Es gab mal eine Zeit, da bedeutete der Begriff “Onlinejournalismus”, dass man im Internet über das schrieb, was sonst in der Zeitung stand.
Heute bedeutet “Onlinejournalismus” vor allem, dass man im Internet über das schreibt oder redet, was anderswo im Internet zu sehen ist.
Zum Beispiel so:
Auf sozialen Netzwerken wie Instagram und Co. geht es häufig sehr freizügig zu. Wer einen schönen Körper hat, möchte schließlich zeigen, was er hat.
Auch die 15-jährige Tochter des Millionär-Ehepaars Geiss hat jetzt ein Bikini-Foto gepostet. Aber ist Davina Geiss dafür nicht noch zu jung? Wie viel Freizügigkeit ist okay bei Jugendlichen in den sozialen Netzwerken?
Bild.de hat deshalb bei Julia von Weiler vom Verein “Innocence in Danger e.V.” (frühere Präsidentin: “Bild”–Liebling Stephanie zu Guttenberg) nachgefragt:
Wobei: Das stimmt so nicht. Ursprünglich sah die Überschrift so aus:
Das war grob irreführend, weil Davina Geiss auf dem Foto (natürlich) nicht “nackt” ist, hätte aber im Zweifelsfall Leute auf Bild.de gebracht, die im Internet nach “Kinder nackt” gesucht hätten.
Also solche Leute, von denen Julia von Weber vom Verein “Innocence in Danger e.V.” direkt in ihrer ersten Antwort spricht:
“Die traurige Realität ist, dass privat gepostete Bikini- und Posenbilder von Kindern und Jugendlichen — auch solche, die stolze Eltern posten — zwischen Missbrauchsdarstellungen und Sextingbildern in pädokriminellen Sammlungen landen. Dort dienen sie der sexuellen Erregung.”
Solche Bilder landen allerdings auch noch ganz woanders: Zum Beispiel bei Bild.de, wo der Artikel, in dem die Expertin eindringlich aus verschiedenen Gründen davor warnt, “freizügige” Fotos von Kindern und Jugendlichen ins Internet zu stellen, mit einem Foto bebildert ist, auf dem die 15-jährige Davina Geiss neben ihrer Mutter im Bikini in einem Whirlpool zu sehen ist.
Auch in einem über zweiminütigen Video aus der “Bild Boxx” (ein Videoformat, das sich offenbar an junge Leute richten soll, und deshalb so aussieht wie Musikfernsehen in der Zeit, als die Eltern der jungen Leute jung waren) wird das Foto thematisiert (allerdings nicht warnend, wie im Interview mit der Frau von “Innocence in Danger”, sondern eher herablassend) und mehrfach gezeigt.
Mit Dank an @ballschwabing, @Kathy_Kolumna und @herrmausbp!
Mal Hand aufs Herz: Hätte man sich jemals vorstellen können, dass man sich Kai Diekmann als BILD-Chefredakteur zurückwünscht? Der Kai Diekmann, der meinte, er könnte einen Politiker wie Karl-Theodor zu Guttenberg zum Kanzler hochschreiben, und der selbst zahllose BILD-Kampagnen gegen Minderheiten fuhr. Doch bei Diekmann hatte man noch das Gefühl, der macht dies als professioneller und abgewichster Boulevard-Journalist. Der schreibt heute “Hü” und morgen “Hott”, weil er wusste, dass sich schweigende Mehrheiten durchaus mal ändern, und das gesunde Volksempfinden eine launische Diva sein kann. Ihm war das Produkt im Zweifel näher als seine persönliche Meinung.
Dies hat sich unter Julian Reichelt komplett geändert. Der jetzige BILD-Chef ist erst ein Überzeugungstäter und dann ein Boulevard-Journalist. Wahrscheinlich ist Julian Reichelt der gefährlichste Medienmacher, den die wiedervereinigte Bundesrepublik je erleben durfte. Denn er macht aus BILD ein Weltuntergangs-Angebot im Stile der neurechten Medien wie “Breitbart”, “Tichys Einblick” oder “Compact”. Nur eben mit der Reichweite und dem Einfluss von BILD. In den neurechten Medien wird spätestens seit der “Flüchtlingswelle” 2015 der Untergang unseres schönen Deutschlands beschworen — mehr noch: fast herbeigesehnt. Da ging es früher um “Massenvergewaltigungen” (natürlich vornehmlich durch Ausländer) und heute um “massenhafte Messerangriffe” (natürlich auch vornehmlich durch Ausländer). Unter einer Epidemie machen es die Untergangspropheten nämlich nicht mehr. Sonst wäre es ja kein gesellschaftliches Problem.
Was früher ausschließlich in den Echokammern der Neurechten für Aufregung sorgte, findet heute Gehör bei einem der mächtigsten Medienmenschen des Landes. Dessen Filterblase ist so durchlässig, dass dort bekannte Hetz-Accounts als Teil einer ernsthaften Investigativ-Recherche wahrgenommen werden. Mehr noch: Julian Reichelt retweetet oder zitiert diese Accounts, die unter anderem die “Tagesschau” als “staatliche Lügenfabrik” bezeichnen. Sind das wirklich nur Mausrutscher oder hat das nicht vielmehr System? BILD reiht sich nun ein und beschwört das Bild eines Deutschlands herauf, welches islamisiert wird, überall Messerangriffe von Flüchtlingen, an jeder Ecke importierter arabischer Antisemitismus. Im Grunde unterscheidet BILD bei dieser Endzeit-Berichterstattung nichts mehr von “Breitbart” und Co. Die Redaktion macht nun ein Blatt für die 13 Prozent der Gesellschaft, die AfD gewählt haben.
Eine der verbleibenden positiven Aspekte bei BILD ist das klare Bekenntnis gegen Antisemitismus in jeder Form. Nun jedoch wird der Kampf genau dagegen missbraucht, um den Religionshass gegen Muslime zu schüren. Da wird der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Natürlich ist der Kampf gegen Antisemitismus zu begrüßen. Aber selbst da darf nicht jedes Mittel recht sein. Vor allem, wenn man dafür eine andere Religion als per se rückständig, frauenfeindlich, antidemokratisch, gefährlich hinstellt (übrigens auch befeuert von der Seehofer-CSU). Diese Entwicklung ist mehr als bedenklich — insbesondere, weil Julian Reichelt immer vollkommen überrascht ist, wenn man ihm oder seiner Zeitung Nähe zur AfD unterstellt. Tja, manchmal sieht man den Blätterwald vor lauter braunen Bäumen nicht mehr. Das kann selbst einem Julian Reichelt passieren.
Schon gehört? Kroatien ist nicht mehr Mitglied in der Europäischen Union. Außerdem liegt Bulgarien jetzt in Südamerika. Und den Sieg der deutschen Nationalmannschaft 2014 bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien? Den hat es nie gegeben. Steht so alles bei Bild.de.
Denn “Bild”-Mitarbeiter haben nicht nur ein Talent für die große Desinformation, sie sind auch besonders gut darin, Details zielgenau durcheinanderzubringen. Hier eine kleine Auswahl aus den vergangenen Tagen.
***
Was war das für eine Klatsche für das Team von Bundestrainer Joachim Löw! 1:7 verloren gegen Brasilien im Halbfinale der WM 2014. An dieses Debakel erinnert sich bestimmt jeder. Jedenfalls jeder bei Bild.de:
Als Brasilien im Halbfinale der WM 2014 mit sieben zu eins gegen Deutschland gewonnen hat (#Brager), war #Blitzkrieg kurzzeitig der am häufigsten gebrauchten Hashtag auf Twitter.
Es waren allerdings nicht die Brasilianer, liebe Bild.de-Historiker, die 1939 Polen angegriffen und damit das Wort “Blitzkrieg” geprägt haben, sondern die Deutschen. Und die deutsche Fußballnationalmannschaft hat das WM-Halbfinale 2014 7:1 gegen Brasilien gewonnen. Und schon erklärt sich das makabere Hashtag #Blitzkrieg.
***
Vor dem TV-Duell am vergangenen Sonntag zwischen Angela Merkel und Martin Schulz hatte Bild.de schon mal das “Netz-Duell” zwischen der Bundeskanzlerin und dem Herausforderer durchgespielt:
Was die Grafik in der Kategorie “Twitter-Follower” vergleicht, ist allerdings ziemlicher Quatsch. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat in der Tat einen eigenen Twitter-Account, im Gegensatz zu Angela Merkel. Die Rolle von Regierungssprecher Steffen Seibert, der den Account @RegSprecher füllt, heißt Regierungssprecher, weil Seibert Regierungssprecher ist und nicht Angela-Merkel-Sprecher und auch nicht CDU-Sprecher. Er twittert zwar häufig über die Arbeit der Bundeskanzlerin, aber auch über die Arbeit der restlichen Bundesregierung. Und die besteht unter anderem aus SPD-Mitgliedern. Es existiert kein Twitter-Account, den man allein Merkel zuordnen kann.
***
Bei Bild.de schaffen sie es, mit einem Halbsatz ein ganzes Land aus der EU zu kegeln. In einem Artikel über den Fußballer Ante Rebic, der trotz einiger Interessenten nicht nach England wechselte, schreibt die Redaktion:
Doch weil der Kroate kein aktueller Nationalspieler ist, bekommt er als Nicht-EU-Bürger in England keine Spielgenehmigung.
Den Kroxit — so würden die “Bild”-Medien ihn wohl nennen — gab es aber nie. Ante Rebic ist als Kroate sehr wohl ein Bürger der Europäischen Union.
***
Bulgarien haben die Bild.de-Geographen nicht nur aus der EU geschmissen, sondern direkt nach Südamerika verlegt. Dort sollten die Fußballer des Landes gegen Kolumbien um die Teilnahme bei der kommenden WM spielen:
Tatsächlich spielt die Nationalmannschaft Kolumbiens heute gegen Brasilien. Immerhin auch mit “B”.
***
Doch bei Bild.de kennen sie sich nicht nur nicht in Südamerika aus, sondern auch nicht in Süddeutschland. Gestern hielten mehrere Politiker Bierzeltreden im niederbayerischen Abensberg. Dort fand der Gillamoos statt, ein recht bekanntes Volksfest. Bild.de berichtete über die Politiker-Auftritte:
In Gillamoos witzelte er darüber
So machte Christian Lindner in Gillamoos Wahlkampf
Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, in Gillamoos
Bei den politischen Bierzeltreden in Gillamoos
und wurde in Gillamoos gefeiert
“Bild”-Redakteur Ralf Schuler war sogar extra vor Ort:
R.SCHULER (ZZ. IN GILLAMOOS)
Gillamoos ist aber kein geographischer Ort. Man kann nicht “in Gillamoos” sein, nur beim Gillamoos oder auf dem Gillamoos.
***
Am vergangenen Mittwoch meldete Bild.de:
Die Sängerin des Songs “Back to Life”, Caron Wheeler, ist aber gar nicht gestorben. Sondern die Sängerin des Songs “Wish”, der vier Jahre später von derselben Band aufgenommen wurde. Und die hieß Melissa Bell. Andere Redaktionen habenBellebenfalls fälschlicherweise mit dem Song “Back to Life” in Verbindung gebracht.
***
Mit Orten haben Bild.de-Mitarbeiter also Schwierigkeiten, genauso mit Namen. Fehlen noch die Zahlen.
Nach den astronomischen Ablösesummen, die der französischen Fußballklub Paris Saint-Germain vor Kurzem zahlte, hat Bild.de mal zusammengerechnet, wie viel die Pariser für ihre Startelf ausgegeben haben:
Nur sind 375 Millionen Euro nicht die Hälfte von 588 Millionen Euro. Und man kommt auch nicht, rechnet man 375 Millionen Euro und 113 Millionen Euro zusammen, auf 588 Millionen Euro, sondern auf 488 Millionen Euro.
Zumindest Fehler 1 hat auch das Bild.de-Team bemerkt und die Stelle geändert:
Die Differenz zwischen der “Pariser Startformation” und der des FC Bayern München beträgt allerdings nicht 113 Millionen Euro, sondern 348,75 Millionen Euro. Dass Bild.de gleich zwei Fehler auf einmal korrigiert, ist dann wohl doch etwas zu viel verlangt.
1a. BILDblog braucht Deine Hilfe — unterstütze uns bei Steady (bildblog.de)
Hier beim BILDblog sieht es finanziell nicht gut inzwischen etwas besser aus. Dank Eurer Unterstützung sind 2000 Euro pro Monat zusammengekommen. Das ist großartig, aber immer noch knapp kalkuliert — wir können uns dadurch gerade so den Mindestlohn zahlen. Um BILDblog eine solidere Basis zu geben, machen wir bei Steady weiter. Du kannst also auch jetzt noch ganz einfach helfen und uns bei Steady monatlich oder jährlich per Lastschrift, Paypal oder Kreditkarte unterstützen.
1b. Innenministerium verbietet linksextreme Plattform (spiegel.de, Jörg Diehl)
Das Bundesinnenministerium hat nach Informationen des “Spiegel” die Internetseite “linksunten.indymedia.org” verboten. Die Seite laufe “nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider” und richte sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung. Obwohl die Sicherheitsbehörden das Forum bereits seit einigen Jahren beobachten würden, käme das Verbot überraschend.
2. Deshalb haben wir Anzeige erstattet (nwzonline.de, Lars Reckermann)
Die „Nordwest Zeitung“ hat einen Facebook-Kommentar gelöscht, in dem einem schwarzen Kleinkind mit beleidigenden Worten der Tod gewünscht wurde. Doch mit der Löschung hat es die Zeitung nicht belassen und den Hasskommentierer wegen Volksverhetzung angezeigt. Chefredakteur Lars Reckermann erklärt, warum seine Zeitung den mittlerweile verurteilten Mann (sechs Monate auf Bewährung und 60 Stunden gemeinnützige Arbeit) vor Gericht gebracht hat.
3. Was kann Facebooks neue Waffe gegen Fake News? Ein Blick hinter die Kulissen (motherboard.vice.com, Max Hoppenstedt)
Facebook hat ein neues Tool entwickelt, mit dem man Falschnachrichten bekämpfen will. Unter dem Link zu einer Falschmeldung will man einen Verweis auf einen “Related Article” mit einer Art Richtigstellung einblenden. Erstellt und eingebaut von vier Mitarbeitern des journalistischen Portals „Correctiv“. Max Hoppenstedt blickt hinter die Kulissen und stellt das verwendete Tool und die Vorgehensweise vor. Zurück bleibt die Irritation, warum eines der größten Internetunternehmen der Welt mit einem Börsenwert von mehreren hundert Milliarden US-Dollar eine derartige Dienstleistung an ein Unternehmen mit der vergleichsweise winzigen Manpower von vier Projektmitarbeitern auslagert. Noch dazu unbezahlt. Und warum sich die beauftragte Firma auf einen solchen Deal einlässt.
4. Internetprovider erringt Teilsieg im Streit um US-Nutzerdaten” (zeit.de)
Das US-Justizministerium verlangte den Zugriff auf Daten von 1,3 Millionen Besucher einer Anti-Trump-Website. Der Grund: Auf der Seite „disruptj20.org“ wurden auch Proteste gegen US-Präsident Donald Trump organisiert. Über eine Durchsuchung der Nutzerdaten wollte das Justizministerium zu Hinweisen über die Organisatoren kommen. Nun hat der Obergerichtshof entschieden: Das Ministerium darf die Daten einsehen, aber mit erheblichen Einschränkungen.
5. Youtube tilgt Dokumentation von Kriegsverbrechen (sueddeutsche.de, Hakan Tanriverdi)
Youtube setzt auf künstliche Intelligenz, um die Propagandavideos von Terrororganisationen automatisch zu erkennen und zu entfernen. Die Algorithmen sollen den menschlichen Kontrolleuren die belastende Arbeit abnehmen, die verstörenden Aufnahmen zu sichten und zu löschen. Doch das System hat seine Tücken: Tausende Videos, die Kriegsverbrechen aus dem Syrienkonflikt dokumentieren, fielen der Löschpraxis zum Opfer. Damit wird die Arbeit von Aktivisten und Journalisten behindert. So wurde das investigative Recherche-Netzwerk „Bellingcat“ auf YouTube kurzerhand abgeschaltet. “Bellingcat”-Gründer Eliot Higgins: “Teilweise werden drei Videos aus Tausenden als problematisch erkannt und der gesamte Kanal wird gelöscht”
6. Die “Bunte” schreibt über Guttenbergs angebliche Millionengeschäfte – der klagt (sueddeutsche.de, Stephan Handel)
Der Ex-Minister Karl-Theodor zu Guttenberg klagt wegen der “Bunte”-Schlagzeile: “Guttenberg: Millionengeschäfte im Steuerparadies”. Er mache keine Millionengeschäfte und schon gar keine in einem Steuerparadies. Doch der Antrag Guttenbergs auf eine Gegendarstellung wird wohl zurückgewiesen werden. Die Schlagzeile mit den Millionengeschäften sei nach Angaben des Richters so “unbestimmt”, dass sie alles Mögliche bedeuten könne. Außerdem fehle der Kammer das „Tu-Wort“.
Bei all der Parteilichkeit und Einmischung der “Bild”-Zeitung bleibt das, was vor Wahlen in Großbritannien passiert, etwas Besonderes und besonders Eindrucksvolles: Die dortigen Boulevardblätter berichten nicht — sie machen Wahlkampf auf ihren Titelseiten, sie hetzen und manipulieren.
Die Briten stimmen heute über ein neues Parlament ab. Ein kurzer Blick auf die aktuellen Cover von “Daily Mirror”, “Daily Express”, “Daily Mail” und “The Sun” reicht, um zu sehen, wie einseitig die Schlagzeilen und Artikel sind, wie deutlich sich die jeweiligen Redaktionen auf die Seite der Labour Party beziehungsweise der Tories schlagen.
Der “Daily Mirror” ist für Labour, die Anweisung an die Leserschaft eindeutig: “VOTE Labour”. Das Blatt macht Theresa May zum “FACE OF FEAR”, das man heute an der Wahlurne loswerden könne: “Today’s your chance to get rid of Mrs May”.
(Draufklicken für eine größere Version.)
Der “Daily Express” druckt eine ähnlich klare Anweisung, allerdings im Sinne der Tories und Premierministerin May:
(Draufklicken für eine größere Version.)
Die “Daily Mail” positioniert sich ebenfalls explizit für die Tories. Mit dem richtigen “tactical voting guide” könnten die Leserinnen und Leser den britischen Geist neu entfachen:
(Draufklicken für eine größere Version.)
Die mit Abstand übelste Titelseite hat “The Sun” veröffentlicht. Das Blatt hat Labour-Parteichef Jeremy Corbyn — hehe, lustiges Wortspiel mit dessen Nachnamen — in einen Mülleimer gepackt, ihn zum “Terroristen-Freund” erklärt und geschrieben, dass nur ein “vote for Theresa May’s Conservatives — not Ukip, or any other –” helfen werde, um den “MARXIST EXTREMIST” Corbyn zu verhindern:
Anfangs war es noch die Faszination für den Menschen Martin Schulz, die “Bild”-Briefchef Franz Josef Wagner inspirierte. Dieser Lebensweg! Am 26. Januar, also zwei Tage nachdem bekannt wurde, dass nicht Sigmar Gabriel, sondern Martin Schulz die SPD im Bundestagswahlkampf führen wird, schrieb Wagner:
Lieber Martin Schulz,
Sie sind ein Kanzlerkandidat wie aus einem Roman. Ich hätte gerne die Filmrechte. Da ist ein Junge, der nur Fußball im Kopf hat. Er ist mit der B-Jugend Vizemeister geworden. Fußballprofi wollte der Junge werden. Eine schwere Verletzung beendete seinen Traum.
Im Gesicht des Kanzlerkandidaten Schulz sieht man nicht die Narben – aber wie verheilt sind die Wunden in seiner Seele? Er ist Schulabbrecher, er ist ein Junge ohne Zukunft. Er beginnt zu trinken, sich die Welt schönzutrinken. Gerichtsvollzieher stehen vor seiner Tür. Er denkt an Selbstmord. Er ist ein Gespenst aus Alkohol und Trübsinn.
Wie man aus all dieser Scheiße rauskommt, davon handelt der Roman. Wie man die Kurve kriegt. Wie man wieder ein Bürger wird. Das ist der Roman des Martin Schulz.
Herzlichst,
F. J. Wagner
Aus dieser Faszination für seinen Romanhelden wurde schnell mehr. Wagner verliebte sich “quasi”. Den Brief, den er am 6. Februar in “Bild” veröffentlichte, adressierte er nicht an Martin Schulz, sondern an “Umfrage-König Schulz”:
Lieber Umfrage-König Schulz,
es scheint, als wären alle blindverbliebt in Sie. Blindverliebt ist die schönste Liebe. Es ist das Verliebtsein.
Da ist jemand, der seine Fehler nicht vertuscht. Schulabbrecher, Alkoholiker. Da ist jemand, der nicht mit Schummel-Doktor-Titeln Karriere macht.
Wir sind verliebt in einen Guttenberg von unten.
Ich mag Schulz, wie er redet. Er entzückt, bezaubert SPD-Wähler.
Ich bin quasi verliebt in ihn. Er verspricht mir so viel, aber ich weiß nicht, was.
Verliebte weinen viele Tränen.
Herzlichst,
F. J. Wagner
Einige Tränen und neun Tage später ist die Romanze allerdings schon wieder zu Ende. Franz Josef Wagner ist nicht mehr “blindverliebt”, plötzlich kann er wieder sehen. Und was er da sieht, lässt ihn erschrecken: einen Bart! Ja, doch, Martin Schulz trägt einen Bart. Wobei, nein, eigentlich ist das nicht mal ein Bart, das ist ein “Spinnennetz”, “ein ausgefranster Teppich”. Wagner schreibt heute:
Lieber Martin Schulz,
der Wert eines Menschen hängt nicht von Äußerlichkeiten ab. Aber bitte, rasieren Sie sich! Ein Kanzlerkandidat sollte nicht so ein Spinnennetz vor seinem Gesicht haben.
Sie wollen das Gesicht Deutschlands werden, mit diesem ausgefransten Teppich im Gesicht.
Warum rasieren Sie sich nicht?
Weil Sie keine Zeit haben? Weil alles wichtiger ist als rasieren? Oder weil Sie mit Ihren 61 Jahren noch immer ein Revoluzzer sein wollen?
Ihr Bart irritiert mich. Ich weiß nicht, was er bedeuten soll.
Eine anständige Rasur dauert zehn Minuten. Man seift sein Gesicht ein, bis die Barthaare weich werden.
Und dann schneidet man von unten nach oben.
Und dann hat man ein glattes Gesicht.
Das glatte Gesicht von Martin Schulz will ich sehen.
Herzlichst,
F. J. Wagner
Dass Franz Josef Wagner mal findet, dass die Fußballer des FC Bayern München in der Kabine auf Deutsch über Goethe und Schiller sprechen sollten, und später schreibt, dass nun wirklich nicht wichtig sei, dass die Fußballer des FC Bayern München in der Kabine auf Deutsch über Goethe und Schiller sprechen, ist typisch für den “Bild”-Kolumnisten. Genauso, dass er das “Dschungelcamp” mal für genau das Richtige und mal für genau das Falsche in Zeiten des Terrors hält.
Meist liegen einige Jahre zwischen widersprüchlichen Wagner-Briefen. Dass er sich dieses Mal innerhalb weniger Wochen erst in einen Menschen verliebt, und seine Gefühle dann mangels Rasur erkalten — das ist selbst für Franz Josef Wagner ein besonderes Dramolett.
1. OLG Köln: Schlechte Karten für Adblock Plus (heise.de, Torsten Kleinz)
Durch Adblocker gehen den Medienhäusern riesige Werbeeinnahmen verloren. Kein Wunder, dass man sich da wehrt, auch mit juristischen Mitteln. Nachdem Werbeblocker “Adblock Plus” bislang fünf Prozesse für sich entscheiden konnte, zeichnet sich im Berufungsverfahren vor dem OLG Köln eine Niederlage ab. Ein Verbot des Werbeblockers steht im Raum. Und Schadensersatz. Doch Köln wird aller Voraussicht nach nur eine Zwischenstation sein. Zur endgültigen Klärung wird man sich wohl vor dem Bundesgerichtshof wiedersehen.
2. Journalismus aus der Vogelperspektive (medienwoche.ch, Adrian Lobe)
Das Geschäft mit Drohnen boomt wie nie zuvor und auch im Journalismus werden immer öfter kamerabewehrte Drohnen als fliegende Beobachter eingesetzt, ob bei Sportveranstaltungen oder zur Recherche und Verifizierung. Doch der Einsatz ist im journalistischen Umfeld nicht frei von Problemen. Es geht im Wesentlichen um Sicherheitsaspekte und Persönlichkeitsrechte. Lobe erzählt, wie es die Kollegen des BBC machen und kommt angesichts der Gesamtproblematik zum Schluss: “Es ist ein schmaler Grat.”
3. Böhmermann – Satire geht weiter (diekolumnisten.de, Heinrich Schmitz)
Heinrich Schmitz ist nicht nur Kolumnist, sondern auch Strafverteidiger. In einer Mischung aus beiden Funktionen arbeitet er die umstrittene Entscheidung des Landgerichts Hamburg in der Causa Böhmermann auf. “Die Frage sei erlaubt, ob die Pressestelle des OLG Hamburg auf ihrer Homepage eine eigene Satirerubrik unterhält. Sie macht in ihrer Mitteilung über die Entscheidung des Landgerichts Hamburg nämlich ziemlich genau dasselbe wie Jan Böhmermann. Sie erklärt – genau wie dieser – dass das in Rahmen der Böhmermann-Performance vorgetragene Schmähgedicht ein Schmähgedicht ist. Dazu hätte es nun keines Gerichtes bedurft. Das wussten wir schon.”
4. Lohnt sich die “Frankfurter Allgemeine Woche”? (dwdl.de, Nora Jakob)
Seit einigen Wochen gibt es die “Frankfurter Allgemeine Woche”. DWDL-Autorin Nora Jakob wagt sich an eine Zwischenbilanz. Richtig festlegen will sie sich nach der kurzen Zeit noch nicht, findet aber trotz einiger Kritikpunkte überwiegend positive Worte für das wöchentlich erscheinende Heft.
5. radioeins Medienmagazin PodCast (radioeins.de, Jörg Wagner, Audio 1:39:19)
In der aktuellen Ausgabe des radioeins-Medienmagazins mit Jörg Wagner ist Medienanwalt Prof. Dr. Christian Schertz zu Besuch. In der kurzweiligen Sendung, die auch zum Download bereitsteht, geht es um die Themen: Schmähgedicht / Junge Konkurrenz für “heute Show” und “Extra 3” / rbb intern: Ist Autorisierung = Zensur? / Ein Jahr im ZDF: heute+ und “#rpten: @heuteplus oder wie wir Journalisten lernen, den Shitstorm zu lieben”.
6. Wie man eine Talkshow bespricht, ohne sie gucken zu müssen (uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Sascha Lobo ist bei Maybrit Illner zu Besuch und Bild.de berichtet darüber. Sie ahnen, was dabei herauskommt… (Sascha Lobo hat auf Facebook eine Art einordnende Gegendarstellung veröffentlicht). Vollends aberwitzig wird es, wenn nun noch “Focus Online” und ein Autor der “Huffington Post” mit Morbus Guttenberg dazukommen, der augenscheinlich Fernsehsendungen bespricht, ohne sie gesehen zu haben. Stefan Niggemeier dröselt den Fall auf.
Falls Sie in der Zwischenzeit Entzugserscheinungen oder stressige Verwandte plagen, empfehlen wir eine Stöberrunde in unserem Archiv. Unsere Beiträge aus diesem Jahr:
Die “6 vor 9”-Ausgaben finden Sie hier, die “Perlen des Lokaljournalismus” hier.
Wir wünschen allen Lesern ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr — und danken allen, die uns in diesem Jahr mit Hinweisen versorgt und unterstützt haben, ganz besonders:
@140_a_day, @19Rhyno04, @AlexElvers, Alexander S., Ananyma, André, Andreas, Andreas G., Andreas S., Angelina E., Anonym, @bassena, Bastian B., Ben, Ben B., Benedikt S., Benjamin L., Bernhard W., Björn H., Bluspot, Boris R., @BrosMoritz, Bruno B., @BVB_Aktuell, C. aus K., Chris S., Chris W., Christian, Christian B., Christian G., Christian H., Christian M., Christian P., Christian S., Christof D., Christoph, Christoph H., Christoph T., Christoph W., Christopher B., Daniel, Daniel B., Daniel D., Daniel K., Dániel K., Dawud, @deansimon27, „Deichkind“, Dennis, Dennis Z., @derhuge, Diana G., Dominik G., Dominik L., Dustin, Elmar, Erik H., Erwin Z., Eva R., Fabian, Fabian P., Fionn P., Florian, Florian E., Frank K., Fred R., Frederik S., Geesje R., Gerald H., Gregor M., Hannes, Hansi, Heinz B., Henning M., Hippo, Holger S., Holger von T., hsbasel, Jan M., Jannik R., Jascha G., Jens, Joachim L., @JohannesFreytag, Johannes K., Johannes S., Jonas G., Jonas J., Jonas K., Jonas N., Jörg B., Joshi, @jpschlueter, @JulezRulez13, Katharina K., Katharina S., Klaus W., Konrad A., @kuehnalex, Lars W., Leo, Lorenz M., Lothar Z., Lukas H., @macerarius, @mahatma_django, Manuel, Manuel L., Marc D., Marcel B., Mark G., Markus G., Markus K., Martin, Martin F., Martin P., Martin S., Marvin, @MarvinStr, Mascha B., Mathias R., Matthias M., @matthiasquenzer, Matthias S., Mau Mue, @max_migu, @maxro39, Michael, Michael B., Michael K., Michael S., Michael W., Michalis P., Mikey, nach-holland.de, Nicolas K., Nicole C., Niko, noir, O.M., Panagiotis K., Pascal W., Pauli, Peter B., Peter W., Philipp, @PsyKater, @RamisOrlu, Raphael F., Raphael S., René B., Richard B., Robert, Robert G., Rüdiger, Rüdiger M., Rüdiger S., S., Sabine K., Sandra H., Saskia K., @SchaerWords, Sebastian K., Sebastian R., Simon H., @SimonHurtz, Simon K., Stefan F., Stefan G., Stefan K., Stefan P., Stefan S., Stephan, Stephan E., Thomas, Thomas B., Thomas D., Thomas O., Thomas R., Timo L., Tobias D., Tobias F., Tobias H., @tubewart, Ulli T., @V_83, @vierzueinser, Webwatch, @WobTikal, Wolfram S. — und allen anderen, auch den vielen, deren sachdienliche Hinweise wir nicht berücksichtigen konnten!
1. Hamiltons Sieg in Japan: Alles wie immer – nur die TV-Bilder nicht (spiegel.de, Karin Sturm)
Sportlich gab es beim Formel-1-Rennen in Suzuka keine Überraschung: Lewis Hamilton gewann zum achten Mal in dieser Saison. Für Verwunderung sorgten aber die TV-Bilder: Das Mercedes-Spitzenduo war kaum zu sehen, stattdessen die Autos aus dem Mittelfeld. Jetzt vermuten manche, es könne sich um eine Strafaktion von Formel-1-Chef Ecclestone handeln, der für die Bildregie verantwortlich ist. René Hofmann kommentiert bei sueddeutsche.de: “Allein der Verdacht, dass es so laufen könnte, beschädigt das Vertrauen in die Darstellung und damit den Wert des Sports.”
2. Journalist landet nach “Dölf”-Tweet vor dem Richter (nzz.ch, Pascal Hollenstein)
“Privat hier”, “Meinungen sind meine eigenen” und “RT doesn’t mean endorsement”, diese Phrasen gehören zum beliebten Twitter-Bio-Bullshit-Bingo. Zumindest letztere kann man sich künftig sparen: Ein Schweizer Journalist wurde wegen Verleumdung angeklagt — weil er einen beleidigenden Tweet weitervebreitet hatte. Übrigens: Auch das FBI hält Retweets für eine strafbareMeinungsäußerung.
3. Betreutes Recherchieren (sueddeutsche.de, Korbinian Eisenberger)
“Recherchescout” will Unternehmen mit Journalisten vernetzen. Wer für ein bestimmtes Thema nach einem Experten sucht, findet auf der Plattform Vorschläge für Gesprächspartner. Die Firmen zahlen einen dreistelligen Monatsbeitrag, für die Journalisten ist das Angebot kostenlos. Das “Netzwerk Recherche” kritisiert fehlende Transparenz und meint: “Wer zahlt, erkauft sich Einfluss auf die Berichterstattung.”
4. Medienkritik in der Literatur: Reporterpack (spiegel.de, Klaus Brinkbäumer)
In den neuen Romanen von Umberto Eco (“Nullnummer”) und Jonathan Franzen (“Unschuld”) geht es um Medien und Journalisten und in beiden Fällen kommen sie nicht besonders gut weg. Eine Doppelrezension von “Spiegel”-Chef Klaus Brinkbäumer. Dazu auch: Umberto Eco im Interview mit “DRadio Kultur” zu den “Schattenseiten der Medien” und im Interview mit der “SZ” zur überraschend simplen Namensgebung bei seinen Protagonisten.
6. EIL: Plagiat in Text von Angela Merkel gefunden (twitter.com, Moritz Döbler)
Die Liste der (möglichen) Plagiatoren wird länger und länger: Guttenberg, Schavan, von der Leyen. Und jetzt auch noch die Bundeskanzlerin zum Geburtstag des “Tagesspiegel”.