Es ist vielleicht in den letzten Wochen ein wenig untergegangen, aber Deutschland ist seit einiger Zeit wiedervereinigt.
Deswegen ist die folgende Bildunterschrift von Bild.de ein bisschen merkwürdig — auch wenn der abgebildete Spielervor der Wiedervereinigung geboren wurde:
Das ist natürlich eine willkommene Gelegenheit, endlich auch mal diesen etwas überraschenden Screenshot von Stern.de aus dem Oktober zu zeigen:
(Der dazugehörige Artikel ist nicht mehr verfügbar.)
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.
Nachtrag, 21. November: So ergibt es natürlich mehr Sinn:
Halten Sie sich fest: “Bild” hat sich nach einer Presserats-Beschwerde von uns bei seinem Opfer entschuldigt und öffentlich zugegeben, einen Fehler gemacht zu haben. Und wir hatten gedacht, dass “Bild” uns nach fünfeinhalb Jahren BILDblog nicht mehr schocken könnte.
Es geht um den Fall eines Mannes, den “Bild”-Leipzig im Dezember 2008 kurzerhand zum “Kinderschänder” erklärte. “Wie die Thea (14) aus Leipzig einen Sexstrolch fing” stand über dem Artikel. “Die Thea” war groß abgebildet, der “Sexstrolch” nur notdürftig unkenntlich gemacht. “Bild”-Redakteurin Angela Wittig stellte die Vorwürfe des Mädchens als erwiesen und den Verdächtigten als überführt dar.
Als sich im Prozess herausstellte, dass es Grund gibt, an den Aussagen des vermeintlichen Opfers und weiterer Belastungzeugen zu zweifeln, stand nichts davon in “Bild”. Das Amtsgericht Leipzig schätzte “die Thea” in seinem Urteil schließlich als “völlig unglaubwürdig” ein und sprach den Angeklagten von “allen Vorwürfen” des sexuellen Missbrauchs frei. “Bild” berichtete — nicht.
Im Mai 2009 beschwerten wir uns beim Presserat und baten ihn, “Bild” wegen Verstoßes gegen die Ziffer 13 zu rügen. Richtlinie 13.1 verbietet eine “Vorverurteilung” von Angeklagten; Richtlinie 13.2 stellt fest: “Hat die Presse über eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung eines Betroffenen berichtet, soll sie auch über einen rechtskräftig abschließenden Freispruch (…) berichten (…).”
Der Presserat nahm die Sache an und leitete sie, wie üblich, mit der Bitte um eine Stellungnahme an “Bild” weiter. Daraufhin passierte das Unvorstellbare: Die Rechtsabteilung von Springer machte die Redaktion auf das “Problem” des von uns monierten Beitrags aufmerksam. Die habe sich daraufhin umgehend mit dem Betroffenen in Verbindung gesetzt und sich schriftlich für für die Berichterstattung und alle ihm daraus entstandenen Unannehmlichkeiten entschuldigt.
Diese Entschuldigung machte “Bild” auch öffentlich — in Rahmen eines großen Artikels, der am 15. August 2009 in “Bild”-Leipzig erschien und mit Einwilligung und Unterstützung des zu Unrecht Beschuldigten entstanden sein soll:
Der Albtraum meines Lebens
Eine Mädchen-Clique zeigte Frank M[…] (47) als Kinderschänder an. Zwei Jahre lang kämpfte er um seine Ehre. Dann sprach ihn das Gericht endlich frei
Von TH. LIEBENBERG
Leipzig – Am Donnerstag wurde in Eilenburg die vergewaltigte und getötete Corinna (9) zu Grabe getragen. Kommenden Montag beginnt am Leipziger Landgericht der Prozess gegen den Mörder der kleinen Michelle (8); und erst vor einer Woche machte ein Kinderschänder bundesweit Schlagzeilen, der kleine Jungs in seine Wohnung lockte, missbrauchte und widerliche Kinderpornos ins Internet stellte.
Nachrichten, die wütend machen. Frank M[…] (47) kennt diese Wut besser als viele andere. Er hat sie selbst zu spüren bekommen, über zwei Jahre lang. Der 1-Euro-Jobber aus Gohlis wurde von einer Mädchen-Clique denunziert, von der Polizei abgeholt, schließlich vor Gericht gestellt.
“Verdacht des sexuellen Missbrauchs von Kindern”, stand in der Anklage, “Mädchen überführte Fummler”, schrieb BILD. Zu Unrecht.
AM ENDE WURDE ER FREIGESPROCHEN. UNSCHULDIG IN ALLEN ANKLAGEPUNKTEN.
“Bild” schilderte, wie sich das Leben des Mannes durch die falschen Anschuldigungen der Mädchen verändert hatte, und ließ ihn ausführlich zu Wort kommen. Der Artikel endete so:
Im Dezember 2008 begann endlich der Prozess. im Januar 2009 fiel das Urteil. “Am Morgen meines Geburtstags erfuhr ich, dass ich freigesprochen wurde”, sagt Frank M[…].
Er hat seinen Sieg ganz allein gefeiert. Mit einer Flasche Pfefferminzlikör.
Warum die “Bild”-Zeitung nach diesem Freispruch noch über acht Monate brauchte, um ihre falsche und vorverurteilende Darstellung zu korrigieren, erklärte sie ihren Lesern nicht. Und angesichts der großen Zahl von BILDblog-Lesern in der “Bild”-Redaktion und bei Springer ist die Frage unbeantwortet, warum “Bild” — wenn es sich bei der öffentlichen Vernichtung des Mannes nur um ein Versehen handelte — sich nicht spätestens nach unserem Eintrag im Februar daran machte, seinen Ruf wieder herzustellen.
Aber immerhin hat sie es nach der Intervention des Presserates getan, und insofern ist auch dessen Entscheidung nachvollziehbar, unsere Beschwerde zwar für “begründet” zu halten, aber aufgrund der Reaktion von einer Maßnahme gegen “Bild” abzusehen.
Bei einem Festakt im Gewandhaus hat Bundespräsident Horst Köhler vorgestern den Mut der Leipziger Demonstranten im Herbst 1989 gewürdigt. Am 20. Jahrestag der entscheidenden Montagsdemonstration hielt er eine eindringliche Rede. Der Bericht der dpa-Korrespondenten darüber beginnt so:
“Vor der Stadt standen Panzer. Die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.” Eindringlicher als Bundespräsident Horst Köhler kann man die Dramatik der Ereignisse von 1989 nicht schildern.
Eindringlicher vielleicht nicht; richtiger vermutlich schon. Noch am gleichen Nachmittag widersprach der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) der Darstellung Köhlers und löste damit erheblichen Wirbel aus. Wiederum in der Zusammenfassung von dpa:
Nach Recherchen des MDR gab es weder Panzer vor der Stadt noch seien Blutplasma oder Leichensäcke bereitgestellt worden. Der Bundespräsident habe seine Angaben wahrscheinlich aus einem bekannten Buch, das teils falsche Fakten nenne, sagte der Leiter der Feature-Redaktion beim MDR-Hörfunk, Ulf Köhler.
Entweder aus einem bekannten Buch also — oder vielleicht einfach aus den Publikationen des MDR. Auf dessen eigener Homepage heißt es nämlich in der Ankündigung eines Festkonzertes zum 20. Jahrestag der “Friedlichen Revolution”:
Mit Dank an Dániel K.!
Nachtrag/Korrektur, 12. Oktober: Da waren wir voreilig und ungenau. Schützenpanzerwagen sind keine Panzer und Blutkonserven in den Krankenhäusern etwas anderes als Blutplasma in der Stadthalle. Unser Vorwurf gegen den MDR geht also fehl. WIr bitten um Entschuldigung!
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. Interview mit Claus Kleber (zeit.de, Manuel J. Hartung)
ZDF-Moderator Claus Kleber im Gespräch mit “Zeit Campus”: “Ich bin skeptisch gegenüber Hochglanzlebensläufen, gerade im Journalismus. Man sollte lieber ein, zwei Semester draufgeben, um sich das journalistische Handwerk anzueignen, anstatt in Minimalzeit zu studieren.”
2. “Zwei Jahre Haft auf Bewährung für ehemaligen MDR-Sportchef” (focus.de)
Wegen Betrugs und Steuerhinterziehung verurteilt das Landgericht Leipzig den Ex-MDR-Sportchef Wilfried Mohren zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und zu einer Geldstrafe von 9000 Euro: “Mohren hatte vor dem Urteil eine mehrseitige Erklärung verlesen. Darin hieß es, er habe sich oft unrichtig verhalten und wolle sich dafür entschuldigen.”
3. “Schweigen ist Gold” (nzz.ch)
Die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey möchte in der Libyen-Affäre von den Medien ungestört arbeiten. Sie bittet darum: “Geben Sie uns Zeit, damit wir arbeiten können.”
4. Interview mit Harald Schmitt (bildwerk3.de)
Der “Stern”-Fotograf Harald Schmitt zu seinen Veröffentlichungsrechten: “Die liegen bei mir. Der Verlag hat natürlich die Nutzungsrechte. Schließlich wurde mein Gehalt, die Reisekosten, die Filme und die Vergrößerungen vom ‘stern’ bezahlt. Von solchen Verträgen können heute die Kollegen nur noch träumen.”
5. “Google Wave Overview” (youtube.com, Video, 7:52 Minuten)
Heute erhalten über 100’000 Beta-Tester eine Einladung zum Kommunikations- und Kollaborationswerkzeug Google Wave. Zwei Produktmanager zeigen, was man damit machen kann.
6. “Junger, alter Mann” (wissen.spiegel.de, Jochen-Martin Gutsch)
Ein nachgetragenes “Spiegel”-Porträt von Boris Becker, in dem er Zürich mit Navigationsgerät knapp verfehlt. Auch die Journalisten werden erwähnt: “Reporter waren ihm bis auf diesen mallorquinischen Golfplatz hinterhergereist. Sie hatten gewartet. Einen Tag, zwei Tage. Nur für ein paar Sekunden mit ihm. Für ein paar mehr oder weniger belanglose Sätze über Vaterschaft und Schwangerschaft, so wie sie ihm früher hinterhergereist waren, für ein paar Sätze über seinen Rückhand-Slice.”
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Warum die ‘Hamburger Erklärung’ am Thema vorbeigeht” (thereachgroup.de)
Die Unternehmensberatung Reach Group GmbH hat “die Ergebnisse mehrerer Millionen Google-Suchanfragen analysiert” und fand heraus: “Nur gut fünf Prozent der Top-10-Ergebnisse gehören zu den Verlags-Angeboten. Anders formuliert: 95 % aller deutschen Suchabfragen beinhalten auch jetzt schon keine Ergebnisse von Verlagsseiten auf Seite eins. Die wirtschaftliche Bedeutung der Verlagsinhalte für Google scheint also sehr gering.”
2. “Schmiergelder im MDR” (taz.de, Daniel Bouhs)
Vor dem Leipziger Landgericht beginnt heute der Prozess gegen den früheren MDR-Sportchef Wilfried Mohren: “Insgesamt geht es um 350.000 Euro, die Mohren eingesackt haben soll, indem er vor allem Belangloses gegen Geld in die Teile des MDR-Programms hob, für die er als Leiter der Sportredaktion zuständig war – bis er nach Bekanntwerden seiner Aktionen 2005 erst suspendiert und dann entlassen wurde.”
3. “Tom Kummer” (kurtschrage.de)
Kurt Schrage liest “Blow up”, das Buch von Tom Kummer, ein Journalist, der vor rund 10 Jahren fiktive Interviews als echt verkaufte. Und Schrage erzählt aus alten Zeiten beim Magazin “Tempo”: “Ich sollte die Mülltüten von Heino abgreifen und nach Hamburg schicken, damit sie im feinsten Studiolicht eines gerade angesagten Hamburger Fotografen abgelichtet werden können. Negativ. Ich weigerte mich den Auftrag anzunehmen.”
4. “Leitfaden für Streit mit Bloggern” (grenzpfosten.de)
6 Tipps für Unternehmen, die Blogger kontaktieren wollen, die über sie schreiben: Nicht den Anwalt anrufen, eine Nacht drüber schlafen, erstmal mehr über den Blogger rausfinden, nachdenken, dann reden, am Schluss wieder über einen Anwalt nachdenken.
5. “Teure Illustration beim ‘Weserkurier'” (ndr.de, Video, 5:43 Minuten)
Ein Illustrator erstellt für den ‘Weser Kurier’ ein Werk und erhält dafür 30 Euro. Danach soll er für gestellte Schadenersatzforderungen in der Höhe von 10’000 Euro aufkommen. Bei der Vorlage handelte es sich um ein Partyfoto aus dem Internet. Man einigt sich “salomonisch”.
6. “The Story Behind the Story” (theatlantic.com, Mark Bowden, englisch)
Eine Fallstudie unseres post-journalistischen Zeitalters.
In Schweden hat die Piratenpartei auf Anhieb einen Sitz im Europaparlament erobert. Auch in Deutschland stimmten gestern bemerkenswerte 0,9 Prozent für diese junge Partei, die von der “Bild”-Zeitung “Gaga-Verein” genannt wird.
Eigentlich war es also eine gute Idee von der deutschen Nachrichtenagentur dpa, kurz zu erklären, wer diese Piraten sind. Wenn sie es denn getan hätte. Stattdessen veröffentlichte sie gestern Abend um 21.22 Uhr und noch einmal um 22.50 Uhr folgenden Text:
Schwedische Internet-Piraten im EU-Parlament
Bei den Europawahlen in Schweden hat die für kostenlose Downloads aus dem Internet eintretende Piratenpartei aus dem Stand 7,4 Prozent der Stimmen geholt. (…) Hintergrund für die Kandidatur war die Verurteilung von vier Verantwortlichen der Internet-Tauschbörse The Pirate Bay wegen Verletzung des Urheberrechts. Die Börse ermöglicht das kostenlose Herunterladen von Musik, Filmen und Computersoftware aller Art. (…)
Richtig ist, dass die Piratenpartei für eine radikale Änderung des Urheberrechts kämpft. Das auf “kostenlose Downloads aus dem Internet” zu reduzieren, ist schon gewagt. Eindeutig falsch ist aber die Behauptung, dass das Pirate-Bay-Urteil Hintergrund der Kandidatur war. Das ist schon zeitlich unmöglich, weil es erst am 17. April 2009 fiel. Die Piratenpartei wurde am 1. Januar 2006 gegründet und hatte noch im selben Jahr angekündigt, bei der Europawahl antreten zu wollen. Piratenpartei und Pirate Bay entstammen derselben Bewegung, sind aber nicht direkt miteinander verbunden.
Die meisten haben auch gleich Foto und Bildtext von dpa übernommen, in dem es schlicht und falsch heißt:
Nachtrag, 15 Uhr. Um 13:21 Uhr hat dpa die Meldung teilweise korrigiert. In einer Berichtigung heißt es nun: “Hintergrund für den Erfolg der Kandidatur war die Verurteilung von vier Verantwortlichen der Internet-Tauschbörse The Pirate Bay wegen Verletzung des Urheberrechts. ”
Eine halbe Stunde später veröffentlichte die Nachrichtenagentur eine neue, differenziertere Meldung “Schwedische Piratenpartei auf Erfolgswelle”, mit der die meisten der oben genannten Online-Medien die alte Meldung ersetzt haben. “Focus Online” hat stattdessen eine etwas kryptische Korrektur veröffentlicht.
Die Online-Redaktion der “Frankfurter Neuen Presse” reagiert angesäuert auf die Kritik an der falschen Meldung:
Als ob wir diese Meldung wider besseres Wissen veröffentlicht hätten. Wie sollen Kunden von Nachrichtenagenturen, also Zeitungen, jede einzelne Meldung überprüfen? Hunderte, tausende täglich. Die Agenturen sind dazu da, dass sie uns korrekt recherchierte Meldungen und Artikel zukommen lassen. (…)
Die “Bild”-Redakteurin Angela Wittig wird sich demnächst wegen des Vorwurfs der Üblen Nachrede vor Gericht verantworten müssen.
Der Brief in “Bild”:
Der Leipziger Justiz-Sumpf – er wird immer tiefer… BILD wurde jetzt der Brief eines gewissenhaften Juristen (…) zugespielt. Schon 2001 beklagte der Briefschreiber die Existenz einer Immobilien- und Justiz-Mafia sowie die merkwürdige Rechtsprechung [von] Günther Sch. (…) “Nur leider die Großen der Politik und bei den Robenträgern können in Leipzig schalten und walten wie sie wollen. Da wird sich bereichert und die günstigen Immobilien (…) hin und her geschoben.” (“Bild”, 30.6.2007)
Wittig hatte im Sommer 2007 unter der Überschrift “Wie ein gewissenhafter Richter schon 2001 gegen Kollegen protestierte – Abrechnung mit der Justiz-Mafia” in einem “Bild”-Artikel über einen Brief an den früheren Präsidenten des Leipziger Landgerichts berichtet. In dem Brief hatte ein namentlich nicht genannter vermeintlicher “gewissenhafter Jurist” schwere Vorwürfe gegen die Leipziger Justiz und insbesondere den Richter “Günther Sch.” des Landgerichts erhoben. Wittig zitierte damals ausführlich aus dem in holprigem Deutsch verfassten Schreiben (siehe Kasten).
Wegen dieser Berichterstattung erließ das Amtsgericht Leipzig Ende vergangenen Jahres auf Antrag der Staatsanwaltschaft Strafbefehl gegen Angela Wittig, wie uns eine Gerichtssprecherin jetzt auf Anfrage sagt. Wittig habe Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt, weshalb es demnächst zur Hauptverhandlung kommen werde. Ein Termin dafür stehe noch nicht fest, so die Sprecherin.
Mehr über die “Bild”-Redakteurin auch hier und hier.
Da wir uns ja gerade in die Niederungen der “Bild”-Leipzig-Redaktion begeben, ist uns am Wegesrand folgende Geschichte im Leipziger Stadtmagazin “Kreuzer” begegnet. Der “Kreuzer”-Artikel ist zwar schon ein paar Monate alt, die Geschichte selbst offenbar schon ein paar Jahre; kurz aufschreiben wollen wir sie aber trotzdem – zumal uns hier und da schon Ähnliches zugetragen worden ist…
So zeigte der “Kreuzer” in seiner Oktober-Ausgabe einen “Bild”-Artikel vom 4. April 2005 mit der Überschrift “Sie treten den Frühling mit Füßen – Kaum hat die Stadt ihre Beete mit Blumen bestückt, werden sie auch schon plattgetrampelt” (siehe Ausriss).
Dazu hieß es im “Kreuzer”:
Das Foto zeigt allerdings nicht irgendeinen Bürger, sondern den damaligen Praktikanten und späteren “Bild”Rathausreporter (…), der da durch die Rabatten latscht. Der Vermerk “Foto nachgestellt”, der in solchen Fällen verpflichtend ist, fehlt.
“Ließ die Polizei die CDU von Journalisten bespitzeln?” und “Arbeitete ein ‘Bild’-Journalist für LKA oder Geheimdienst?”, fragte vor zwei Wochen die “Frankfurter Rundschau” — und beantwortete die Frage eine Woche später unter der Überschrift:
‘Bild’ Leipzig berichtet — fürs LKA
Hintergrund ist ein dreiseitiger Aktenvermerk, den der sächsische Landtag mit einer Kleinen Anfrage des CDU-Landtagsabgeordneten Volker Schimpff unlängst öffentlich machte.
Der faksimilierte Vermerk, nachzulesen auf der Internetseite des Sächsischen Landtags (Drucksache 4/14207, [pdf]), enthält zunächst die (geschwärzten) Namen damals hochrangiger Amts- und Würdenträger in Leipzig (darunter der Oberstaatsanwalt, der Justizminister, ein Ex-Innenminister sowie ein Ex-Präsident des Fußballvereins VfB Leipzig) und trägt die Überschrift:
Nach Auskunft des sächsischen Innenministers Albrecht Buttolo stammt die “Mitteilung” “aus der polizeilichen Ermittlungsakte des Landeskriminalamtes” und “gibt ausschließlich die Äußerungen einer für die ‘Bild’-Zeitung tätigen Person wieder”. Ihr Inhalt: schwerwiegende Verdächtigungen und Gerüchte, aufgelistet in über 50 Einzelpunkten – übler Klatsch und Tratsch, der tatsächlich genau so klingt, wie man sich vorstellt (oder weiß), dass es klingt, wenn “Bild”-Mitarbeiter geschwätzig werden. Also beispielsweise so:
die soll den kennen
soll ein ehemaliger Schulfreund des sein
die angeblich enga[g]ierte Staatsanwältin Frau (…) sei durch ‘kaltgestellt’ worden
sie bearbeite jetzt, so gegenüber BILD, “Karnickeldiebstähle”
durch BILD wurde auf den Namen angesprochen, worauf kreidebleich geworden sein soll
angeblich gebe es Verstrickungen einiger Personen (auch ) zu Kinderbordellen
es soll ein Video über sexuelle Praktiken des an Kindern existieren
und sollen den kennen, welcher auf der Merseburger Straße in Leipzig einst ein Kinderbordell betrieben haben soll
ein gewisser habe angeblich offiziell Selbstmord begangen, eventuell wurde dabei “nachgeholfen”
BILD habe , welcher im Zusammenhang mit dem Verschwinden des steht, gefragt, wo denn sei. Es wurde entgegnet, dass sie abhauen sollen, sonst gehe es ihnen wie , danach habe gelacht
Nach unseren Informationen handelt es sich bei dem “Bild”-Mitarbeiter (den die “Leipziger Volkszeitung” am Mittwoch noch vorsichtig “einen Journalisten beziehungsweise eine Journalistin aus dem Bereich Boulevard aus Leipzig” nannte) um die “Bild”-Redakteurin Angela Wittig.
Wenn Wittig nicht (wie neulich) einen offensichtlich Unschuldigen als “Kinderschänder” vorverurteilt, schreibt sie Artikel, die “Bild” anschließend so präsentiert:
Übler Scherz am Arbeitsplatz: Druckluftpistole am Po – Darm geplatzt!
Mutter zeigt Staatsanwalt an: Weil er den Vergewaltiger ihrer Tochter laufen ließ
Beim Frauenarzt wurde ich weggeschickt – Jetzt ist mein Baby tot
Straßenbahn-Prügler flennt vor Gericht: Plötzlich ist er ein kleiner Hosenscheißer
Sie haben ihr Kind ins Koma geprügelt… jetzt knutschen sie vor Gericht!
Todesspritze für die Killerhunde… es sei denn, Seppel, Mausi und Sternchen bestehen den Verhaltenstest
Skandal um angebliche Sex-Orgien im Leipziger Rathaus: BILD zeigt das geheime Bett im Büro des OB
“Focus” vs. Wittig
Im Juni 2008 setzte Angela Wittig eine Gegendarstellung zu einem am 2.2.2008 unter der Überschrift “Schlamassel im Puff” veröffentlichten “Focus”-Bericht durch (mehr dazu hier) und widersprach darin mehreren “Focus”-Behauptungen über sie. Der “Focus” ergänzte den Abdruck der Gegendarstellung um die Anmerkung:
“Alle Ermittlungen zu einer angeblichen Justizverschwörung, über die Frau Wittig in ‘Bild’ berichtete, sind von der Staatsanwaltschaft Dresden als ‘substanzlos’ eingestellt worden. Sie seien, so die Staatsanwaltschaft Dresden, Produkt ‘einer Verschwörungstheorie’ gewesen.”
Angela Wittigs Name tauchte zudem im vergangen Jahr im Zusammenhang mit dem vermeintlichen “Sachsensumpf” auf (grundsätzliches dazu hier, hier, hier, hier oder hier bzw. hier). Laut “Focus” waren die vermeintlichen “Verstrickungen [sächsischer Justizbeamter] zu Kinderbordellen”, die bereits in der “Mitteilung durch BILD Leipzig” aus der Polizeiakte kolportiert wurden, von Wittig auch via “Bild”-Zeitung “kräftig befeuert” worden (was Wittig offenbar eine Strafanzeige wegen Verleumdung und dem “Focus” eine Gegendarstellung Wittigs einbrachte, siehe Kasten).
Und so schreibt nun auch die “Frankfurter Rundschau”, die Beschuldigungen aus 1998 seien dem “Berg aus Gerüchten” auffällig ähnlich, der “im Frühjahr 2007 als gewaltige Sumpf-Affäre über Sachsen schwappte”, sich aber “ein Jahr später und nach gründlichen Untersuchungen unabhängiger Ermittler und der Bundesanwaltschaft als gigantischer Humbug herausstellte”. Auch für die “Leipziger Volkszeitung” liest sich die “Mitteilung durch BILD Leipzig” “wie eine frühe Version dessen, was in der Aktenaffäre 2007 unter dem Codenamen Abseits III für Aufsehen sorgte”.
Ob “Bild”-Frau Wittig das journalistische Sakrileg beging, der Polizei als Informant ihre schmutzigen und zum Teil haltlosen Gerüchte anzuvertrauen (womöglich in der Hoffnung, im Gegenzug ebenfalls bevorzugt informiert zu werden) oder ob Wittigs Äußerungen ihren Weg anderweitig in die LKA-“Mitteilung” fanden, ist noch ungeklärt – außer für “Bild”. Die “Morgenpost Sachsen” zitiert “Bild”-Sprecher Tobias Fröhlich mit der Aussage:
“Kein Mitarbeiter von BILD Leipzig hat unseres Wissens nach als Informant für das LKA gearbeitet.”
Wir haben die Wörter “unseres Wissens” mal gefettet, wundern uns aber nicht, dass Wittig nach wie vor für “Bild”-Leipzig arbeitet.
Bei der “Bild”-Zeitung ist die Meinung weit verbreitet, dass Angeklagte eigentlich irgendwie auch immer schuldig sind. Entsprechend hat “Bild” kein Problem damit, Angeklagte vor einer Verurteilung vorzuverurteilen. Wie schlecht diese Idee ist, zeigt der Fall “Frank M.”:
Anfang Dezember 2008 stand in der “Bild”-Zeitung eine Geschichte, die wie gemacht war für den Boulevard. Es ging darum, “wie die Thea (14) aus Leipzig einen Sexstrolch fing”. “Bild” berichtete groß und ziemlich eindeutig:
Thea ist erst 14 aber unterschätzen sollte man sie nicht. (…) Mit einem Trick und einer großen Portion Mut überführte sie einen Kinder-Schänder! (…) Der Vorwurf laut Staatsanwalt Michael Höhle: zwischen 2001 und 2007 soll er vier Mädchen (11-12) an ihren intimsten Stellen befummelt haben, darunter seine eigene Tochter.
“Bild” ließ kaum Zweifel daran, dass der vermeintliche “Kinder-Schänder” Frank M. schuldig sei. Zwar ließ sie ihn und dessen Anwalt die Vorwürfe kurz abstreiten (“Alle Vorwürfe sind falsch”, “Was meinem Mandanten vorgeworfen wird, stimmt nicht”), schrieb aber direkt im Anschluss:
Doch die Beweislage lastet schwer. Denn es gibt eine Tonaufzeichnung von einer der Taten des Kinderschänders. Die mutige Thea hat Frank M. damit zur Strecke gebracht!
Detailliert schildert “Bild”, wie “Thea” und ihr Bruder mit einem “Handy-Trick” Frank M. “zur Strecke” brachten:
“Am 13. Januar 2007 lockte er mich zu sich (…)”, erzählt das Mädchen. (…) [Ihr Bruder] sollte sie anrufen, nachdem sie bei Frank M. eingetroffen war. Damit er alles mithören und aufzeichnen konnte. In der Wohnung zog sich Frank M. aus, befummelte die Schülerin. (…) Am anderen Ende der Leitung hörte Theas Bruder alles mit, zeichnete das Gespräch auf. (…) “Dann sind wir mit den Handyaufzeichungen zur Polizei, haben ihn angezeigt”, sagt das tapfere Mädchen.
Anfang Januar sprach das Amtsgericht Leipzig Frank M. von “allen Vorwürfen” des sexuellen Missbrauchs frei.
Das überrascht angesichts der geradezu erdrückenden “Beweislage”, die “Bild” nach dem ersten Verhandlungstag schilderte. Allerdings hatte die mit dem Verlauf der Verhandlung ohnehin nur sehr wenig zu tun.
Was womöglich kein Wunder ist. “Bild”-Autorin Angela Wittig war offenbar einen erheblichen Teil der Verhandlung gar nicht im Saal. So schildert es uns jedenfalls der von “Bild” als “Fummler”, “Sexstrolch” und “Kinder-Schänder” verunglimpfte Frank M.: Der erste Verhandlungstermin habe ein paar Stunden gedauert, die “Bild”-Mitarbeiter seien jedoch nach etwa einer Dreiviertelstunde aus dem Saal gegangen und hätten “Thea” draußen “bearbeitet” und offenbar auch fotografiert (siehe Ausriss oben). Am zweiten Verhandlungstermin im Januar, an dem auch der Freispruch verkündet wurde, sei indes niemand mehr von “Bild” da gewesen.
Und anders als das Gericht, das bereits nach dem ersten Verhandlungstermin den seit 2007 bestehenden Haftbefehl gegen Frank M. aufhob, glaubte “Bild” der “mutigen Thea” offenbar jedes Wort und schrieb das am nächsten Tag ohne jede Distanz auf.
Wäre die “Bild”-Zeitung etwas länger geblieben und hätte der Verhandlung mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte sie eigentlich mitbekommen müssen, was uns der Anwalt von Frank M., Stephan Bonell, erzählt:
dass auf dem vermeintlichen Handy-Mitschnitt des sexuellen Missbrauchs außer Rauschen nichts zu hören gewesen sei;
dass die Polizei das bereits am Tag, als “Thea” Frank M. angezeigt hatte, festgestellt hatte;
dass die Widersprüche in den Aussagen der Mädchen, die Frank M. sexuell missbraucht haben sollte, so groß gewesen seien, dass das Gericht sie als “unglaubwürdig” eingeschätzt habe.
Laut Frank M. handelt es sich bei den Anschuldigungen um eine pubertäre Racheaktion an ihm und seiner Tochter.
Unabhängig davon zeigt die Urteilsbegründung vom Januar, was das Gericht von den Aussagen der “Opfer” hielt. Zu den Anklagepunkten 4., 5. und 6. (insgesamt waren es sechs), die auf der Aussage von “Thea” beruhten und in denen es jeweils darum ging, wie Frank M. sie und andere Mädchen sexuell missbraucht haben sollte, heißt es unter anderem:
Diese Zeugin ist als völlig unglaubwürdig einzuschätzen, nachdem sie (…) dargelegt hat, dass sie das Tatgeschehen zu 4. frei erfunden habe und sich an das Tatgeschehen zu 5. überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Ihre Aussagen (…) besonders auf Punkt 6. bezogen, sind darüberhinaus derart widersprüchlich, dass ihnen nicht gefolgt werden kann. Insbesondere durch die Aussagen ihres Bruders (…), der ohne Umschweife in der Hauptverhandlung kundtat, den Angeklagten in den Knast bringen zu wollen, wurde deutlich, dass dem Angeklagten auch das Tatgeschehen vom 13.01.2007 nicht angelastet werden kann.
Pressekodex:
Richtlinie 13.2 – Folgeberichterstattung
Hat die Presse über eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung eines Betroffenen berichtet, soll sie auch über einen rechtskräftig abschließenden Freispruch (…) berichten, sofern berechtigte Interessen des Betroffenen dem nicht entgegenstehen.
Zu den zwei weiteren Zeuginnen (die Tochter von Frank M. hatte die Aussage verweigert), merkt das Gericht an, ihre Aussagen seien “bemerkenswert widersprüchlich” zu vorherigen gewesen.
All das hätte die “Bild”-Zeitung spätestens am 6. Januar bei der Verkündung des Freispruchs zumindest in groben Zügen erfahren können – hätte sie sich die Mühe gemacht, über den Ausgang des Verfahrens zu berichten, wie es ihre Pflicht gewesen wäre (siehe Kasten). Hat sie aber nicht.
Für die “Bild”-Zeitung und ihre Leser ist Frank M. immer noch der “Fummler”, der “Sexstrolch” und der “Kinder-Schänder”.