Wer derzeit in die Gläser der Republik schaut, sieht vor allem: Orange. Aperol Sprizz heißt das süffige Sommer-“Must-have”, wie man so sagt, von einem Trend zu sprechen wäre fast schon untertrieben, denn das modische Getränk ist allgegenwärtig. (…)
Spätestens seit diesem Frühling hat der Sprizz seinen Siegeszug durch ganz Deutschland angetreten, unterstützt von einem klug gemachten Fernsehwerbespot, in dem zwei Mädels per Handzeichen signalisieren, dass sie dazugehören zur großen, fröhlichen Aperol-Gemeinde. Diese wächst weiter, und man fragt sich, was den kollektiven Erfrischungsrausch in diesem Maße ausgelöst haben könnte. In der Eckkneipe wird ebenso “gesprizzt” wie am Gestade der hippen, innerstädtischen Strandbar.
Glaubt man den dort durch ausreichend Sprizz-Bestellungen Seliggewordenen in ihren Liegestühlen, dann entspringt der Kombination Strandbar und Sprizz der Erholungswert eines kleinen Italien-Urlaubs für zwischendurch. Dolce Vita in Dortmund. Oder Hamburg, Düsseldorf, Stuttgart, Berlin. (…)
Bei der “Welt am Sonntag” hielt man das womöglich für Journalismus, der Presserat war weniger besoffen. Er rügte allerdings nur “Welt Online”, wo der “WamS”-Artikel offenbar ursprünglich zudem “mit einem großformatigen Werbefoto des Likör-Herstellers, auf dem der Schriftzug des Getränks plakativ hervorgehoben wurde” illustriert war.
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Wenn sich jemand beim Presserat über einen Online-Artikel beschwert, schaut das behördenähnliche Gremium anscheinend nicht nach, ob der nicht einfach aus der Zeitung übernommen worde. Das zeigt auch die Rüge für die Berichterstattung von Bild.de über ein Familiendrama, bei dem eine Mutter sich und ihre drei Kinder in einem Auto angezündet und so getötet hatte. Bild.de zeigt in einer Bilderstrecke nicht nur abwechselnd Fotos von dem ausgebrannten Auto und dem Abtransport einer Leiche und Werbung u.a. für das Kontaktportal StayFriends (“Schulfreunde wiederfinden”), sondern auch sechs offenbar private Fotos von den Kindern und der Mutter. Nach Ansicht des Presserates verletzt das die Persönlichkeitsrechte der Opfer. Die identifizierende Berichterstattung habe vor allem mit Rücksicht auf die Angehörigen unterbleiben müssen. Bild.de habe außerdem gegen das Gebot verstoßen, bei Selbstmorden besonders zurückhaltend zu berichten.
Aber die gerügte Berichterstattung auf Bild.de stammt aus der gedruckten “Bild”-Zeitung. An zwei Tagen in Folge berichteten die “Bild”-Leute Noel Altendorf, Matthias Lukaschewitsch, Rainer Mittelstaedt, Peter Rossberg und Marco Zitzow detalliert, in großer Aufmachung und mit privaten Fotos von den Opfern über den Fall. “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann hat die Suizid-Berichterstattung seines Blattes vor längerer Zeit zur Chefsache gemacht. Dennoch verstößt “Bild” in diesen Fällen immer wieder gegen den Pressekodex. Oder deswegen.
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Die “Thüringer Allgemeine” kassierte eine Rüge für einen Artikel, in dem sie mit Peter Albach abrechnete, dem Bürgermeister von Weißensee, der bis zur jüngsten Wahl auch für die CDU im Bundestag saß. Denn was die Zeitung ihren Lesern verschwieg: Der Autor des kritischen Textes hatte bis kurz zuvor noch die Öffentlichkeitsarbeit für die Stadt Weißensee gemacht. Anscheinend gab es dann eine unschöne Trennung, jedenfalls einen Interessenskonflikt — der Presserat rügte die mangelnde Transparenz, die das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien gefährde.
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Der “Sarstedter Anzeiger”, der zur “Hildesheimer Allgemeinen Zeitung” gehört, wurde für die Berichterstattung über eine Familie gerügt, die in so katastrophalen hygienischen Verhältnissen lebte, dass das Jugendamt die 16-jährige Tochter in seine Obhut nahm. Der “Sarstedter Anzeiger” habe so viele Details benannt und Fotos gezeigt, dass die Familie für die breite Öffentlichkeit erkennbar geworden sei — obwohl kein öffentliches Interesse vorgelegen habe.
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Und dann war da noch Holger Borchard, Redakteur der “Offenbach-Post” in Langen, der anscheinend verzweifelt nach Wegen sucht, seine Abneigung gegen Sinti und Roma auszurücken. In einem Artikel über Betrüger, die behaupten, für die Langener Tafel zu sammeln, formulierte er vermeintlich oberschlau:
Der Zeuge, nach eigenen Worten selbst Nutznießer der Langener Tafel, hatte der Polizei gegen 14.30 Uhr vier Frauen “südländischen Aussehens” gemeldet, die Passanten auf der Bahnstraße um Spenden für die Langener Tafel anbettelten. Die ausgesandte Funkstreife fing das beschriebene Quartett, darunter eine Zehnjährige, Minuten später auf der Einkaufsmeile ab. Zur — laut Polizeisprecher Henry Faltin “nicht gerade einfachen” — Überprüfung der Personalien wurden die Vier auf die Wache mitgenommen.
Bei den drei erwachsenen Frauen handelte es sich um eine Südosteuropäerin, eine Staatenlose und eine Deutsche — alle einwandfrei einer Volksgruppe zuzuordnen, deren Namen eine Zeitung heute nicht mehr schreiben darf, weil sich sie sich damit garantiert eine Rüge vom Presserat einhandelt. Wir bitten daher um Verständnis, dass wir es wie die Ordnungshüter beim unverfänglichen Hinweis auf besagter Damen Vorliebe für bunte Kleider belassen …
Der Presserat rügte den “klaren Verstoß” gegen das Diskriminierungsverbot im Pressekodex. Die Online-Ausgabe der “Offenbach-Post” habe mit ihrer “ironisch-herabsetzenden Umschreibung” der Frauen aus vermeintlicher Rücksicht auf den Pressekodex noch mehr betont, dass die angeblichen Täterinnen einer ethnischen Minderheit angehören — ohne einen sachlichen Grund zu nennen, warum das relevant ist.
Auf der Startseite von Bild.de findet sich tagtäglich die Rubrik “Ein Herz für Kinder”. Vorbildlich: Schließlich wird in unserer fortschrittlichen Gesellschaft noch immer allzu oft auf den Rechten von Kindern und Jugendlichen herum getrampelt. Und damit man das nicht vergisst, trampelt Bild.de besonders oft auf den Rechten von Kindern und Jugendlichen herum. Schließlich sind auch schlechte Vorbilder Vorbilder.
Aktuelles Beispiel: Die Berichterstattung über die Identifizierung einer 16-Jährigen, deren Leiche Mitte Oktober in Niederzissen entdeckt wurde. Bild.de nutzt die Meldung der Polizei Koblenz über die Identifizierung der Toten, um das Bild der 16jährigen am Freitag prominent auf der Startseite zu platzieren.
Obwohl die Notwendigkeit der Veröffentlichung durch die zweifelsfreie Identifizierung der Toten nicht mehr gegeben ist, verwendet Bild.de das Bild – wiegewohnt – weiter.
Und das nicht nur einmal — auch am Samstag erscheint das Bild noch einmal ohne Anonymisierung oder Rücksichten auf Rechte von Verbrechensopfern und ihrer Angehörigen auf der Startseite von Bild.de:
Laut Pressekodex wägt die “Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab.”
Bei den Redakteuren von Bild.de ist die Abwägung eine andere: Genommen wird, was einfacher zu bekommen ist und am meisten Auflage bringt — egal wie entwürdigend und traumatisierend das Motiv auch sein mag. Im Fall des Kindes, das angeblich an der Schweinegrippe gestorben ist, greift die Redaktion zu einem Foto, das eindeutig in privatem Rahmen entstanden ist und wohl nie zur Veröffentlichung bestimmt war.
Zynisch formuliert: Wer nicht wochenlang als Leiche auf der Startseite von Bild.de erscheinen will, sollte ausreichend Privatfotos im Zugriffsbereich der Bild.de-Redakteure hinterlassen.
Ein Herz für Kinder? Aber nur, wenn es Auflage und Klicks bringt.
Nachtrag, 1. Dezember: Die Meldung über die erste Festnahme im Mordfall nimmt Bild.de zum Anlass, ein weiteres Bild des Leichnams des 16-jährigen Opfers prominent auf der Startseite zu platzieren – und verzichtet natürlich wieder auf eine Anonymisierung.
In Frankfurt am Main ist in der Nacht zum vergangenen Samstag ein 22-jähriger Amerikaner verschwunden. Weil “Bild” ihn für den “Sohn eines vermögenden Top-Bankers” (“und somit ein lohnendes Entführungsopfer”) hält, fragt die Zeitung heute in ihrer Regionalausgabe und online:
Kidnapping, Unglücksfall oder gar Mord? Seit 7 Tagen fehlt vom US-Millionärssohn Devon Hollahan (22), der in Frankfurt das Pink-Konzert besuchte, jede Spur. Im Polizeipräsidium klingeln alle Alarmglocken!
Der Artikel ist derart merkwürdig, dass wir am Besten mit einer (vermeintlichen) Kleinigkeit beginnen: Devon Hollahan war nicht beim Pink-Konzert. Er hatte auch nie vor, das Pink-Konzert zu besuchen, denn er war in Frankfurt, um sich die amerikanische Rockband “Portugal. The Man” anzusehen. Die Band beteiligt sich bei Facebook an der Suche nach Devon und fügt hinzu, dass sie beim Konzert in Frankfurt noch mit ihm “rumgehangen” habe.
Das mag ein unwichtiges Detail sein, bedeutet aber auch, dass Devon nicht in der Festhalle am Messegelände war, wie “Bild” schreibt (und der Hessische Rundfunk abschreibt), sondern in der “Batschkapp” im Stadtteil Eschersheim — was ja doch einen Unterschied macht, wenn es etwa um Zeugen geht, die ihn gesehen haben könnten.
Kommen wir nun zu den “Alarmglocken” im Polizeipräsidium:
Mittlerweile scheint aus dem “normalen Vermisstenfall” ein Kriminalfall zu werden!
Diese Meldung scheint “Bild” mal wieder weltexklusiv zu haben, denn uns sagte die Polizei, was sie auch der dpa (die “Bild” im Bezug auf das Pink-Konzert blind glaubt) erzählt hatte: Man behandle die Suche “wie einen normalen Vermisstenfall”.
Aber “Bild” weiß noch mehr:
“Morgan Stanley”-First Vice President Jeffrey Hollahan ist bereits in Frankfurt gelandet, sucht selbst nach seinem Sohn
Sagen wir es so: Es gibt Gründe zu bezweifeln, dass Jeffrey Hollahan tatsächlich einen derart hohen Posten bekleidet, wie “Bild” seine Lesern glauben lassen will. Zwar bezeichnet er sich auf seiner Profilseite beim Geschäftsnetzwerk Linkedin als “VP at Morgan Stanley”, aber schon ein Klick auf das Unternehmensprofil deutet an, dass es bei der US-Bank (auf deren offizieller Website der Name Hollahan nicht einmal auftaucht) viele, viele “Vice Presidents” gibt.
In großen Brokerunternehmen und Investmentbanken gibt es üblicherweise mehrere Vice Presidents in jeder örtlichen Zweigstelle, der Titel ist dann eher eine Absatzmethode für Kunden als die Bezeichnung für eine tatsächliche leitende Position innerhalb des Unternehmens.
(Übersetzung von uns)
Die Frankfurter Polizei wollte die berufliche Position des Vaters weder dementieren noch bestätigen, aber er selbst wird von der Nachrichtenwebsite “The Local” mit den Worten zitiert, er sei kein berühmter Banker oder Manager, sondern Finanzberater. All das hielt die Deutsche Presseagentur freilich nicht davon ab, in einer Meldung zu schreiben:
Laut “Bild”-Zeitung handelt es sich bei dem Vermissten um den Sohn eines Top-Managers der US-amerikanischen Bank Morgan-Stanley. Die Polizei wollte das nicht bestätigen.
Auch die Behauptung von “Bild”, Jeffrey Hollahan sei bereits in Frankfurt, wollte die dortige Polizei nicht kommentieren. Allerdings berichtet ein lokaler Fernsehsender (dessen Website die “Bild”-Redakteure besucht haben, um an ein Bild des Vaters zu kommen), dass er erst am Sonntag nach Deutschland aufbrechen wolle, wenn Devon nicht bald gefunden werde.
Noch mehr Exklusivmeldungen aus “Bild”?
Die hohe Brisanz des Falles zeigt, dass sogar die US-Bundespolizei “FBI” im “Fall Devon” ermittelt, die Hessen-Landesregierung eingeschaltet ist und über die Ermittlungen informiert wird.
Das FBI ist nach Auskunft der Polizei Frankfurt zwar noch nicht eingeschaltet, aber die luxemburgische Zeitung “L’Essentiel”, die französische Nachrichtenagentur “AFP” und der US-Finanznachrichtendienst Bloomberg scheint der deutschen Boulevardzeitung voll zu vertrauen:
Die deutsche Zeitung “Bild”, die zuvor über den Fall berichtet hatte, sagt, dass das FBI das Verschwinden ebenfalls untersuche.
(Übersetzung von uns)
Nun könnte man natürlich auch noch einwenden, dass es schon recht präziser Planung bedürfe, den Sohn eines “vermögenden Top-Bankers” (oder eines einfachen Finanzberaters), der für einen Tag von seinem Wohnort Prag nach Frankfurt gereist ist, um drei Uhr nachts in der dortigen Innenstadt zu entführen. Aber das wäre vielleicht zu vernünftig.
Ach, und dann ist da noch das Foto, von dem man glauben könnte, dass es zeigt, wie Kripo und FBI in der Taunusanlage ermitteln:
Interessanterweise scheinen dieselben Beamten in denselben Klamotten und mit demselben Wagen an derselben Stelle vor einem Monat schon in einem anderen Fall ermittelt zu haben:
Mit Dank an Matthias F.
Nachtrag, 23. Dezember: Nachdem “Bild” zunächst noch nach den vermeintlichen Entführern gefahndet hatte, ist jetzt klar, dass Devon Hollahans Leiche vergangene Woche in Boppard aus dem Rhein geborgen wurde.
Hinweise auf ein Gewaltverbrechen wurden im Rahmen der Obduktion nicht gefunden, so dass die Vermisstenstelle der Frankfurter Kriminalpolizei davon ausgeht, dass Devon Hollahan in den Morgenstunden des 21.11.2009 unter Alkoholeinfluss in den Main gestürzt und ertrunken ist.
Schade, dass Halloween schon wieder vorbei ist. Die Stuttgarter Lokalredaktion von “Bild” hätte da nämlich noch ein passendes Thema:
Es ist Stuttgarts grusligste Immobilien-Anzeige.
Um was es sich dabei wohl handeln mag? Ein Spukschloss? Eine Geisterbahn? Eine Gruft?
Hier wird das Haus angeboten, in dem Amok-Killer Tim K. (17) lebte. Er hatte im März in Winnenden 15 Menschen und sich selbst erschossen.
Nun möchte man vor dem Hintergrund eines derartigen Verbrechens ungern Haare spalten, aber an dieser Stelle sollte man zumindest sicherheitshalber noch einmal daran erinnern, dass Tim K. seine Opfer nicht in seinem Elternhaus erschossen hat.
Auch das “Schwäbische Tagblatt” ereifert sich berichtet heute über die “Internet-Offerte”, die “aus dem Rahmen des Üblichen” falle:
Dass in diesem Elternschlafzimmer jene ungenügend gesicherte Pistole des Typs Baretta im Kleiderschrank gelegen haben soll, mit der Tim über 200 Mal geschossen hat, wird nicht erwähnt. Überhaupt unterbleibt jeder Hinweis auf die Besitzer des Hauses.
Auch wenn das “Tagblatt” und “Bild” die fehlenden Hinweise implizit und explizit “merkwürdig” finden: Es besteht keine Pflicht, in der Immobilienanzeige darauf hinzuweisen, wer die vorherigen Bewohner oder Besitzer sind.
Hans-Eberhard Langemaack, Geschäftsführer des Immobilienverbands Deutschland (IVD), sagt uns auf Anfrage, dass es in einem derart schweren Fall zwar durchaus zur Aufklärungspflicht des Immobilienmaklers gehöre, potentielle Interessenten beim Beratungsgespräch auf die Geschichte des Hauses hinzuweisen. In der Anzeige, die ja nur den Erstkontakt darstelle, könne man auf solche Informationen aber verzichten.
Natürlich ist es denkbar, dass mögliche Interessenten Abstand von einer Immobilie nehmen, in der ein Massenmörder gewohnt und sich auf seine Tat vorbereitet hat. Andererseits soll es ja auch Menschen geben, die eine gewisse Faszination fürs Morbide hegen und vielleicht gerne im Haus des “Amok-Killers von Winnenden” (“Bild”) leben würden. Ihnen kommt das “Schwäbische Tagblatt” mit großen Schritten entgegen, wenn es unter der Überschrift “Elternhaus des Amokläufers von Winnenden wird verkauft” nicht nur über die genaue Lage der Immobilie aufklären, sondern gleich noch den Namen der Maklerin und die genaue Exposé-Nummer des Objekts verrät.
Solche Gedanken finden Sie makaber? Na, dann warten Sie mal ab:
Dazu Farbfotos vom Koi-Teich, 50-Quadratmeter-Wohnzimmer, Kamin, Schlafzimmer, Terrasse.
Und der makabere Hinweis für Eltern mit Kindern: “…alle weiteren Schularten finden Sie in Winnenden!”
(“Bild”)
Vor dem Hintergrund des Amoklaufs an der Albertville-Realschule liest es sich durchaus makaber, wenn in einem Hinweis auf Grundschule und zwei Kindergärten im Ort noch erwähnt wird, “alle weiteren Schularten finden Sie in Winnenden”.
(“Schwäbisches Tagblatt”)
Der Artikel im “Tagblatt” endet übrigens mit folgendem Absatz über den anstehenden Prozess wegen fahrlässiger Tötung gegen den Vater des Amokläufers:
Wegen großen Medieninteresses und der Vielzahl der Nebenkläger wird die Verhandlung mit großer Wahrscheinlichkeit in Stammheim stattfinden. Beim dortigen Gefängnis gibt es dafür den größten Raum.
Das “Tagblatt” erwähnt zwar nicht, wer da schon alles auf der Anklagebank gesessen hat, aber das ist vermutlich nur die Rache für den fehlenden Hinweis auf die BarettaBeretta.
Mit Dank an Sibylle B.
Nachtrag, 26. November: Die Redaktion des “Tagblatts” als Lokalzeitung hat den Verkauf des Hauses nicht selbst aufgegriffen. Der Artikel ist gestern in der “Südwestumschau” der “Südwest Presse” erschienen und auf www.tagblatt.de übernommen worden.
Vor dem Bonner Landgericht begann gestern der Prozess gegen eine 16-jährige Schülerin, die im Juni einen Amoklauf an ihrem Gymnasium im nahe gelegenen Sankt Augustin verüben wollte, aber in letzter Minute gestoppt wurde.
Die “Westdeutsche Zeitung” begann ihre Prozess-Berichterstattung, für die gleich zwei Autoren verantwortlich zeichnen, mit einem überraschenden Satz:
Überraschend ist daran weniger, dass 16-jährige Blondinen nicht unbedingt dem “Täterprofil eines Amokläufers” entsprechen (das sind ja immer nur verpickelte Jungs, die den ganzen Tag Computer spielen und Pornos gucken), sondern dass die Angeklagte gar nicht blond ist.
Die “Blondine”, von der die “Westdeutsche Zeitung” schreibt, ist nämlich gar nicht die mutmaßliche Täterin, sondern das Opfer. Sie hatte die Angeklagte bei deren Vorbereitungen überrascht und war von ihr schwer verletzt worden.
Weil der Prozess unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet (ein Vorgang, den ein Gerichtssprecher im Hinblick auf das Alter der mutmaßlichen Täterin als “zwingend” bezeichnete), gibt es keine aktuellen Fotos der Angeklagten. Dass dpa deshalb nur Fotos des leeren Gerichtssaals und der anonymisierten Zeugin im Angebot hatte, schien manchen Redaktionen allerdings nicht aufzufallen.
So untertitelte die “Westdeutsche Zeitung” – passend zu ihrem Einleitungssatz – ein Foto der Zeugin wie folgt:
Auch “Welt Online” vergriff sich böse beim Versuch, eine Bildunterschrift für ein Foto des Opfers zu finden:
Auch wenn beide Fotos von dpa stammen: An der Deutschen Presseagentur hat’s nicht gelegen — die hat uns gegenüber bestätigt, dass alle Bildbeschreibungen unmissverständlich mit der Formulierung “Anna P. (…) am Dienstag (27.10.2009) im Landgericht in Bonn – sie hatte die Amokläuferin auf der Toilette überrascht.” beginnen.
Sowohl bei wz-newsline.de als auch bei welt.de wiesen alsbald mehrere Kommentatoren auf die dümmstmögliche Verwechslung hin, doch in beiden Fällen dauerte es länger, bis die Fotos entfernt wurden.
Immerhin erklärten beide Onlinemedien in den Kommentaren, dass sie einen Fehler gemacht hatten, und entschuldigten sich dafür. (Dass bei der “Westdeutschen Zeitung” auch der Artikelanfang zunächst ganz anders ausgesehen hatte und klammheimlich korrigiert worden war, erwähnte die dortige Redaktion allerdings nicht.)
Der erste Hinweis auf das falsche Foto wurde bei “Welt Online” gestern Abend um 17:56 Uhr gegeben, eine halbe Stunde, nachdem der Artikel online gegangen war.
Heute gegen 12:20 Uhr wurde der Fehler korrigiert — wie es sich für ein Onlinemedium gehört nach einem telefonischen Hinweis:
2008 war, wenn man so will, ein gutes Jahr für “Bild”. Der Deutsche Presserat sprach nur in zwei Fällen Rügen gegen “Bild” aus:
Das Gremium beanstandete — aufgrund einer Beschwerde von BILDblog — die teils frei erfundene Berichterstattung über zwei Mädchen, die angeblich von ihrer Mutter nach Afrika gebracht und dort beschnitten werden sollten (BILDblog berichtete).
Und der Presserat rügte die “unangemessen sensationelle” Art, wie “Bild” über einen Flugzeugabsturz berichtetete, verkohlte Leichen auf der Titelseite zeigte und die Opfer im Inneren identifizierte — und so “die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt” habe. (Die “Bild”-Zeitung fand die Beanstandung, wie berichtet, “rätselhaft” und führte ihre Leser beim Abdruck der Rüge in die Irre, was dem Presserat aber egal ist.)
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung oder eine Zeitschrift gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, tun sie es nicht.
Trotzdem hatte der Presserat auch im vergangenen Jahr reichlich mit “Bild” zu tun und sprach eine Reihe von “Missbilligungen” und “Hinweisen” aus. Und wie in jedem Jahr gibt das vor kurzem erschienene “Jahrbuch” des Presserates seltene Einblicke in die Argumentationsmuster innerhalb der notorisch öffentlichkeitsscheuen Axel-Springer-AG, wenn die Rechtsabteilung gegenüber dem Presserat ausgeruht die fragwürdigen Ad-Hoc-Entscheidungen der “Bild”-Zeitung zu rechtfertigen versucht.
Eine Auswahl:
Tote Kinder ohne Rechte?
“Die toten Kinder von Darry — Von der Mutter erstickt, vom Vater wieder ausgegraben”. Unter dieser Überschrift berichtet “Bild” am 26. Juni 2008, wie drei tote Kinder von einem Berliner Friedhof nach Schleswig-Holstein umgebettet werden. Sie und zwei weitere waren von ihrer Mutter getötet worden. “Bild” zeigt ein Familienfoto, auf dem die Gesichter der Erwachsenen unkenntlich gemacht wurden, sowie Nahaufnahmen der Särge und der Gruft — und ein Notfallseelsorger aus Schleswig-Holstein, der beruflich mit dem Fall zu tun hat, beschwert sich beim Presserat, der seine Position so wiedergibt:
Die Umbettung habe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollen. Mit allen Firmen und den Friedhöfen sei Stillschweigen und absolute Vertraulichkeit vereinbart worden. Zu Beginn der Exhumierung in Berlin hätten mehrere Journalisten fotografieren und filmen wollen. Die Friedhofsverwaltung habe vergeblich versucht, sie davon abzuhalten. Im Gegensatz zu anderen Medien habe das Boulevardblatt Nahaufnahmen der Särge, der Gruft und des gesamten Vorgangs veröffentlicht. Zudem sei in der Online-Ausgabe ein “abscheuliches Video” mit Nahaufnahmen abrufbar gewesen. Der Geistliche sieht einen Missbrauch der Pressefreiheit und eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder und des trauernden Vaters.
Die Antwort von “Bild” ist vor allem eine juristische: Die Vorwürfe seien unbegründet, weil das Persönlichkeitsrecht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes mit dem Tod erlösche. Es müsse dann nur noch allgemein die Menschenwürde geachtet werden. “Bild” habe die Kinder aber nicht herabgewürdigt oder erniedrigt. Das (nicht mehr abrufbare) Video auf Bild.de habe allerdings religiöse Gefühle verletzen können — das habe der Chefredakteur in einem Brief an den Seelsorger bedauert. Die Reporter hätten versichert, dass sie während der Exhumierung nicht am Fotografieren gehindert worden seien.
Der Presserat sieht in der Veröffentlichung der Fotos einen Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex, der eine Identifizierung der Opfer von Unglücksfällen und Straftaten untersagt. Der “engeren juristischen Wertung” des Verlages wollte er sich nicht anschließen. Aus ethischer Sicht hätte die Redaktion auf die Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder sowie des trauernden Vaters größeres Gewicht legen müssen. Der Presserat sah darin allerdings keinen rügenswerten Verstoß, sondern “missbilligte” die Berichterstattung nur — warum auch immer.
Lea-Sophie, nackt und verhungert auf dem OP-Tisch
Am 6. April 2008 veröffentlichten “Bild am Sonntag” und Bild.de zwei Fotos der fünfjährigen Lea-Sophie, die ihre Eltern verhungern ließen. Eines zeigte das Mädchen zu Lebzeiten, eines den Leichnam, nackt auf dem Obduktionstisch. Das zweite Foto, das die Zeitung auf unbekannte Weise bekommen hatte, war, wie die “BamS” damals schrieb, ein “schreckliches” Foto. Die Redaktion, behauptete die Redaktion, habe lange diskutiert, ob sie es zeigen solle. Dass sie sich dafür entschieden habe, das tote Kind auf diese Weise vor einem Millionenpublikum auszustellen, begründete sie mit dem Satz: “Denn wir wollen, dass so etwas nie wieder in Deutschland passiert!” (BILDblog berichtete.)
Ein Leser beschwerte sich beim Presserat, weil er in der Veröffentlichung des Bildes Sensationsmache und eine Verletzung der Menschenwürde der Verstorbenen sieht. Die Rechtsabteilung der “BamS” hält ihm entgegen, er habe sich mit den Überlegungen der Redaktion nicht auseinandergesetzt: Darin seien die Beweggründe, das Foto zu veröffentlichen, ausführlich dargelegt worden. Sie erinnerte an das “vermutlich eindringlichste Foto der Pressegeschichte”: fliehende, weinende, teilweise nackte und vom Napalm verletzte Kinder im Vietnam-Krieg. Wenn die Eltern von Lea-Sophie und ihr Anwalt ein falsches Bild der Ereignisse zeichneten, so die “BamS” laut Presserat, müsse dies ausnahmsweise durch ein Fotodokument korrigiert werden können.
Der Beschwerdeausschuss widersprach: Das Foto sei für eine wahrhaftige Berichterstattung über die Grausamkeit der Todesumstände nicht erforderlich gewesen — eine Beschreibung der Vorgänge hätte ausgereicht. Die “BamS” habe “unangemessen sensationell” berichtet und die Würde des Opfers verletzt — und somit gegen die Ziffern 1 und 11 des Pressekodex verstoßen. Der Presserat fand das aber offenbar lässlich genug, keine “Rüge”, sondern nur eine “Missbilligung” auszusprechen.
Ein “Kinderschänder” und sein Opfer im Bild
Zu den für “Bild” nachhaltig unbegreiflichen Realitäten gehört es, dass auch (mutmaßliche) Täter Rechte haben, sogar Persönlichkeitsrechte. Und dass die Richtlinie 8.1 des Pressekodex vorsieht, dass die Presse bei Straftaten in der Regel keine Informationen veröffentlicht, die die Beteiligten erkennbar machen. Es ist vermutlich die Richtlinie, gegen die “Bild” am häufigsten verstößt, so auch am 5. Juni 2008. Das Blatt titelte “Kinderschänder lockt 13-Jährige in Sex-Falle” und berichtete über ein Ermittlungsverfahren gegen einen Mann, der ein Mädchen, das er im Internet kennen lernte, zu sich nach Hause gelockt, dort vier Wochen lang versteckt und mit ihm einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt haben soll. “Bild” zeigt beide auf einem Foto. Der Anwalt des Beschuldigten sieht in der Bezeichnung “Kinderschänder” eine unzulässige Vorverurteilung und weist darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft bereits nach einer Woche die Aufhebung des Haftbefehls beantragt habe. Das Foto, auf dem der Mann mit dem Mädchen zu sehen ist, sei auf unlautere Weise aus den Privaträumen des Beschwerdeführers beschafft worden. Und sowohl die Bildunterschrift “In diesem Gartenhäuschen auf dem Hotelgrundstück fanden die Ermittler Kinderpornos” als auch die Behauptung “Der Mann fiel der Polizei schon früher auf: Als 17-Jähriger soll er erstmals zwei Mädchen in einen Schuppen gelockt und gefesselt haben” seien frei erfunden.
Die Rechtsabteilung von “Bild” hingegen meint, dass die Wertung als “Kinderschänder” und der Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch die Beschreibung der beiden Betroffenen erfüllt sei. Und an der Veröffentlichung der Fotos gebe es ein öffentliches Interesse. “Wenn jemand eine 13-jährige Schülerin vier Wochen lang vor deren Eltern versteckt halte, sei das so außergewöhnlich, dass die Fotoveröffentlichung auch gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei”, erklärt “Bild” laut Presserat. “Die Mutter des Beschwerdeführers habe das strittige Foto zur Verfügung gestellt. Sie habe damit zeigen wollen, dass es sich um eine einvernehmliche Beziehung zwischen ihrem Sohn und dem Mädchen gehandelt habe.” Somit habe “Bild” nicht gegen Ziffer 4 des Pressekodex verstoßen, die unlautere Recherchemethoden untersagt. Schließlich beruhten die angeblich “frei erfundenen Behauptungen” auf Informationen der Ermittlungsbehörden und Aussagen der Mutter des Beschwerdeführers, die man “nicht als Tatsachen, sondern in der Soll-Form wiedergegeben” habe.
Der Presserat “missbilligte” die Berichterstattung von “Bild”. Er sah zwar keine Verletzung der Unschuldsvermutung und konnte, wie fast immer, nicht klären, ob “Bild” unlautere Methoden bei der Recherche angewandt hat. Aber “Bild” habe den mutmaßlichen Täter nicht einmal teilweise unkenntlich gemacht. Sowohl er als auch die 13-Jährige seien erkennbar. “Der Fall ist sicher von großem öffentlichem Interesse, doch ist es auch dann nicht gerechtfertigt, die Beteiligten erkennbar zu machen”, urteilte der Beschwerdeausschuss. “Diese hätten anonymisiert werden müssen.”
Ein Irak-Soldat “frisst” einen kleinen Hund
Man kann sicher darüber streiten, ob es wirklich, wie ein Beschwerdeführer meint, “abartig” ist, dass die “Bild”-Zeitung am 11. Januar 2008 auf ihrer letzten Seite zwei AFP-Fotos zeigt, auf denen ein irakischer Soldat einen Hund erst mit seinem Messer tötet und dann isst, um den Jahrestag der Übernahme der Stadt Nadschaf zu feiern. Aber die Argumente, mit denen die “Bild”-Justiziare die Veröffentlichung der drastischen Aufnahmen rechtfertigen, sind atemberaubend. Der Presserat gibt sie so wieder:
Die Rechtsabteilung der Zeitung hält das Foto mit dem irakischen Soldaten für ein über den Tag hinaus wirkendes zeitgeschichtliches Dokument. Es zeige die Verrohung des Menschen im Krieg. Das Foto dokumentiere zudem den Hass, der einen Moslem dazu bringe, genau das Tier zu verspeisen, das in seiner Religion neben dem Schwein als besonders unrein gelte. Das Foto sei aktueller Informationsträger und erfülle eine nachrichtliche Funktion. Das blutige Ritual zeige, zu welchen Taten Soldaten im Krieg — namentlich, wenn er von Glaubensgegensätzen begleitet werde — fähig seien. Dies dürfe die Berichterstattung aufgreifen. Sie solle weder verschleiern, noch verharmlosen, sondern die Wirklichkeit so abbilden, wie sie sei.
Der Hass eines Moslems? Ein Krieg, der von Glaubensgegensätzen begleitet wird? Und all diese Informationen und Hintergründe entdecken erfahrene “Bild”-Leser zwischen den gerade einmal 20 Zeilen eines Artikels, in dem von Glauben und Religion nicht einmal die Rede ist?
Der Presserat sieht in den Fotos kein “zeitgeschichtliches Dokument”: “Es scheint sich hier um einen sehr speziellen Einzelfall zu handeln.” Das Veröffentlichen brutaler Bilder sei zwar ausnahmsweise zulässig, wenn sie zu einer politischen Debatte beitragen. Ein solches öffentliches Interesse sei aber nicht zu erkennen; die Darstellung sei unangemessen sensationell. Der Presserat sprach einen “Hinweis” aus.
Franz Josef Wagner und die “Monster” in der Psychiatrie
Und dann hatten die Mitglieder des ersten Beschwerdeausschusses des Presserates noch eine Aufgabe, um die man sie wirklich nicht beneiden kann: Sie mussten versuchen herauszufinden, was Franz Josef Wagner in einer seiner “Bild”-Kolumnen eigentlich sagen wollte. Am 26. März 2008 schrieb er an den damals noch unbekannten Täter, der einen schweren Holzklotz von einer Autobahnbrücke bei Oldenburg geworfen und damit eine Frau getötet hatte. Unter der zu seinem Markenzeichen gewordenen Umgehung von grammatischen und logischen Regeln formulierte Wagner:
Mehrere Menschen, darunter Vertreter sozialpsychiatrischer Einrichtungen und Verbände, beschwerten sich beim Presserat darüber, dass Wagner psychisch kranke Menschen als “Monster” bezeichne. Einer fühlte sich an die Nazi-Zeit erinnert, zumal schon am Beginn des Beitrages von einer Art Sippenhaft gesprochen werde; ein anderer sah in Wagners Text eine menschenverachtende Diffamierung von Personen, die psychisch krank sind und Hilfe in psychiatrischen Einrichtungen suchen.
Die Rechtsabteilung der “Bild”-Zeitung hatte für die insgesamt vier Beschwerdeführer eine überraschende Antwort: Wagner habe gerade nicht psychisch kranke Menschen, sondern Kriminelle als “Monster” bezeichnet. Die Justiziare verstiegen sich sogar zu der — vermutlich auch für Wagner selbst überraschenden — These, seine Kolumne habe einen gedanklichen “roten Faden”: Der Autor beklage, dass selbst Straftäter, die gröbste Verbrechen begehen, immer irgendwie durch “mildernde Umstände” exkulpiert würden. Erwachsene Täter, die man aufgrund ihrer Verbrechen nur noch als “Monster” bezeichnen könne, schicke man nicht ins Gefängnis, sondern zur Behandlung in die Psychiatrie. Wagners Fazit laute: Verbrechen wie die des “Holzklotzwerfers” würden nicht wirksam bekämpft; ein nächster Fall sei zu befürchten. Dass einige der Beschwerdeführer die räumliche Nähe der Begriffe “Monster” und “Psychiatrie” in dem Kommentar als Erinnerung an die Nazi-Zeit “hochschraubten”, betrachte man als polemische Übertreibung im Rahmen ihrer politischen Agitation, erklärte die Rechtsabteilung des Verlages, den man ja in Sachen “politischer Agitation” getrost als Experten betrachten darf.
Und der Presserat? Er hält den Nazi-Vorwurf für überzogen und stellt sicherheitshalber fest, dass Wagners Text mehrere Deutungsmöglichkeiten habe und man deshalb nicht zwingend davon ausgehen könne, dass Wagner alle Patienten einer Psychiatrie als “Monster” bezeichnet habe:
Eine weitere Deutungsmöglichkeit ist jedoch, dass hier nur Menschen als “Monster” bezeichnet werden, die monströse Taten begehen. Ein so monströses Verbrechen wie der Holzklotzanschlag auf eine Familie kann umgangssprachlich durchaus einem “Monster” zugeordnet werden. Die Feststellung des Autoren, “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt”, ist anders zu beurteilen. Dies ist eine falsche Tatsachenbehauptung. Die Feststellung, dass Kranke in der Psychiatrie gefesselt würden, ist in dieser pauschalen Form falsch und verletzt Ziffer 2 des Pressekodex (Journalistische Sorgfaltspflicht). Sie kommt einer Schmähung der Institution Psychiatrie gleich und zieht einen Hinweis nach sich.
Der Presserat erklärt also Wagners Satz “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt” für sachlich falsch und diffamierend, indem er das Wort “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” interpretiert, glaubt aber nicht, dass Wagner “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” gebraucht habe. Irre.
Nicht weniger als drei Autorenkürzel stehen unter dem “Bild”-Artikel über das Familiendrama, bei dem ein Mann am vergangenen Samstag in Sundern seine Frau auf offener Straße erschoss. Aber es waren entweder nicht genug — oder einfach zu viele “Bild”-Autoren beteiligt, um einen gravierenden Fehler zu verhindern: Den Täter mit seinem Bruder zu verwechseln.
“Bild” hat zwar den Nachnamen der Eheleute abgekürzt, aber sich — wie üblich — keine Mühe gemacht, die Beteiligten tatsächlich zu anonymisieren. Das Blatt nennt den ungewöhnlichen Vornamen des vermeintlichen Täters, schreibt, wo er arbeitet und zeigt ein Foto des Hauses der Familie.
Das ist in diesem Fall besonders dramatisch, denn die Namen sind nicht die von Täter und Opfer, sondern vom Bruder des Täters und seiner Frau. Auch die “Hintergründe” des Artikels basieren teilweise auf dem Leben des Bruders.
Man kann sich ausmalen, wie sehr das das Leid der überlebenden Verwandten vergrößert hat, dass sie in ihrer Situation nun auch noch als Täter und Todesopfer dargestellt wurden. Und das nur, weil eine große Boulevardzeitung nicht anonymisieren will und nicht recherchieren kann.
PS: Heute korrigiert sich “Bild” am Ende eines weiteren Artikels zum Thema:
Durch eine bedauerliche Namensverwechslung war der engagierte Trainer des Fußballvereins […] bei BILD.de als Täter und seine Frau als Opfer bezeichnet worden. Beide haben mit dem Verbrechen nichts zu tun.
Nach dem 5:0-Auswärtssieg des FC St. Pauli bei Alemannia Aachen am Montagabend ist ein St.-Pauli-Fan sechs Meter in die Tiefe gestürzt. Er wurde in ein künstliches Koma versetzt und ist offenbar noch nicht außer Lebensgefahr.
Weil man sich vielleicht nicht so gut vorstellen kann, wie es aussieht, wenn ein Mensch gerade sechs Meter tief aufs Betonpflaster gefallen ist, oder einfach, weil Fotos des Opfers auf dem Markt waren, veröffentlichten Bild.de und Express.de Bilder, die den Fan in einer Blutlache zeigten. Bei Bild.de war er auf dem Bauch liegend von der Seite zu sehen, auf dem Foto bei Express.de lag er auf der Seite, die Tätowierungen auf seinem der Kamera zugekehrten Rücken waren gut zu sehen.
Beide Bilder sind inzwischen aus den Artikeln verschwunden, was unmittelbar mit dem zusammenhängen dürfte, was die “Aachener Nachrichten” gestern schrieben:
Die Alemannia stellt der Familie [des Mannes] nach Angaben von Pressesprecher Thorsten Pracht “einen renommierten Hamburger Medienanwalt” auf Vereinskosten zur Verfügung, der zunächst auf Unterlassung der Veröffentlichung der Bilder des gestürzten Mannes klagen soll, die im Internetauftritt von zwei Boulevardzeitungen zu sehen sind.
Das rigorose Vorgehen gegen die Konkurrenz hielt die “Hamburger Morgenpost” aber offensichtlich nicht davon ab, heute ein Drittel ihrer Titelseite mit dem gleichen Foto zu füllen, das Express.de verwendet hatte. Direkt darüber: Ein Foto des Mannes vor dem Unfall, darunter sein Spitzname.
Im Innenteil der “Morgenpost” findet sich dann ein Foto des Fanblocks, in dem das Opfer als einzige von etwa 50 Personen notdürftig anonymisiert wurde — und gleich daneben eine unverpixelte Nahaufnahme, die den Fan beim Feiern zeigt.
Im Artikel unterhalb des Fotos erklärt die “Morgenpost”:
Gestern bat der Klub darum, die Profis nicht zu den Vorfällen zu befragen. Die MOPO kam dieser Bitte selbstverständlich nach.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.
Nachtrag, 17:15 Uhr: Die Unterseite im Internetauftritt der “Hamburger Morgenpost”, auf der man sonst jeden Tag das aktuelle Titelbild in zweifacher Ausführung betrachten kann, sieht seit dem Nachmittag so aus:
2. Nachtrag, 20. August: Auf ihrer Internetseite veröffentlicht die “Morgenpost” heute mehrere erboste Leserbriefe, in denen die Veröffentlichung des Fotos vom Unfallort scharf kritisiert wird.
Darüber schreibt die Redaktion:
Liebe Leser, das Titelfoto vom verunglückten St. Pauli-Fan […] löste bei den Anhängern teilweise heftige Reaktionen aus. Es war nicht unsere Absicht, Gefühle zu verletzen. Wir wünschen […] gute Besserung und seiner Familie viel Kraft. DIE REDAKTION
Gefühle wollte man also nicht verletzen — mit den Persönlichkeitsrechten sah es da offenbar etwas anders aus.
Dirk von Gehlen entdeckt beim Spaziergang durch die Innenstadt von München – “ein Ort, von dem ich bisher dachte, er sei keinesfalls ein rechtsfreier Raum” – wie ein Bekleidungsgeschäft sein geistiges Eigentum zur Umsatzsteigerung nutzt.
Angelehnt an das Buch “Postdemokratie” von Colin Crouch startet Michel Reimon “das Recherche- und Forschungsprojekt ‘Postjournalismus'”, ein “Langzeitprojekt mit niedriger Intensität”.
“Mitten in der Krise wagt der Basler Kleinverleger Dominique Hiltbrunner einen grossen Schritt: Er lanciert Ende August das Frauenmagazin Women in Business mit einer Auflage von 25‘000 Exemplaren.”
“Und auch wenn es uns selbstverständlich nicht um Klickzahlen geht: Besuchen Sie unsere Homepage! Klicken Sie! Klicken Sie, was das Zeug hält! (…) Denn glauben Sie uns: Auf Papier ist die Jungle World einfach schöner.”
Irgendeinen Grund wird Bild.de sicherlich gehabt haben, ausgerechnet jetzt mit einer solchen Geschichte anzukommen:
Im Zweifelsfall war es einfach mal eine schöne Möglichkeit, ein beeindruckendes Video (ein “Fundstück”) zu zeigen, in dem ein Auto wie eine Ziehharmonika zusammengefaltet wird:
Auf dem Video ist zu sehen, wie ein Holden Commodore der ersten Generation von 1978 zu Testzwecken gegen die Wand fährt.
Der schlimmste Crashtest aller Zeiten! […]
Der Hammer: Beim Aufprall mit rund 60 km/h auf das feststehende Hindernis bricht die gesamte Konstruktion komplett zusammen.
Sucht man bei YouTube nach “worst car crash ever”, findet man unter den ersten Treffern ein Video, in dem ein Holden Commodore gegen eine Wand fährt. Also genauer: Das gleiche Video, das auch Bild.de zeigt, nur mit anderem Ton, ohne Off-Sprecher und natürlich ohne Bild.de-Logo oben rechts in der Ecke, hochgeladen am 11. Oktober 2008. (Wir kennen das ja: Das Internet ist ein rechtsfreier Raum.)
Bild.de scheint sich nur das Video bei YouTube besorgt zu haben, ignorierte aber die Fakten, die daneben stehen:
Der Test wurde 1992 durchgeführt und war Teil einer Serie von Tests um unsere Crashtest-Anlage in Betrieb zu nehmen. Es war ein Test des Fahrsystems, nicht des Autos.
Das Auto war ein Standard-Gebrauchtwagen, außer dass die Antriebswelle entfernt worden war, 300 kg Sandballast wurden im Fußraum und im Kofferraum platziert und ein Ballast-Dummy (75 kg) saß auf dem Rücksitz.
(Übersetzung von uns.)
Die Angaben erscheinen zumindest insofern vertrauenswürdig, als im Video kurz das Datum 09/06/92 auf der Testanlage zu sehen ist.
Dass es sich also um einen Test der Crashtest-Anlage mit einem älteren Gebrauchtwagen gehandelt hat, wäre ja vielleicht nicht ganz uninteressant zur Einschätzung der Bilder.
Noch interessanter wäre es natürlich, wenn die Leser von Bild.de wüssten, was noch bei YouTube steht:
Die Testgeschwindigkeit betrug 100 km/h in einen massiven Betonblock.
(Übersetzung von uns.)
Ganz “rund 60 km/h” also.
Mit Dank an Ingo H.
Nachtrag, 16:30 Uhr: Dank weiterer Leserhinweise hätten wir jetzt zwei Theorien.
Die eine betrifft die Frage, warum Bild.de das Video ausgerechnet jetzt online stellt: Das macht nämlich seit einigen Tagen die Runde durch diverseAutoblogs.
Die andere erklärt, wie Bild.de auf “rund 60 km/h” kommt: In einem amerikanischen Blog hatte man die 100 km/h in Meilen pro Stunde (mph) umgerechent:
The Commodore was reportedly crashed at 62 mph back in 1992 to to test the vehicle’s drive system, and not the car itself.
Und wenn man da nicht genau auf die Einheit achtet, hat man schnell einen Wert von “rund 60”. Nur halt nicht km/h.
Nachtrag, 10. Juli: Im Fließtext bei Bild.de ist jetzt von “rund 60 Meilen” die Rede (wobei Physiker sicherlich anmerken würden, dass das eine Strecke und keine Geschwindigkeit sei), im Video immer noch von “60 km/h”.