statt.

Im Mai werden u.a. Burlesque-Star Dita von Teese und Sänger Randy Newman Auftritte in Stockholm absolvieren.

Ein Künstler jedoch sticht besonders hervor: Black-Sabbath-Gründer Tony Iommi will trotz schwerer Krebserkankung am 15. Mai im “Lilla Cirkus” in Stockholm spielen.

Vor lauter Begeisterung für die kulturellen Angebote in Schweden scheint die Redaktion die Recherche93 vergessen zu haben. Dita von Teese gab bereits sechs Wochen zuvor bekannt, dass ihr Auftritt nicht stattfinden kann.94 Dass das Konzert von Randy Newman wegen der Beschlüsse der schwedischen Regierung abgesagt werden muss, teilte der Veranstalter am 27. April mit.95 Und dass Tony Iommi aus demselben Grund nicht auftreten kann, wird an dem Tag bekannt, an dem der “Bild”-Artikel erscheint.96

Zwischendurch werden bei Bild.de zwar auch die vielen Todesfälle in Schweden erwähnt97, in der “Bild”-Zeitung berichtet eine Reporterin, dass Schweden entspannt bleibe, “aber nicht verschont”98. Der Grundtenor aber ist: Die Schweden machen es besser.

Damit ist spätestens am 17. Dezember Schluss. Die “Bild”-Redaktion zitiert in einem Artikel Schwedens König Carl Gustav:

“Wir haben versagt. Eine große Anzahl von Mitmenschen ist gestorben und das ist fürchterlich. Wir leiden alle darunter. Ich finde es schrecklich angesichts all der verstorbenen Menschen. Und die Traurigkeit und die Frustration, die viele Menschen und Unternehmer plagen, die in den Knien liegen und sogar ihr Geschäft verloren haben. Es war ein schreckliches Jahr.”

Der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven sehe die Schuld “bei den führenden Gesundheitsexperten des Landes”. Eine extra eingesetzte Corona-Kommission erklärt, dass man es nicht geschafft habe, ältere Menschen vor dem Virus zu schützen. Die “Bild”-Redaktion schreibt: “Auf die Bevölkerung heruntergerechnet hat das Land mit rund zehn Millionen Einwohnern damit deutlich mehr Infektionen und Todesfälle gehabt als Deutschland oder der Rest Skandinaviens.”99 Der Sehnsuchtsort Schweden verschwindet aus der Berichterstattung.

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Die China-soll-zahlen-Phase (ab April 2020, seitdem andauernd)

Ein anderes Land steht von Beginn an am entgegengesetzten Ende der “Bild”-Beliebtheitsskala: China. Schon früh schreiben die “Bild”-Medien vom “China-Virus”.100 Mitte April veröffentlicht “Bild” eine große Rechnung: “WAS CHINA UNS JETZT SCHON SCHULDET”. Allein für die deutsche Tourismusbranche veranschlagt die Redaktion “24 Mrd. Euro Umsatz-Minus” in zwei Monaten. Für den Einzelhandel schlägt sie “1,15 Mrd. Euro entgangene Umsätze pro Tag” obendrauf. Außerdem noch “55 Mrd. Euro für Pandemiebekämpfung”, “10 Mrd. Euro mindestens für Kurzarbeit” und so weiter. In der “Amazon”-Doku über “Bild” ist die Redaktionskonferenz zu sehen, in der diese Rechnung geplant wird. Einigen Mitarbeitern scheint die Aktion unangenehm zu sein.101

Noch am Tag der Veröffentlichung schreibt eine Sprecherin der chinesischen Botschaft in Berlin einen offenen Brief an Julian Reichelt: “Mit einigem Befremden habe ich heute Ihre Berichterstattung zur Corona-Pandemie im Allgemeinen und zu der vermeintlichen Schuld Chinas daran im Besonderen verfolgt.” Sie betrachte es als “ziemlich schlechten Stil”, ein Land für eine Pandemie verantwortlich zu machen, “unter der die ganze Welt zu leiden hat und dann auch noch eine explizite Rechnung angeblicher chinesischer Schulden an Deutschland zu präsentieren”.102 Reichelt antwortet prompt – mit einem offenen Brief an Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping.103 Er spricht sein Schreiben auch vor laufender “Bild-TV”-Kamera ein. Das Video erscheint mit chinesischen Untertiteln104 und auch auf Englisch.105 Die Resonanz ist riesig. In einer erneuten Redaktionskonferenz zeigt Reichelt per Beamer sichtlich stolz, dass auch Donald Trumps Sohn seinen Videokommentar bei Twitter verbreitet habe, und erzählt dazu sichtlich noch stolzer, dass das wiederum auch der Vater retweetet habe.106

Im September präsentiert Bild.de eine “chinesische Forscherin”, die angeblich das liefert, was es bräuchte, damit China womöglich wirklich zur Rechenschaft gezogen wird:

Ist das Coronavirus von Menschenhand gemacht? Dr. Li-Meng Yan sagt: Ja! “Es kommt aus dem Labor in Wuhan. Die Genomsequenz ist wie ein menschlicher Fingerabdruck.”

In der Überschrift zitiert die Redaktion die Chinesin: “,Das Corona-Virus kommt aus dem Labor‘”. Das habe die chinesische Führung aber erfolgreich vertuscht, sagt die Frau. Und:

In Hongkong habe außerdem jemand ihre Erkenntnisse von ihrem Computer gelöscht, sagte Dr. Li-Meng Yan der “Daily Mail”. Die Beweise bleibt sie bis heute schuldig. Sie wolle diese aber noch vorlegen, so Yan.107

Einen Tag später ist es schon so weit. Bild.de berichtet: “Forscherin zeigt ihr Beweismaterial”. Im Artikel steht:

“Das Virus kommt aus dem Labor.” Eine chinesische Virologin, die lange an der Uni Hongkong arbeitete und das neuartige Coronavirus eigenen Angaben zufolge seit Ende 2019 erforschte, bestätigt mit dieser Aussage, was viele Menschen schon lange glauben.

Jetzt hat Dr. Li-Meng Yan mit drei weiteren Forschern eine wissenschaftliche Arbeit (“Paper”) vorgelegt, die sogar zeigen soll, wie das Virus hergestellt wurde.

Die Redaktion ergänzt noch: “BILD übersetzt prägnante Aussagen ins Deutsche. Es liegt allerdings noch keine Prüfung von Dr. Li-Meng Yans Arbeit durch unabhängige Wissenschaftler vor.”108

Das US-Nachrichtenmagazin “Newsweek” hilft dabei. Es bittet mehrere Wissenschaftler, sich das Paper anzuschauen. Deren Urteil ist verheerend: Li-Meng Yan liefere keine neuen Informationen, sie stelle mehrere unbelegte Behauptungen auf, ihre wissenschaftliche Argumentation sei schwach. Dem Preprint-Bericht könne in dieser Form keinerlei Glaubwürdigkeit verliehen werden, sagt einer der Wissenschaftler.109

Die “Bild”-Redaktion reagiert auf den “Newsweek”-Text und ergänzt in ihrem Artikel: “Mehrere Wissenschaftler widersprechen der Forscherin, kritisieren die Aussagen als Verschwörungstheorien”.110 Der erste Artikel zum Thema (“,Das Corona-Virus kommt aus dem Labor‘”) ist unverändert online.

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Die Nicht-wieder-schließen-Phase (ab Mai 2020, seitdem andauernd)

Mit Blick auf die Situation in Deutschland haben sich die “Bild”-Medien inzwischen offenkundig auf eine Richtung festgelegt: Sie kämpfen gegen die Corona-Maßnahmen. Die Mittel scheinen dabei egal zu sein.

Dem Vorstandsvorsitzenden des Weltärztebundes Frank Ulrich Montgomery legt Bild.de im September ein erfundenes Zitat in den Mund: “Weltärzte-Chef Montgomery bei Anne Will – ,Grundrechtseinschränkung, eine Maske zu tragen!‘” Das hat der frühere Präsident der Bundesärztekammer bei seinem Fernsehauftritt jedoch nie gesagt. Tatsächlich spricht sich Montgomery dort für das Tragen von Masken aus. Er fragt: “Ist es eine Grundrechtseinschränkung, sich eine Maske aufsetzen zu müssen?” Und erklärt dann, dass selbst ein “feuchter Lappen vor dem Gesicht” zumindest “die anderen schützen kann”.111 Den Artikel hat die “Bild”-Redaktion später gelöscht.

Sie ist augenscheinlich bemüht, die Corona-Maßnahmen als willkürlich oder aberwitzig darzustellen. Bei Auftritten des Zaubererduos “Ehrlich Brothers” beispielsweise herrscht laut Bild.de-Schlagzeile der “Corona-Irrsinn”. Hinter der “Bild-plus”-Paywall klingt die Geschichte schon gar nicht mehr so irrsinnig: “In Düsseldorf durften die Brüder vor 2500 Fans auftreten. In Köln hingegen sorgten gestiegene Infektionszahlen einen Tag vor dem Event am Sonntag für die Absage der Stadt.”112 Der zuvor festgelegte Grenzwert bei der Sieben-Tage-Inzidenz wurde in Köln überschritten. In Düsseldorf nicht. In Düsseldorf durften die “Ehrlich Brothers” auftreten. In Köln nicht.

Am 18. September titelt “Bild”: “Härtere Corona-Regeln in der Kirche als im Puff – Singen verboten, aber Sex ist erlaubt!” Die erkennbare Idee hinter dem Artikel: Dinge vergleichen, die möglichst wenig miteinander zu tun haben, deren Kombination aber im Bestfall für Kopfschütteln und Unmut sorgt. Der Autor versucht es so:

Die Gefahr, abends nach dem Schwimmen von nassen Haaren auf dem Fahrrad krank zu werden, dürfte bei knapp 100 Prozent liegen. Die Gefahr, Corona zu bekommen, liegt im niedrigen einstelligen Bereich, aber die Berliner Bäderbetriebe haben die Benutzung der elektrischen Haartrockner unterbunden – die Aerosole.113

Es ist eigentlich allgemein bekannt114, dass niemand allein durch nasse Haare krank wird, erst recht nicht zu “knapp 100 Prozent”. Durch Aerosole kann man hingegen durchaus krank werden. Überschrieben ist der Artikel mit: “Diesen Corona-Irrsinn versteht niemand mehr”.115

Oder man will es nicht verstehen. Nur einen Tag später erscheint bei Bild.de ein Kommentar, der die Corona-Regeln als “absurd” bezeichnet. Es geht um Bilder und Situationen, die die Maßnahmen hervorrufen und “die wir unseren Kindern nicht erklären können.” Zum Beispiel:

Warum müssen Kinder auf dem Schulhof Maske tragen, im Unterricht dann aber im Klassenzimmer nicht mehr?

Kein Kind, das vorher gelernt hat, wie wichtig Vernunft als Grundlage von Entscheidungen ist, kann das verstehen.116

Man könnte den Kindern die Überlegung hinter dieser Regelung erklären. In Schleswig-Holstein etwa ist es das sogenannte Kohortenprinzip:

Das Kohortenprinzip sichert einen regulären Schulbetrieb. Durch die Definition von Gruppen in fester Zusammensetzung (Kohorten) lassen sich im Infektionsfall die Kontakte und Infektionswege wirksam nachverfolgen. Damit wird angestrebt, dass sich Quarantänebestimmungen im Infektionsfall nicht auf die gesamte Schule auswirken, sondern nur auf die Kohorten, innerhalb derer ein Infektionsrisiko bestanden haben könnte.

Innerhalb der Kohorte verzichte man “auf Abstandsregeln und das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen”.117 Daher keine Masken im Klassenzimmer. Auf dem Schulhof hingegen schon, damit sich die verschiedenen Kohorten nicht gegenseitig infizieren.

So geht es – nahtlos an die Kritik von “Deutschlands klügsten Corona-SKEPTIKERN” anknüpfend – monatelang gegen mögliche Einschränkungen und Schließungen: “Top-Virologe Streeck kritisiert Corona-Maßnahmen – Deutschland ist zu schnell in den Lockdown gegangen!”118 “Top-Lungenarzt fordert – Deutschland kann mehr Infektionen zulassen”.119 “WIE TÖDLICH IST DAS VIRUS WIRKLICH? Amtsarzt vergleicht Corona mit Grippe und Hitzewelle”.120 “STERBEN mehr Menschen am Lockdown als an Corona?”121 “EXPERTE WARNT – Mehr Tote durch Lockdown als durch Corona”.122 “So tödlich ist der Lockdown”.123 Im Dezember berichtet Bild.de auf der Startseite von “30 000 Neuinfektionen in Deutschland”. Das seien “NEUE HÖCHSTWERTE”.124 Direkt daneben ärgert sich die Redaktion über den “PSYCHO-KRIEG gegen Weihnachtseinkäufe”, weil Politiker “immer dramatischer” vor dem dicht gedrängten Geschenkeshopping warnen.125

Trotz aller Bemühungen der “Bild”-Redaktion beschließen Kanzlerin und Ministerpräsidenten im Oktober erst einen sogenannten Lockdown light126 und im Dezember einen harten Lockdown127. Am Ende des Jahres, am 31. Dezember, lautet die große Schlagzeile auf der “Bild”-Titelseite “Kanzlerin, so darf es 2021 NICHT weitergehen!”128 In der Berichterstattung der “Bild”-Medien geht es genau so weiter.

BILDblog hat ein Buch geschrieben

Hier im BILDblog war es im vergangenen halben Jahr ziemlich ruhig – neben unseren “6 vor 9” sind kaum weitere Beiträge erschienen. Daher erstmal: vielen Dank für die Geduld und entschuldigt bitte die Stille!

Dafür gibt es aber auch einen Grund. Wir haben in dieser Zeit ein seit Jahren geplantes Herzensprojekt umgesetzt: ein Buch über “Bild”. Das ist jetzt, nach vielen Tagen und Nächten des Recherchierens und Schreibens, fertig:

Cover des Buchs von Mats Schönauer und Moritz Tschermak - Ohne Rücksicht auf Verluste - Wie Bild mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet

Wir haben dafür mit Betroffenen und Opfern der “Bild”-Berichterstattung gesprochen, mit aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern von “Bild”. Im Buch zeigen wir, wie die “Bild”-Medien systematisch Ängste schüren, wie sie Feindbilder pflegen, wie sie Politik machen, wie sie Kampagnen fahren, wie sie den Ruf unschuldiger Menschen zerstören.

Das Buch wird am 11. Mai bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen und kann jetzt schon vorbestellt werden:

So, und ab jetzt geht es auch wieder mit Blogbeiträgen los!

Bild  

“Wenn ich Reichelt hier sehe, habe ich den Eindruck, dass er in einer Art Kriegszustand lebt”

Günter Wallraff recherchierte einst investigativ und verdeckt als “Hans Esser” bei “Bild” und sorgte mit seinen Büchern “Der Aufmacher” (1977) und “Zeugen der Anklage” (1979) für viel Aufsehen. Jakob Buhre hat für BILDblog Wallraff am 12. Dezember in Köln getroffen und mit ihm einige Passagen der neuen Amazon-Doku “Bild.Macht.Deutschland?” angeschaut.

Protokoll/Interview: Jakob Buhre

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Heiko Maas nach einem “Bild-Live”-Interview in der “Bild”-Redaktion, Folge 1: “Die ‘Bild’ ist eines der größten Printmedien in Deutschland, sie vermittelt einem Zugang zu der breiten Masse der Öffentlichkeit, und Politiker sind darauf angewiesen, dass sie kommunizieren können, in die Öffentlichkeit, mit dem was sie tun, mit dem was sie für richtig halten. Und dafür ist die ‘Bild’ ein richtig gutes Instrument.”

Wallraff: Man kann es schon fast als Unterwerfung deuten, wie staatstragende Politiker hier bei “Bild” ihre Aufwartung machen und antichambrieren. Aber hat unser Außenminister so etwas wirklich nötig?

Peter Tschentscher, Folge 1: “Die ‘Bild’ ist eine konservative Zeitung, ich bin ein konservativer Mensch und die Sozialdemokraten in Hamburg sind sehr bodenständig. Insofern passt das gut zusammen.”

Wallraff: Da bekennt ein Sozialdemokrat vor dem Springer-Hochhaus: “ich bin konservativ”. Ehrlich gesagt hat mich das jetzt erstmal verunsichert, ob Tschentscher nicht am Ende CDU-Mitglied ist. Warum dieser Kotau? Was passt denn da so gut zu zusammen?

Karl Lauterbach, Folge 3: “Es kommt drauf an, ob ich, um Hetze zu betreiben, kleine Unterschiede hochjazze und damit den Eindruck erwecke, die widersprechen sich alle, oder ob ich das Gemeinsame betone und einräume: an der Spitze gibt es noch unterschiedliche Bewertungen.”

Wallraff: Ich bin mit Karl Lauterbach befreundet. Für mich ist er ein Ausnahme-Politiker. Er hat kein sicheres Bundestagsmandat, redet keinem nach dem Mund und macht sich nicht gemein, sich denen anzubiedern. Er spricht hier davon, dass “Hetze betrieben wird”, das finde ich mutig. Und immerhin zeigen uns die Filmemacher das.


“Allein die Liaison “Bild”-Amazon ließ das Schlimmste befürchten.” (Foto: Christoph Michaelis)

Wie ist denn Ihr Eindruck insgesamt vom Filmischen her?

Wallraff: Da waren gerade sehr viele Zeitungen zu sehen. Können wir nochmal dahin spulen? – Hier, diese Stapel, das sind alles “Bild”-Exemplare. Entweder liegen in den Redaktionen auf den Schreibtischen wirklich keine anderen Zeitungen oder ist es eine plumpe Werbung?

Die Auswahl der Themen und Schauplätze wirkt auf mich sehr beliebig. Man erfährt nur wenig über den Durchschnitt der Artikel, die in der Zeitung erscheinen, welche Themen dort bevorzugt werden. Mir fehlen auch die “Bild”-Leserinnen und -Leser.

Insgesamt habe ich den Eindruck, dass das alles sehr im gegenseitigen Einvernehmen von Amazon und “Bild” stattgefunden hat. Wären die Filmemacher unabhängig, hätten sie auch mit Opfern der “Bild”-Berichterstattung oder externen Medienkritikern gesprochen. So ist das die reinste “embedded”-Reportage.

Christian Lindner, von dem “Bild” einen Paparazzo-Abschuss druckte, äußert sich allerdings auch in der Doku.

Wallraff: Na, und. Aber wenn es um die namenlosen Opfer von “Bild” geht, das sehe ich hier nicht, dass die einmal zu Wort kommen. In Folge 7, von der Sie mir gerade Auszüge gezeigt haben, ist die Diskussion der Redaktion über Persönlichkeitsrechte zu sehen, immerhin. Allerdings vermute ich, dass die wenigsten Zuschauer sich diese ermüdende Serie bis zur letzten Folge antun werden.

Auch von Ihren Recherchen bei “Bild” gibt es Filmaufnahmen. Wie sind Sie damals mit Kameras in die “Bild”-Redaktion gekommen?

Wallraff: Das war gar nicht so einfach, es gab ja noch keine versteckten Kameras. Mir half damals ein Freund vom niederländischen Fernsehen, Jan Kuiper. Sein Sender hat vorgegeben, dass sie im Rahmen einer Städtepartnerschaft-Reportage auch in Hannovers Redaktionen filmen wollten. Die erste Anfrage hatte mein Redaktionsleiter abgelehnt. Also hat ein Team zwei bis drei andere Drehs simuliert und so getan, als würden sie zum Beispiel bei der “Hannoverschen Allgemeinen Zeitung” Filmaufnahmen machen. Das hat bei “Bild” die Eitelkeit geweckt, und sie sind drauf angesprungen. Meine Freunde kamen schließlich mit zwei Teams. Die einen haben den Chefredakteur in ein Dauer-Interview verwickelt, die anderen haben im Großraumbüro das zynische Treiben gefilmt.


Günter Wallraff 1977 als “Hans Esser” in der “Bild”-Redaktion Hannover. (Foto: Günter Zint)

Zurück zur Amazon-Doku: Wie beurteilen Sie die Aussagen der Blattmacherinnen und Blattmacher, die Sie hier sehen?

Wallraff: Es kommen hier welche zu Wort, wo ich sagen würde: Diesen Typus gab es zu meiner Zeit höchst selten. Durchaus reflektierte, vielleicht auch entsprechend ausgebildete Journalisten, die in anderen Blättern vermutlich einen seriösen Journalismus vertreten würden, ihn hier aber nur schwerlich durchsetzen können.

Zu meiner Zeit gab es viel mehr den Drücker-Typ, der den Opfern halb-betrügerisch ins Haus einfiel. Und dann vor allem Machos: Mein Redaktionsleiter hatte einen Schießstand in seiner Penthouse-Wohnung, es wurde Blitzschach gespielt, und man musste sich als trinkfest beweisen. Es war sehr männerbündlerisch. Hier sehe ich, zumindest zwischendurch, auch vereinzelt Frauen, und die kommen eher nachdenklich zu Wort.

Ein großer Unterschied ist auch: Zu meiner Zeit bei “Bild” wurde dem Chef so gut wie nie widersprochen. Der Redaktionsleiter duzte alle, musste aber gesiezt werden.

Wir hatten damals auch viele Kettenraucher, und Whiskey war in der Redaktion das Leitgetränk. Es scheint doch einiges harmloser geworden zu sein, jetzt kaut der Chefredakteur seine Gummibärchen.

Redaktionskonferenz, Folge 1, Redakteur aus dem Off: “Wir wollen die Rede [von Angela Merkel] vernichten?” – Julian Reichelt: “Nein, ich will sie nicht vernichten.”

Wallraff: “Abschießen, vernichten” waren zu meiner Zeit bei “Bild” Alltagsbegriffe. Es ging oft darum, Menschen “fertig zu machen”. “Bring die Sau zur Strecke!” Es gab auch keine Trennung zwischen Berichterstattung und Meinung.

Wenn ich Reichelt hier sehe, habe ich den Eindruck, dass er in einer Art Kriegszustand lebt. Dazu passt ja auch sein Feldbett im Büro. Man weiß von ihm, dass er sich als jemand sieht, der Politik macht – und nicht begleitet.

“Bild am Sonntag”-Chefredakteurin Alexandra Würzbach in einer Redaktionskonferenz, Folge 4: “Wir haben gesagt ‘Refugees Welcome’ und haben es uns zwei, drei Jahre später anders überlegt.” […] – 
Julian Reichelt: “Wir haben uns ‘Refugess Welcome’ nicht anders überlegt, das ist falsch, das lasse ich so nicht stehen.” Es folgen Filmaufnahmen von Paul Ronzheimer im Flüchtlingslager Moria.

Wallraff: Das überrascht mich und entspricht tatsächlich nicht dem Klischee. Vielleicht liegt es auch daran, dass Reichelt noch unter Kai Diekmann selbst in Kriegsgebieten war, in Afghanistan, in Syrien und im Irak, und sogar Flüchtlingen geholfen haben soll, nach Deutschland zu kommen, wie einst der “Spiegel” berichtete. So etwas prägt. Wenn “Bild” Not und Elend im Flüchtlingslager zeigt, könnte man daraus die Forderung an die Politik ableiten, dass sie sich des Themas annimmt.

Filipp Piatov in Folge 3: “Ich bin bei ‘Bild’, weil mir gewisse Grundlinien des Hauses sehr zusagen: Transatlantische Partnerschaft, gutes Verhältnis zu Israel, klares Verhältnis zur Marktwirtschaft, Ablehnung von linken und rechten extremen Ideologien.”

Wallraff: Naja, das sind so Gemeinplätze. Ein paar Gebetssäulen. Ich finde, das ist ein bisschen wenig.

Alexander von Schönburg in Folge 3: “Ich war früher bei der ‘FAZ’, bin jetzt bei der ‘Bild’ und empfinde das, was ich hier mache, als Aufstieg, auch als intellektuellen Aufstieg. […] Wer Wichtiges zu sagen hat, kann es in kurzen Sätzen sagen, dazu zwingt einen ‘Bild’. Darum habe ich persönlich profitiert, für mein eigenes Schreiben, dass man sich zwingt, kurz und präzise zu schreiben. Und nicht, wie das bei der ‘FAZ’ oder ‘SZ’ zum Teil ist: Du schreibst, um deine Kollegen zu beeindrucken.”

Wallraff: Ach, du Schande. Er tut mir richtig leid. Was muss der Mann erlitten haben, dass er sich hier so klein macht? Konnte er sich früher beim Schreiben nicht klar ausdrücken? Es gibt in der “FAZ” und der “SZ” doch genug Artikel, die eine deutliche und klare Sprache benutzen und trotzdem verständlich und differenziert sind.

Früher steckte in der “Bild”-Sprache sehr oft eine Aggression, Verächtlichmachung und Vernichtungswille bis hin zum Rufmord. Für mich benutzt “Bild” immer wieder eine in der Versimplung auch denunzierende Sprache.


“Das ist doch lächerlich und anmaßend.” (Foto: Christoph Michaelis)

Julian Reichelt in Folge 3: “Unser natürlicher Aggregatszustand ist zu hinterfragen. Und wie sehr wir hinterfragen, sieht man uns halt ein bisschen mehr an, weil unsere Überschriften größer sind und unsere Sprache klarer.”

Wallraff: Das ist doch lächerlich und anmaßend. Es klingt so, als würden andere Medien weniger hinterfragen, weil sie kleinere Buchstaben verwenden. Dabei sind es gerade sie, die differenzieren und auch zwischen Kommentar und Bericht zu trennen wissen.

Und zum “Hinterfragen”: Wenn sie Christian Drosten eine Stunde Zeit geben, um eine Anfrage zu seiner wissenschaftlichen Kompetenz abzuverlangen, nennen sie das “hinterfragen”? Ich fand, das war gegenüber Drosten eine Unverfrorenheit, eine Allmachtsallüre. Dass Drosten sich darauf nicht eingelassen hat, das ehrt ihn.

Die Causa Drosten wird in der Doku sehr ausführlich behandelt, mit vielen kritischen Stimmen von innerhalb und außerhalb der Redaktion.

Wallraff: Da blieb ihnen wohl nichts anderes übrig. Ich habe da jetzt Redakteure gesehen, die sich als Opfer gerieren, keinerlei Reue zeigen, sich auch nicht entschuldigen. Und wenn es Reue gab: Wurde sie in der “Bild” zum Ausdruck gebracht? Ich habe nichts davon gehört.

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Wenn Sie einmal “Bild” 1977 und “Bild” 2020 vergleichen …

Wallraff: Die “Bild” hat heute nicht mehr die zerstörerische Kraft und Macht, auch längst nicht mehr das kriminelle Potential wie damals. “Harmlos” wäre der falsche Begriff, aber sie hat nicht mehr die Relevanz. Damals war es ein beherrschendes, flächendeckendes Medium. Und was ich erlebt habe, war ein Hetzblatt, das auch Menschen mit Falschberichterstattung in den Suizid getrieben hat wie zum Beispiel den Schauspieler Raimund Harmstorf. Ich meine, dass ich mit dazu beitragen habe, dass diese Ära überwunden wurde.

Es gab damals die Rubrik “Bild hilft”, die vielen Menschen aber gar nicht geholfen, sondern hilfsbedürftige Personen bis ins Privateste hinein vorgeführt hat. Ein Junge mit Schulproblemen wurde als “Deutschlands faulster Schüler” und eine Frau, die sich wegen Problemen mit ihrer Fahrschule an “Bild hilft” gewandt hatte, fast kampagnenartig als “Deutschlands schlimmste Fahrschülerin” abgestempelt. Ich habe einen Rechtshilfe-Fonds finanziert, durch den “Bild”-Opfern zu Gegendarstellungen und Unterlassungen verholfen wurde bis hin zu Schadenersatz und Schmerzensgeld: Zum Beispiel für die hinterbliebenen minderjährigen Söhne eines Mannes, der sich nach einem Verleumdungsartikel umbrachte. In seinem Abschiedsbrief rief er zum “Bild”-Boykott auf: “Diese Schande kann ich nicht überwinden, ich wollte zuerst diesen Verbrecher, der K. [der “Bild”-Reporter] heißt, umbringen. Aber ihr solltet keinen Mörder als Vater haben. Durch meinen Tod aber ist er zum Mörder geworden. Wer etwas Ehrgefühl und Verstand hat, der sollte dieses Lügenblatt nicht kaufen!”

Es gibt heute natürlich auch eine andere Gegenöffentlichkeit: Es gibt die Rügen des Presserats, “Bild” liegt hier mit weitem Abstand vorne, lehnt es aber häufig ab, sie abzudrucken. Es gibt die Kollegen vom BILDblog, einige Prominente boykottieren “Bild”, und viele Gerichte betrachten die Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht mehr als Kavaliersdelikt.

Mehmet Scholl, Folge 6: “Die ‘Bild’-Zeitung hat mich ein Jahr lang völlig zerlegt, weil ich nicht mit ihnen gesprochen habe. […] Wenn die “Bild” im Sport alles schreiben würde, was sie wissen … Das tun sie aber nicht, weil sie schlau genug sind, zu wissen: Wir bekommen andere Informationen im Austausch dafür.”

Wallraff: Das sagt natürlich sehr viel aus. Da wird jemand zum Feindbild, weil er nicht mit “Bild” spricht. Und dass man bestimmte Geheimnisse nutzt, um an andere Informationen zu gelangen, das ist eigentlich eine Geheimdienst-Strategie: Wenn bestimmte Dienste Material über Verfehlungen von Politikern besitzen, können sie diese bei Bedarf “gefügig” machen.

Mehmet Scholl: “Ich habe mit der ‘Bild’ die Abmachung: keine privaten Storys. Wenn eine kommt, fragt mich – und dann haben wir es immer gemeinsam entschieden.”

Wallraff: Es gibt Prominente, die der “Bild” bis ins Intimleben hinein Dinge preisgeben, weil sie glauben, dass es ihnen nützt und dass sie geschont werden. Christian Wulff hat sich bis hin zur Home-Story zur Verfügung gestellt, aber es hat ihm nichts genützt. Er war für “Bild” irgendwann fällig, vermutlich aufgrund seiner Äußerung “Der Islam gehört zu Deutschland”. Da ging der Daumen nach unten, und es folgte eine der infamsten Rufmordkampagnen.

Was denken Sie heute über Journalisten, die für “Bild” arbeiten?

Wallraff: Ich differenziere. Wir haben jetzt einen gesehen, der von der “FAZ” zur “Bild” gegangen ist, die Mehrheit hat, glaube ich, eine Journalismus-Ausbildung. Aufgrund meiner früheren Erfahrungen würde ich mich aber nicht auf ein Interview oder eine Home-Story einlassen. Und denjenigen, die es tun, würde ich einen Warnhinweis mitgeben: “Alles, was Sie fortan sagen oder auch nicht sagen, kann gegen Sie verwendet werden.”

Ich kenne auch Menschen, die, durch meine Aufdeckungen inspiriert, zur “Bild” gegangen sind, weil sie es selber wissen wollten. Sandra Maischberger zum Beispiel erzählte in einem “Tagesspiegel”-Interview [Ausgabe vom 10. Februar 2002], dass sie deswegen bei “Bild” ein Praktikum machte und dann ein bisschen enttäuscht gewesen sei, weil sie das “Über-Leichen-gehen” dort nicht erlebt habe. Sie wurde dann übrigens am Ende gefragt, wie oft sie in dem Interview gelogen habe, worauf sie antwortete: einmal. (lacht)

Sollten Politiker heute “Bild” boykottieren?

Wallraff: Das wagt doch kaum noch jemand, aber sie sollten der eigenen Glaubwürdigkeit wegen zumindest Distanz wahren.


Günter Wallraff heute als Günter Wallraff. (Foto: Privat)

Hat man Sie eigentlich für die Amazon-Dokumentation angefragt?

Wallraff: Nein, ich hätte da auch abgesagt. Allein die Liaison “Bild”-Amazon ließ das Schlimmste befürchten.

Sie selbst sagen von sich, dass Sie Amazon boykottieren. Warum kann man dann Ihre Bücher dort kaufen?

Wallraff: Das kann ich leider nicht verhindern. Ich habe meinen Verlag schon vor langer Zeit angewiesen, meine Bücher nicht an Amazon auszuliefern. Mir wurde gesagt, ich würde dadurch zehn bis 15 Prozent Umsatz verlieren – damit kann ich leben. Amazon unterläuft meinen Boykott, indem sie meine Bücher jetzt über Zwischenhändler ordern. Das kann ich nicht verhindern, aber so muss Amazon sie etwas teurer einkaufen, als wenn mein Verlag sie direkt beliefert. Für mich ist Amazon eine globale Seuche, gegen die auch kein Impfstoff hilft.

Seuche ist ein starkes Wort, nicht nur angesichts der aktuellen Situation, wo Menschen froh sind, wenn sie Geschenke online kaufen können.

Wallraff: Das ist das Tragisch-Vertrackte, so ist Amazon auch noch der größte Corona-Krisengewinner, kann seine Umsätze verdoppeln und durch Steuervermeidungsstrategien Milliarden am Staat vorbei einstreichen. Ich verstehe jeden, der keine Möglichkeit hat, in ein Geschäft zu gehen, und deswegen online etwas bestellt. Ich selbst kann und möchte dieses Allmachtstreben von Jeff Bezos nicht unterstützen, der sein Unternehmen ursprünglich “Relentless”, “Gnadenlos” nennen wollte und Konkurrenten als Gazellen bezeichnet, die man jagen müsse. Die Innenstädte sterben aus, die Arbeitsbedingungen bei Amazon sind miserabel – es ist eine seelenlose, total überwachte Arbeitsorganisation. Ich kenne Menschen, die bei Amazon gearbeitet haben und von unheimlichem Druck erzählen. Wer nicht mindestens im Durchschnitt der übrigen Mitarbeiter liegt, fällt heraus. Und nach dem Weihnachtsgeschäft wird aussortiert. Dafür nutzt Amazon den Begriff “ramp down”, der aus dem Vieh-Transport stammt und so viel bedeutet wie “die Rampe runter treiben”. Diejenigen, die entlassen werden, können sich ja dann später neu bewerben, man will so ihre Festanstellung verhindern.

Zum Schluss: Haben Sie mit “Team Wallraff” aktuell jemanden bei “Bild” eingeschleust?

Wallraff: Kein Kommentar.

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Über den Versuch, falsche Behauptungen über “Querdenken” korrigieren zu lassen

Ein Gastbeitrag von Jakob Buhre, freier Autor unter anderem bei “der Freitag” und Betreiber von “Planet Interview”

Haben die Initiatoren von “Querdenken” ein Recht darauf, dass man über sie korrekt berichtet?

“Absolut. Das finde ich extrem wichtig”, sagte mir dazu kürzlich David Schraven von “Correctiv”. Die Frage ist natürlich rhetorisch und man möchte meinen, die Antwort darauf sei selbstverständlich. Doch dem ist nicht ganz so. Das zumindest habe ich gelernt, als ich in den vergangenen vier Wochen “Spiegel”, “Zeit Online” und auch tagesschau.de hinterhergelaufen bin, um die Redaktionen auf ein falsches Narrativ in ihrer Berichterstattung aufmerksam zu machen.

Konkret geht es um folgende Behauptung: Die Initiative “Querdenken 711”, die hinter zahlreichen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung steckt, habe sich vor und während der Berliner Demonstration vom 29. August nicht von gewalttätigen beziehungsweise rechtsextremem Demonstranten distanziert.

Wer ein bisschen recherchiert, findet relativ schnell zahlreiche Distanzierungen, die der “Querdenken”-Initiator Michael Ballweg vor und während betreffender Demo ausgesprochen hat. Sie finden sich in verschiedenen Medienberichten, in einem Interview, das Welt.de, RBB und ZDF am 28. August mit ihm geführt haben, und in Ballwegs Reden, zum Beispiel am 9. Mai, am 31. Mai oder am 1. August. Am 29. August sagte Ballweg öffentlich: “Rechtsradikales, linksradikales, rechtsextremes, linksextremes, faschistisches, menschenverachtendes Gedankengut hat in unserer Bewegung keinen Platz”.

Die “Spiegel”-Redaktion interessiert das offenbar nicht. In einem Video vom 31. August heißt es: “Der Veranstalter distanziert sich im Nachhinein”, und mit Bezug auf den 29. August formuliert eine Redakteurin: “Es gab keine wirkliche Distanzierung von Rechtsextremem oder rechtsextremem Gedankengut”. Ich weise die Autorin mehrmals per Mail auf die zahlreichen Distanzierungen Ballwegs hin, die sie unterschlagen hat. Da eine Reaktion ausbleibt, versuche ich es bei der Pressestelle des “Spiegel”. Und siehe da: Der “Projektleiter Kommunikation” bestätigt mir den Eingang meiner Mail. Das war’s aber auch schon. Als ich ein paar Tage später telefonisch nachhake, teilt mir der Pressesprecher mit: “Sie bekommen dazu von uns keinen Kommentar.”

“Zeit Online” hat das falsche Narrativ mit einer anderen Formulierung bedient: “Vor der Demonstration hatte es seitens des Vereins keine klare Distanzierung von gewaltbereiten Gruppen gegeben.” Dass dies nicht zutrifft, konnte man selbst bei “Zeit Online” nachlesen, wo Ballweg am 28. August so zitiert wurde: “Diejenigen, die zu Gewalt aufrufen, gehören nicht zu uns.” Am 5. September beginne ich, “Zeit Online” auf diesen Widerspruch in der Berichterstattung hinzuweisen. Doch weder Pressestelle noch Redaktion reagieren. Nach zwei Wochen teilt mir eine Redakteurin am Telefon mit, dass im Falle eines Fehlers “Zeit Online” gar nicht die Möglichkeit hätte, ihn zu korrigieren, weil der Artikel Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP enthält. Ich kontaktiere die Agenturen, die mir beide mitteilen, dass sie den falschen Satz nie versendet haben. Ich schreibe zum dritten Mal an den Chefredakteur von “Zeit Online” – und tatsächlich wird daraufhin die falsche Berichterstattung transparent korrigiert. Der Vize-Chefredakteur bedankt sich anschließend für meine Beharrlichkeit. Gern geschehen.

Nichts genutzt hat diese Beharrlichkeit dagegen im Fall von tagesschau.de. Doch zuvor eine Zwischenbemerkung: Dass das Aussprechen einer Distanzierung noch nichts über ihre Glaubwürdigkeit sagt, ist eine Binse. Und dass viele Journalistinnen und Journalisten Michael Ballweg für nicht glaubwürdig halten, muss ich hier vermutlich nicht erwähnen. Doch entweder zu berichten: “es gab eine Distanzierung, die nicht glaubwürdig ist”, oder zu berichten: “es hat keine Distanzierung gegeben”, ist ein Unterschied und kein so geringer.

Im ersten Fall kann die Leserschaft noch selbst entscheiden, ob sie die Distanzierung für glaubwürdig hält. Im zweiten Fall ist das a) unmöglich und b) wird noch etwas Anderes unterschlagen: Die Reaktion der Demonstrierenden. Jedes Mal, wenn Ballweg sich auf der Bühne von Faschismus und Extremisten distanziert hat, kam großer Applaus auf. Mir ist nicht ein Bericht der öffentlich-rechtlichen Medien bekannt, wo das dokumentiert wurde.

Womit wir bei ARD-aktuell beziehungsweise tagesschau.de wären. Dort schreibt eine Redakteurin am 30. August in einem Kommentar, “es gab im Vorfeld und auch während der Demonstration keine öffentliche Distanzierung”, um dann mit diesem Vorwurf fortzufahren:

Dass sich der oberste “Querdenker”, Michael Ballweg, heute von dem rechtsextremen Aufmarsch und der Gewalt vor dem Reichstag öffentlich distanziert, kommt nicht nur zu spät, sondern ist auch reichlich wohlfeil. Warum wurden die Nazis nicht schon während oder vor der Demo zu unerwünschten Personen erklärt?

Diese Darstellung ist falsch und zudem seltsam. Denn es war nicht irgendein anderer Sender, gegenüber dem sich Michael Ballweg am 28. August von der angekündigten Demonstration am Reichstag distanziert hat, sondern die ARD. Auf die Frage einer RBB-Journalistin nach Distanzierung sagte Ballweg:

Unsere Versammlung ist auf der Straße des 17. Juni, wir haben mit diesen Gruppen [am Reichstag] nichts zu tun, und die sind bei uns letztendlich nicht willkommen.

Im selben Interview sagte Ballweg auch das hier: “Natürlich distanzieren wir uns von allen, die antidemokratisch sind, egal ob sie rechtsextrem oder linksextrem sind.” Welt.de hat das am 28. August veröffentlicht. Die Tatsachenbehauptung im Kommentar bei tagesschau.de ist also nicht nur falsch, sie widerspricht auch dem Material des eigenen Hauses.

Weil ich es mir mit diesem Vorwurf an tagesschau.de nicht leicht mache, habe ich zusätzlich zwei Experten um ihre Einschätzung gebeten. Heiko Hilker betreibt das Dresdner Institut für Medien, Bildung und Beratung und ist Mitglied im MDR-Rundfunkrat sowie im Medienbeirat von RTL. Er sagt:

Fakten bilden die Grundlage für die Meinungsäußerung. Sind in einem Kommentar Fakten, und sei es auch nur ein einziger, falsch, bietet man eine unnötige Angriffsfläche sowie einen Grund, sich mit der Position nicht auseinandersetzen zu müssen. Leider ist das hier der Fall.

Imre Grimm ist Redakteur beim “RedaktionsNetzwerk Deutschland”. Sein Blick auf den Fall:

Auch in einem Kommentar müssen die Fakten stimmen. In diesem speziellen Fall sieht es so aus, als habe sich die Initiative “Querdenken” tatsächlich nicht erst nach der Demo von rechtsextremem Gedankengut und radikalen Mitmarschierern distanziert. Möglicherweise hat sie dies nicht beherzt und konsequent genug getan. In dieser Absolutheit aber ist die Darstellung von tagesschau.de nicht korrekt. Gerade bei einem so komplexen Thema ist Präzision wichtig, um keine Angriffsfläche zu bieten.

Ich habe mich ab dem 3. September bei tagesschau.de an verschiedene Stellen gewandt: an die Redaktion, die Pressestelle des NDR, den “Faktenfinder” und schließlich den Rundfunkrat. Erstmal passierte nichts (außer dass sich eine renommierte NDR-Journalistin bei mir darüber beschwerte, dass ich ihr eine E-Mail schickte). Nach vier Wochen schließlich bekam ich eine Antwort (PDF) von der tagesschau.de-Chefredakteurin. Leider scheint sie den betreffenden Text nicht gelesen (oder nicht verstanden) zu haben. Sie schreibt: “In dem Kommentar vom 30. August vertritt die Autorin die Meinung, dass die verbale Distanzierung Ballwegs von Rechtsextremisten unglaubwürdig wirkt.” Ähm, nein. Die Autorin negiert die Distanzierung, und das Wort “unglaubwürdig” kommt in dem Kommentar nicht vor. Am Ende der E-Mail dann aber tatsächlich eine Art Eingeständnis: “Dennoch hätte die Autorin in der Rückschau eine so ausschließliche Formulierung nicht noch einmal verwendet.” Der Kommentar steht heute unverändert bei tagesschau.de online.

Zusammengefasst: Bei tagesschau.de wird nachweislich eine falsche Tatsache behauptet, eine Korrektur findet nicht statt, und wenn ein Leser auf den Fehler hinweist, teilt man diesem nach einem Monat mit, dass man die falsche Formulierung “nicht noch einmal verwendet”.

Als Journalist und Gebührenzahler muss ich sagen: Unter Fehlerkultur verstehe ich etwas Anderes.

Nachtrag, 11. Oktober: Die Redaktion von tagesschau.de hat auf diesen Beitrag reagiert. Am Ende des hier kritisierten Kommentars steht inzwischen:

Anmerkung der Redaktion: Wir sind darauf hingewiesen worden, dass Michael Ballweg sich am 28. August in einem Interview von Rechtsextremen distanziert hatte. Dennoch bleibt die Autorin bei ihrer Meinung, dass die Abgrenzung Ballwegs von rechten Demonstranten taktisch motiviert war. Daher haben wir das Wort “glaubwürdig” in einem Satz ergänzt.

Tatsächlich heißt es an der entsprechenden Stelle nun:

Warum wurden die Nazis nicht schon glaubwürdig während oder vor der Demo zu unerwünschten Personen erklärt?

Die nachweislich falsche Behauptung “es gab im Vorfeld und auch während der Demonstration keine öffentliche Distanzierung” befindet sich hingegen unverändert in dem Kommentar.

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