Suchergebnisse für ‘foto opfer’

Seniorenunterhaltung, Staatsräson, Neonazis

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “15 Thesen zum Journalismus im 21. Jahrhundert”
(blog.tagesanzeiger.ch, Constantin Seibt)
Wie alternde Schlagersänger seien Printjournalisten längst größtenteils in der Seniorenunterhaltung tätig, stellt Printjournalist Constantin Seibt fest. Der Ausweg aus der Lage sieht er im Stil. “Weil Stil ein eleganter, energischer Weg ist, die drei zentralen Probleme im heutigen Journalismus gleichzeitig anzugehen: die angeschlagene Glaubwürdigkeit, die in Routine erstarrten Redaktionsstrukturen, das alternde Publikum.”

2. “Neonazis attackieren ‘Lausitzer Rundschau'”
(tagesspiegel.de, Sandra Dassler)
Ein Redakteur der “Lausitzer Rundschau” nimmt den Verfassungsschutzbericht 2011 zum Anlass, “über die zunehmende Präsenz von rechtsextremen Gruppen in der Stadt an der Grenze zu Sachsen zu berichten”. Daraufhin wird das Redaktionsgebäude bemalt und beklebt. “In der Nacht zu Dienstag wurden dann Innereien von Tieren ans Schild der Redaktion gehängt.” Die Redaktion will sich nicht einschüchtern lassen (lr-online.de, Johannes M. Fischer). Im Gegenteil, sie ist “ermuntert, noch engagierter zu recherchieren und sich intensiv mit der Feder gegen den Rechtsextremismus zu wehren”. “Der Fall zeigt lediglich die Primitivität der Täter, deren Respektlosigkeit gegenüber fremdem Eigentum und das infantile Unvermögen, andere Meinungen zu ertragen.”

3. “Keine Verkäuferin, nicht verletzt”
(skensegeng.wordpress.com, 18. April 2012)
Eine Frau aus Klagenfurt findet sich mit ihrem Facebook-Foto in der Zeitung wieder: “Sie war mit Name und Bild in der Tageszeitung ‘Österreich’ abgebildet – als Opfer eines brutalen Raubüberfalles, mit dem sie niemals etwas zu tun hatte.”

4. “Armee dementiert Chaos bei Armeewaffen”
(nzz.ch, Markus Häfliger)
Der Chef der Schweizer Armee, André Blattmann, wirft der “Sonntagszeitung” Manipulation von Zitaten vor. Zu Unrecht, fand Markus Häfliger heraus. “Auf Anfrage stellte die ‘Sonntagszeitung’ der NZZ ihren Mailwechsel zur Verfügung, den sie am letzten Freitag und Samstag mit dem zitierten Armeesprecher geführt hatte. Diese Mails zeigen, dass der Blattmanns Armeesprecher die Zitate wörtlich und schriftlich exakt so autorisiert hatte, wie sie in der ‘Sonntagszeitung’ wiedergegeben wurden.”

5. “Springer? 1,70 Euro pro Zeile! Äh … Anteilsschein!”
(freischreiber.de)
Freischreiber, ein Berufsverband freier Journalisten, macht auf den Unterschied zwischen Zeilengeld und Unternehmensgewinn im Axel-Springer-Verlag aufmerksam.

6. “Die Top Ten! – Belletristik”
(ardmediathek.de, Video, 9:20 Minuten)
Literaturkritiker Denis Scheck sieht in den Reaktionen auf das Gedicht “Was gesagt werden muss” von Günter Grass einen “typisch deutschen Ausgrenzungsdiskurs”: “Statt für die Freiheit des Wortes Partei zu nehmen, hat die deutsche Literaturkritik auf Staatsräson gepocht. Statt Abweichler in Schutz zu nehmen, hat man sich im Reihenschluß geübt. Statt ästhetische Maßstäbe anzulegen, hat man sie zugunsten eines politischen Verdikts über Bord geworfen (…)”

Roboterjournalismus, Syrien, Pepsch

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Texte in null Komma nichts”
(faz.net, Evgeny Morozov)
Roboterjournalismus: Forbes “stützt sich auf die junge Firma Narrative Science, mit deren Hilfe automatisch Artikel über die voraussichtliche Entwicklung von Unternehmenszahlen generiert werden. Man gibt ein paar statistische Daten ein, und im Handumdrehen liefert die Software gut lesbare Artikel.”

2. “3…2…1… meins!”
(fernsehkritik.tv, Fernsehkritiker)
“TV Psychologin verschenkt Behandlung für übergewichtigen Teeny!” Die Castingagentur manitwo sucht Opfer für Reality-Sendungen mithilfe von Kleinanzeigen auf eBay, Kategorie: “zu verschenken”.

3. “‘Um Syrien tobt eine Schlacht der Bilder'”
(theeuropean.de, Florian Guckelsberger)
Der Journalist und Fotograf Marcel Mettelsiefen warnt davor, sich als Berichterstatter im Syrien-Konflikt emotional auf eine Seite zu schlagen: “Wenn wir nach Syrien gehen, begeben wir uns in die Hände von Menschen, die uns eine bestimmte — ihre — Realität sehen lassen wollen. In einer solchen Situation ist es schwer, neutral zu bleiben — allein die Entscheidung einer illegalen Einreise zu den Rebellen ist an sich schon politischer Aktivismus.”

4. “q.e.d.”
(katrinschuster.de, Katrin Schuster)
Nachdem sich der Schriftsteller Ralf Bönt über eine Kritik an seinem Buch “Das entehrte Geschlecht” geärgert hat, druckt die “Berliner Zeitung” Raum eine Art Gegendarstellung in Form eines Interviews. Der Ressortleiter Harald Jähner unterstellt seiner Autorin Katrin Schuster gleich am Anfang, sie habe zwei Passagen aus Bönts “Manifest” “sinnentstellend zitiert”.

5. “It’s time for Azerbaijan to earn some points for Human Rights”
(youtube.com, Video, 1:45, englisch)
Aserbaidschan will sich mit der Ausrichtung des Eurovision Song Contest als modernes Land präsentieren — Amnesty International gibt ihm null Punkte für Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

6. “Nachrichten vom Niedergang der politischen Karikatur XXIII”
(taz.de, Jakob Hein)
Über eine Karikatur in der “Süddeutschen Zeitung” vom “verlässlich verheerenden ‘Pepsch'”: “Gezeigt werden Merkel und Rösler, die mit Vorschlaghämmern in der Hand eine große Photovoltaikanlage hinterlassen, in die sie das Wort ‘Subventionen’ gehämmert zu haben scheinen. Zwei Männer stehen fassungslos, auf dem Koffer des einen das Wort ‘Insolvenz’. (…) Was ist in dem Köfferchen mit der Aufschrift ‘Insolvenz’ drin? Wer sind die beiden Männer und warum steht nichts auf ihnen? Wird das pepsche Augenlicht im Alter zu schwach, um auf alle Figuren seiner ‘Karikaturen’ was draufzuschreiben?”

Eine Hand wäscht die andere in Unschuld (2)

Die “Welt am Sonntag” und die “Berliner Morgenpost am Sonntag” (zwei Zeitungen, die bekanntlich teilweise den gleichen Inhalt haben) berichten heute über eine “Woche wie in einem Horror-Film”, die die Kleinstadt Emden hinter sich habe. Vergangenen Samstag wurde dort ein 11-jähriges Mädchen ermordet, am Dienstag ein 17-jähriger Tatverdächtiger verhaftet, der von einem Beinahe-Lynchmob bedroht wurde, sich aber am Freitag als unschuldig erwies (BILDblog berichtete).

Der Reporter berichtet von “Journalisten, die Jugendlichen 20 Euro in die Hand drückten, damit sie vor der Kamera ein bisschen traurig guckten” und von solchen, die gleich 50 Euro bezahlten, “damit Jugendliche ihren Facebook-Zugang bereitstellten, um auf das Profil des 17-Jährigen zugreifen zu können.”

Er fährt fort:

Doch nicht deswegen schlug in Emden irgendwann die Stunde der Wichtigtuer und Denunzianten. Die waren schon vorher da, verbreiteten Gerüchte über den später Festgenommenen, dessen Familie, auch über andere, darunter auch die Familie des Opfers. In der Presse war darüber nichts zu lesen, auch die gern zu solchen Anlässen gescholtenen Boulevardmedien hielten sich zurück. Sie wurden ihrer Verantwortung weitgehend gerecht. So wurde der 17-Jährige in den Medien nicht als Täter vorverurteilt, es wurde auch nicht in Zeitungen dazu aufgerufen, ihn zu steinigen, aufzuhängen, ihn zu foltern – und kein Journalist forderte, das Polizeikommissariat zu stürmen, um den Jugendlichen “da rauszuholen”.

Nun könnte man anmerken, dass es ja wohl das Mindeste sei, dass kein Journalist solche Forderungen erhoben habe. Oder dass die “Zurückhaltung” von “Bild”, die wie “Welt am Sonntag” im Axel-Springer-Verlag erscheint, so aussah:

Polizei sicher: ... von Schüler getötet!

Aber lassen wir lieber Bernard Südbeck zu Wort kommen. Der Auricher Oberstaatsanwalt sprach heute auf der Pressekonferenz zur Festnahme einen neuen Tatverdächtigen, der ein Teilgeständnis abgelegt hat.

Nach einigen einführenden Worten wurde er grundsätzlich:

Wir haben in den letzten Tagen vieles lesen und hören können über die Entwicklung der Ermittlungen und ich möchte an dieser Stelle erneut an alle Personen appellieren, die über diese Sache berichten: Wir alle und Sie alle haben eine große Verantwortung, das haben wir anlässlich der Festnahme eines letztendlich Unschuldigen in den letzten Tagen spüren müssen. Wenn ich höre, dass nun schon wieder Fotos von den Gebäuden gemacht werden, wo Eltern des jetzt festgenommenen Tatverdächtigen wohnen, dass man die Familie des ursprünglich Tatverdächtigen angeht, dann sollten wir doch an diesem Punkt zur Vernunft kommen. Ich möchte wirklich darum bitten, dass man diese Personen nicht fotografisch abbildet, dass man sie nicht unbedingt befragt. Die Familie des Opfers, für die gilt das gleiche. Das sind Dinge, ich meine, das muss man bei allem Verständnis für Berichterstattung nicht unbedingt tun.

Das gleiche gilt für Facebook und andere Soziale Netzwerke. Wir haben uns über diese Dinge unterhalten und die Medien haben sich in den letzten Tagen auch mit diesem Thema intensiv beschäftigt. Ich höre allerdings, dass auch jetzt wieder Namen des Tatverdächtigen, des jetzt Festgenommenen, im Internet kursieren. Ich weiß nicht, ob man nicht lernen will oder nicht lernen kann, wir haben gesagt, wir werden diese Dinge beobachten und werden sie auch konsequent verfolgen, wenn dort zu Straftaten aufgerufen wird oder wenn dort verleumdet wird. Das möchte ich an dieser Stelle noch mal klar und deutlich sagen.

Mit Dank auch an Jan J. und Matthias M.

Von Manga-Mord und Profi-Piraten

Im vergangenen November fand man in Leipzig in einem Fluss die zerstückelte Leiche eines jungen Mannes. Anfang Dezember konnte er als Jonathan H. identifiziert werden. “Bild” bastelte sich aus den Spuren, die Jonathan H. im Internet hinterlassen hatte, das Psychogramm einer “bizarren Welt” (BILDblog berichtete) und die “Dresdner Morgenpost” spekulierte über einen “Manga-Mord”.

Beide Zeitungen beschrieben das Leben des Getöteten (bzw. den Teil seines Lebens, der im Internet dokumentiert war) detailliert und zitierten Spekulationen von Nachbarn über die Intimsphäre des Toten. Illustriert waren die Artikel mit mehreren privaten Fotos. Eine Bekannte von Jonathan H. veröffentlichte auf BILDblog einen offenen Brief über die diffamierende Berichterstattung von “Bild” und “Morgenpost”, der größere Aufmerksamkeit erregte.

Vergangene Woche beschäftigte diese Berichterstattung auch den Deutschen Presserat: Der Beschwerdeausschuss sprach nicht-öffentliche Rügen gegen Bild.de (wo der “Bild”-Artikel ebenfalls erschienen war) und die “Dresdner Morgenpost” aus, da er in den Artikeln eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts nach Ziffer 8 des Pressekodex sah. Der Presserat habe im konkreten Fall “kein öffentliches Interesse” erkennen können, das das Persönlichkeitsrecht des Opfers überlagert hätte.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Die “Dresdner Morgenpost” kassierte außerdem auch noch eine öffentliche Rüge, weil sie auf der Titelseite und im Innenteil unter der Überschrift “Junge (17) warf sich vor Zug – tot” über den Suizid eines Teenagers berichtet hatte. Die “Morgenpost” schilderte die Selbsttötung ausführlich, spekulierte über das Motiv und beschrieb die Verletzungen des Jungen detailliert. Der Presserat sah durch diese Darstellungen die in Richtlinie 8.5 gebotene Zurückhaltung bei der Berichterstattung über Selbsttötung verletzt.

Eine nicht-öffentliche Rüge erhielt die “B.Z.” für die Berichterstattung über einen schweren Autounfall, bei der sie mit der Unfallschilderung auch ein Foto eines 32-jährigen Opfers gezeigt hatte, das die Redaktion ohne Einwilligung der Angehörigen aus einem sozialen Netzwerk kopiert und veröffentlicht hatte. Der Presserat betont, dass über Unfallopfer “im Hinblick auf den Schmerz der Hinterbliebenen besonders zurückhaltend berichtet werden” müsse. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der identifizierenden Berichterstattung sei auch hier nicht zu erkennen gewesen.

Hier saugen Profi-Piraten - So haben Polizei und Abmahner keine ChanceBemerkenswert ist die Titelgeschichte, für die das “PC Magazin” eine öffentliche Rüge erhielt: Unter der Überschrift “Quellen der Raubkopierer” und dem Hinweis “So haben Polizei und Abmahner keine Chance” beschäftigte sich der Artikel mit verschiedenen Möglichkeiten zum illegalen Download von Musik, Filmen und Software aus dem Internet. Dabei nannte die Redaktion konkrete Websites und bewertete in einer Tabelle u. a. das Risiko für den User bei Nutzung des jeweiligen Download-Dienstes. Der Presserat sah in dieser Veröffentlichung eine Verletzung des Ansehens der Presse: Es sei nicht mit der Ziffer 1 Pressekodex vereinbar, wenn eine Redaktion illegale Downloadmöglichkeiten beschreibe, durch deren Nutzung Urheberrechte verletzt werden. Im vergangenen Jahr hatte das NDR-Medienmagazin “Zapp” über die Tipps verschiedener Computerzeitschriften berichtet, die sich “ganz nah am Rande der Legalität” bewegten, das “PC Magazin” selbst war bereits 2006 in zwei ähnlichen Fällen gerügt worden.

Ebenfalls gerügt wurden die “Lünepost”, ein Anzeigenblatt der “Landeszeitung für die Lüneburger Heide” (wegen Verstoßes gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung), das “Deutsche Waffenjournal” (Diskriminierung), sowie die “Bunte” und der “Weserkurier” (beide Schleichwerbung).

“Bild” zeigt’s dem Suffraser

Das muss man auch erst einmal können: Sich auf die Straße hocken, wo gerade ein Unfall passiert ist und ein junger Mann tot auf dem Asphalt liegt, und ein Foto davon machen, wie der Vater sein Gesicht in der Hand des Jungen vergräbt und weint und um seinen Sohn trauert.

Das muss man auch erst einmal können. Das muss man auch erst einmal wollen.

Der Fotograf Tim Foltin kann das und will das. Auf seiner Internetseite steht:

ICH KANN WEIL ICH WILL WAS ICH MUSS

In seinem Portfolio zeigt er auch eindrucksvolle Fotos, die er von den Toten auf der Loveparade in Duisburg gemacht hat, wie sie im Müll liegen, ihre nackten Arme und Füße ragen unter den notdürftigen Abdeckungen heraus.

In der Nacht zum Samstag überfuhr ein alkoholisierter Autofahrer vor einer Discothek in Dinslaken zwei Fußgänger, die die Straße überquerten. Einer kam mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus, der andere verstarb noch am Unfallort. Hier machte Foltin das eingangs beschriebene Foto.

Foltin arbeitet für die “Bild”-Zeitung. Am nächsten Tag erschien die “Bild am Sonntag”:

Der Artikel liest sich, als zeige “Bild am Sonntag” das Foto aus pädagogischen Gründen. Als diene die Veröffentlichung nicht, die Schaulust zu befriedigen, sondern als könne sie helfen, die Zahl der Opfer von alkoholisierten Autofahrern zu reduzieren. Der Text endet mit den Worten:

Vielleicht wird der Totraser irgendwann dieses Foto sehen. Und mit ihm jeder, der immer wieder betrunken Auto fährt und damit das Leben anderer aufs Spiel setzt.

Vielleicht wollte “Bild” bloß ganz sicher gehen, dass der “Totraser und mit ihm jeder, der immer wieder betrunken Auto fährt” das Foto sieht, und hat es deshalb am Montag noch einmal gebracht:

Diesmal soll das Foto — ergänzt u.a. um eine Aufnahme, wie die eingepackte Leiche weggetragen wird — offenbar nicht nur andere aufrütteln, sondern auch Teil der Strafe für den Verursacher des Unfalls sein:

Schau her, Suffraser, das hast DU angerichtet! Vielleicht sehen dieses Foto auch andere Fahrer, die gerne mal ein Gläschen trinken — und lassen das Auto jetzt lieber stehen!

Ist das eine realistische Annahme? Ist das ein legitimes Anliegen?

Das sind ernst gemeinte, keine rhetorische Fragen. Aber dazu kommt die folgende: Ist das eine glaubwürdige Rechtfertigung für die Veröffentlichung, wenn sie von einem Blatt kommt, das regelmäßig beweist, dass ihm die Befriedigung niederer menschlicher Instinkte im Zweifel wichtiger sind als die Möglichkeit, Positives zu bewirken?

Und noch eine Frage: Wäre nicht trotzdem die Einwilligung der Familie des getöteten Jungen notwendig, die Zustimmung des Vaters, bevor man ihn in diesem intimsten Moment zeigt?

Wir haben Tim Foltin, den Fotografen gefragt, ob er eine Genehmigung hatte und ob er sie für notwendig hält. Seine Antwort:

Eine Einwilligung des Vaters habe ich nicht.

Sowas macht im Prinzip aber niemand bei Unfällen.

Wie aber da die genaue Rechtslage aussieht, weiß ich leider nicht.

Gedruckt wurde das Foto ja und von daher wird das so auch OK sein.

Die “Bild”-Zeitung teilte uns mit, sie äußere sich grundsätzlich nicht zu “Redaktionsinterna”.

Nachtrag, 23:45 Uhr. Foltins Homepage ist nicht mehr zugänglich. Und Bild.de hat seinen Namen unter dem Foto entfernt.

Nachtrag, 20. März. Jetzt ist Foltins Homepage wieder da — anscheinend auch in ihrer ursprünglichen Form.

Stern TV, TV Sünde, Blogs

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Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Bild nicht mehr ‘größte Tageszeitung Europas’: Britische Sun hat jetzt mehr Auflage”
(journalistiklehrbuch.wordpress.com, Klaus Meier)
“Sun” (2.751.219 Exemplare “average sale”) überholt “Bild” (2.702.206 Exemplare “verkaufte Auflage”): “es bleibt festzuhalten, dass die Aussage über die ‘größte Tageszeitung Europas’ künftig immer aktuell zu recherchieren ist und dass Lexikoneinträge umgeschrieben oder ergänzt werden sollten.”

2. “Im toten Winkel der Feuilletons”
(juedische-allgemeine.de, Thierry Chervel)
Thierry Chervel fragt, warum in den deutschen Feuilletons kaum über die Neonazimorde diskutiert wurde: “Es könnte an mangelnder Empathie mit den Opfern liegen. Anders als Breiviks Tat zielten die Morde der Zwickauer Nazis nicht auf eine Institution dieser Gesellschaft, sondern auf die ‘anderen’.”

3. “Farewell to Sin: Das Ende der ‘TV Sünde'”
(wortvogel.de, Torsten Dewi)
Torsten Dewi verabschiedet die Fernsehzeitschrift “TV Sünde” aus dem Gong Verlag.

4. “1000 Mal auf dem Boulevard”
(berliner-zeitung.de, Michael G. Meyer)
Stern TV feiert die 1000. Sendung: “Auch die tausendste Sendung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die allermeisten Geschichten biederster Boulevard waren: Familien mit adoptierten Kindern aus aller Welt und Emotionen, die aus der Tränendrüse kommen, sorgten für gute Quoten. Der Mainstream regiert – kaum eine Geschichte ragt aus dem Tal der Tränen und Träume heraus.”

5. “Und was machten die Blogs im Jahre 2011?”
(maingold.com, Marius Kiesgen)
Marius Kiesgen wirft “einen völlig subjektiven Blick auf das WWW und seine deutschsprachigen Blogs”. “Wenn man die Wortmeldungen der selbst ernannten Netzpolitiker kontinuierlich verfolgt, dann kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass das Urheberrecht der Menschheit mit Abstand größte Geisel wäre. Für die Luxusblogger aus geordneten Verhältnissen, die ihre Ärsche im Wohnzimmer an High Speed DSL Modems und überteuerter Apple Hardware wärmen, mag das sogar der Fall sein.”

6. “Gala” vs. “In”
(facebook.com, Foto)
“Bei den People-Magazinen scheint man sich absolut sicher zu sein, wie es um Jennifer Anistons Liebesglück bestellt ist.”

Stern  etc.

Die Bilderhändler von Winnenden

Nach dem Amoklauf von Winnenden hatte der örtliche Schulfotograf plötzlich etwas, das alle wollten: Fotos von Täter und Opfern. Zuerst verbreiteten viele Medien die Aufnahmen ohne seine Genehmigung. Dann suchte er sich Partner und machte ein Geschäft daraus. Nun erschienen die Fotos mit seiner Einwilligung und brachten ihm Geld. Nur die Angehörigen der Opfer wurden weiterhin nicht gefragt.

Sechs Eltern von getöteten Kindern erstatteten daraufhin Anzeige gegen die Bilderhändler. Die Beschuldigten erhielten zunächst einen Strafbefehl, gegen den sie Widerspruch einlegten. Gestern hat das Amtsgericht Schorndorf das Verfahren gegen die Zahlung von 5700 Euro an den Förderverein der Albertville-Realschule eingestellt.

Die “Winnender Zeitung” berichtet ausführlich über das Verfahren und seine Vorgeschichte:

Eine besonders traurige Rolle spielt in dem Fall die Hamburger Illustrierte “Stern”. Sie hatte laut “Winnender Zeitung” mit dem Anwalt des Fotografen sogar für eine begrenzte Zeit einen Exklusivvertrag für alle Schulfotos abgeschlossen. Als verzweifelte Eltern eines der ermordeten Mädchens wissen wollten, wie ein privates Foto ihrer Tochter unter anderem in den “Stern” gelangen konnte, mauerte das Blatt und verweigerte die Auskunft. Auf Nachfrage des NDR-Magazins “Panorama”, woher die vom “Stern” gezeigten Bilder der Opfer stammen, ob die Angehörigen ihrer Veröffentlichung zugestimmt haben und wenn nein, warum man sie trotzdem zeigte, hatte der “Stern” damals lapidar geantwortet:

“Zu Redaktions-Interna erteilen wir keine Auskunft.”

Bild  

Quelle: Andere Zeitung

Wenn “Bild” Fotos von Opfern oder Tätern druckt, kommt oft die Frage auf, woher sie das jetzt wieder haben. Manchmal lautet die Antwort schlicht “aus dem Internet”, manchmal lässt sie sich einigermaßen klar mit “aus Polizeikreisen” umreißen und manchmal — ja, manchmal bedient sich “Bild” auch einfach bei anderen Medien.

Ein sogenanntes Trennungsdrama bebilderte die Zeitung gestern mit dem großformatigen, unverfremdeten Foto eines Polizisten, der erst seine Tochter und anschließend sich selbst erschossen hatte:

Polizist erschießt Tochter (8) mit Dienstpistole

Es ist nicht so, dass “Bild” verschwiegen hätte, woher dieses Foto kam:

Foto: Trierischer Volksfreund

Nur der Weg, wie es zu “Bild” kam, ist ein steiler: “Bild” hatte das Foto, das vor einiger Zeit bei einer anderen Gelegenheit entstanden war, auf der Internetseite des “Trierischen Volksfreund” entdeckt und beim Fotografen nachgefragt, ob sie es verwenden dürfte. Die Redaktion des “Volksfreund” erklärte uns gegenüber, sie habe dies abgelehnt, was “Bild” am Telefon zunächst auch akzeptiert habe. Das Foto erschien am Montag trotzdem in “Bild”.

Der “Volksfreund” wies heute am Rande eines Artikels über den Fall auf das Vergehen von “Bild” hin:

Die Bildzeitung hatte den Fall des Trierer Kommissars groß aufgemacht und dabei ein bei anderer Gelegenheit entstandenes Bild des Täters aus volksfreund.de verwendet – widerrechtlich und ohne Genehmigung des TV.

Die Chefredaktion des “Volksfreund” erklärte uns auf Anfrage, dies sei nicht das erste Mal, dass sich “Bild” oder andere Boulevardmedien auf diese Weise Fotos beschafft hätten. Die Zeitung werde daher juristisch gegen “Bild” vorgehen.

Sie wird sich dabei auf das sogenannte Urheberrecht berufen, auf das die Axel Springer AG, die “Bild” herausgibt, sonst so viel Wert legt.

Mit Dank an Lars W.

Jonathan H. und die Geier

Im November fand man in Leipzig in einem Fluss die zerstückelte Leiche eines jungen Mannes. Am vergangenen Freitag konnte er als Jonathan H. identifiziert werden.

Und weil Jonathan H. in seinem Leben Spuren im Internet hinterlassen hat, ist der Fall für die Presse klar: Die “Dresdner Morgenpost” glaubt an einen “Manga-Mord”, und anders noch als am Samstag auf der Titelseite (Ausriss oben rechts) benutzt sie das Wort inzwischen auch ohne Fragezeichen. Und die “Bild”-Zeitung braucht nur zwei Sätze, um Leben und Sterben von Jonathan H. zu charakterisieren:

Er trug Frauenkleider, lackierte sich die Fingernägel schwarz und empfing fremde Männer. Bis man seine zerstückelte Leiche aus dem Elsterbecken zog.

Sie haben sich großzügig bedient, bei den Fotos, die sie von Jonathan H. gefunden haben. Sie haben sie ebenso großzügig und ohne Rücksicht auf Verluste interpretiert und Jonathan gleich noch einmal auf eine andere Art zu einem Opfer gemacht.

Nicole B. hat Jonathan gekannt. Sie hat gezögert, den Lügen und Zumutungen von “Bild” und “Morgenpost” öffentlich zu widersprechen, weil sie Angst hat, dass deren Leute sich daraus wieder Dinge herauspicken und nach Belieben verdrehen werden. Sie will dem Ruf ihres ermordeten Freundes nicht noch weiter durch Abfalljournalismus schaden.

Aber sie möchte auch nicht schweigen. Mit ihrer Genehmigung veröffentlichen wir ihren Offenen Brief:

Ich weiß, dass die Ursache dieses Briefs für journalistische Verhältnisse weit zurück liegt. Es fiel mir jedoch ungeheuer schwer, die passenden Worte zu finden. Ich sehe aber — außer rechtlichen Schritten — keine andere Möglichkeit, den geschmacklosen Äußerungen und Berichten zu widersprechen.

Es geht um den Mord an Jonathan H., einen Freund. Jemand, der da war, wenn man ihn brauchte. Jemand, der stets sagte: “Das kriegen wir schon wieder hin!”, wenn man selbst nicht mehr daran glaubte. Jemand, der sich kümmerte und sorgte und immer aushalf, wenn es nötig war. Jemand, mit dem man über Gott und die Welt reden konnte und dessen Lächeln seit dem 6. November auf ewig fehlen wird.

Ein Mensch, in dessen Gesicht die Emotion “Wut” nicht passt und der sich wohl eher zurückzog, wenn man ihn kränkte.

Es ist schon schmerzlich genug, dass man uns einen derartigen Freund auf grausame Art und Weise nahm. Doch die “Bild”, “Morgenpost” und andere sind wie Geier, die auch noch das letzte, was von ihm blieb, vor unseren Augen zerstückeln!

Er war — wie viele andere – Anime- und Mangafan. Er war kein Cosplayer. Er bewunderte zwar die Ergebnisse der Cosplayer, jedoch wie viele traute er sich selbst die komplizierte, teure und aufwändige Fertigung eines Kostüms wahrscheinlich nicht zu. Seine Interessen lagen ohnehin wesentlich stärker in Informatik, darüber konnte er stundenlang reden und es auch noch sehr anschaulich erklären.

Entgegen der Berichterstattung war Jonathan auch kein Zeichner. Er hat hin und wieder — aus Interesse — den Stift in die Hand genommen und es sich von denen, die ihre Freizeit mit Zeichnen verbringen, erklären lassen.

Jonathan war auch kein Eigenbrötler — im Gegenteil! Er war stets der erste, der vorschlug, sich mal wieder zu treffen, wenn man sich nach langer Zeit wiedersah. Er war auch immer derjenige, der sich die Zeit für die Treffen nahm und auch immer erschien, wenn man sich traf. Er war ein bekanntes Gesicht, auch bei denen, die nicht viel mit ihm zu tun hatten.

Und ich möchte eines auf jeden Fall und mit Nachdruck klarstellen: Er war auch kein homosexueller Transvestit, der sich prostituierte, wie die “Bild” und ihre Ableger glauben machen möchten!

Dieses eine Foto, auf dem er als Cosplayer dargestellt wird, hat die “Bild” nicht nur unrechtmäßig von der Community genommen und verwendet. Es war auch noch als Scherz gedacht. Es war ein Spaß für alle Außenstehenden und wie man an den Kommentaren der Fotos von Jonathan erkennen kann, fand er es auch witzig.

Cosplay ist eine Abkürzung von “Costume Play”, jedoch wurde — auch wenn das Wort aus dem Englischen stammt — dieser Begriff von den Japanern geprägt, wo Cosplay eine lange Tradition hat. Beim Cosplayen geht es nicht um irgendwelche abstrusen Rollenspiele, auch wenn der Begriff “In Character” (sich wie der Charakter, den man darstellt, verhalten) von vielen betont wird. Dies gilt nur für die Auftritte vor Publikum und Jury.

Beim Cosplay geht es um den Spaß, den man während des Fertigens hat. Der Weg ist das Ziel, dementsprechend stark richtet sich Cosplay auf kreative Problembewältigung, Planung und handwerkliches Geschick aus. Das Ziel ist, mit einem begrenzten Budget dem Original so nah wie möglich zu kommen. Das Tragen des Endprodukts ist nur die “Creme auf der Torte”.

Jonathan war verträumt, aber begeisterungsfähig, kontaktfreudig, rücksichtsvoll, hochintelligent und einfach ein Visionär. Er war stets optimistisch und ihm war zuzutrauen, dass er die Welt verändern konnte, mit all den genialen Ideen, die ihm scheinbar aus dem Nichts zuflogen. Oftmals während des Sprechens über ein Problem, mitten im Satz, weswegen er das Weiterreden als überflüssig ansah, den begonnenen Satz zu beenden, um sich anderen, neuen Problemen zuzuwenden.

Er war auf jedem Treffen dabei und entgegen der angeblichen Aussage seiner Nachbarn sehr gern und oft unter Menschen, bei denen er sich wohlfühlte: uns. Ist es nicht normal, wenn man unter Freunden offener und zugänglicher ist als unter Fremden? Ist man deswegen ein Sonderling und Eigenbrötler??

Er war ein normaler Mensch mit einem normalen Hobby.

Ich kann einfach nicht verstehen, wieso man einen liebenswerten Menschen derartig diffamieren kann, nur, weil sein Hobby außergewöhnlich erscheint. Jonathan oder Angehörige der Anime- und Mangaszene werden nicht nur als “bizarr” bezeichnet und abgewertet. Es werden auch haarsträubende Vermutungen angestellt, wie zum Beispiel, dass Cosplay erotische Rollenspiele wären, wie die “Bild” und “Morgenpost” fälschlicherweise angeben.

Wäre es denn normaler, wenn er sich Nacht für Nacht in irgendwelchen Clubs zugesoffen hätte? Wäre das gesellschaftlich akzeptabler als eine kreative Freizeitbeschäftigung wie Zeichnen, Schneidern und Basteln? Wird Zeichnen, Schneidern und Basteln eine andere Tätigkeit, nur weil man nebenbei beispielsweise “Lady Oscar” im Fernseher schaut oder “Wish” liest?

Sind Anime- und Mangafans weniger zuverlässige, verantwortungsbewusste und engagierte Schüler, Studenten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber als Menschen mit “normalen” Hobbies?

Die Antwort ist klar und deutlich “Nein”, und wenn irgendwer oder irgendeine Institution darüber urteilt, so urteilt sie in einer Art und Weise, die nicht nur die Persönlichkeit eines Menschen wie Jonathan missachtet und in den Schmutz zieht, sondern einem Mordopfer auch noch die Schuld an seinem brutalen und grausamen Mord gibt.

Jonathans Mörder hat ihm nicht nur das Leben genommen, sondern auch seine Identität gestohlen, indem er ihn zerstückelte und wie Müll entsorgte. Ich verwende bewusst diese emotionale Metapher, da der (oder die) Täter in meinen Augen nichts anderes als eben das getan hat (haben). Auch fällt es mir, als eine von Jonathans Freunden schwer, mich gefühlsmäßig von seinem schrecklichen Tod zu distanzieren.

Umso mehr schockt es mich, dass Medien wie “Bild” und “Morgenpost” derartig diffamierende Berichterstattung über Jonathan betreiben.

Warum wird ein aufrichtiger und lieber Mensch wie er wegen eines “Partygags” verurteilt und in den Schmutz gezogen? Reicht es nicht, dass er ermordet und zerstückelt wurde? Reicht es nicht, dass im Kreis seiner Freunde eine große Lücke klafft, die niemals wieder gefüllt werden kann? Genügt es nicht, dass wir nur noch trauern können? Dass wir nichts haben, außer der Hoffnung, der oder die Mörder möge/n gefunden werden?

Wie krank ist die Redaktion der “Bild” und ihrer Ableger, ein Mordopfer derartig zu diffamieren und den Lesern zu vermitteln, es wäre an seinem eigenen Tod Schuld?! Es starb ein Freund, ein Sohn, ein Mensch! Und für Verkaufszahlen, Geld und Auflagengeilheit wird sein Name besudelt?

Nicole B.

Bild  

Angels deserve to die

Wenn “Bild” in großer Aufmachung die “kranke”, “irre” oder “bizarre” Welt irgendeiner Person darstellt, so handelt es sich meist um mühsam zusammengetragene Null-Informationen aus dem Leben eines Verbrechers — etwa die “kranke Welt des Killers” oder die “irre Welt des Taxi-Entführers”.

In einem aktuellen Mordfall in Leipzig hat die Polizei noch keinen Täter ermitteln können, den “Bild” großflächig porträtieren konnte. Aber in Zeiten des Internets ist das kein Problem, so dass “Bild” am Montag einfach die “bizarre Welt” des Opfers zeigen konnte:

Er trug Frauenkleider, lackierte sich die Fingernägel schwarz und empfing fremde Männer. Bis man seine zerstückelte Leiche aus dem Elsterbecken zog. Die bizarre Welt des Jonathan H. (†23)
Schon die Dachzeile, die auch aus einem 35 bis 60 Jahre alten “Bild”-Artikel stammen könnte, ist geeignet, dem geneigten Leser den Ausruf “Selbst schuld!” auf die Zunge zu legen, ohne diesen Gedanken explizit formulieren zu müssen:

Er trug Frauenkleider, lackierte sich die Fingernägel schwarz und empfing fremde Männer. Bis man seine zerstückelte Leiche aus dem Elsterbecken zog.

Die drei Fotos des Opfers, die “Bild” unverfremdet zeigt, sind natürlich “privat” — sie stammen alle aus dem Online-Forum einer Anime- und Manga-Community und wir wären ehrlich gesagt überrascht, wenn “Bild” die Fotografen vorher um Erlaubnis gebeten oder ihnen ein Honorar gezahlt hätte. Aber es sind ja auch ganz wunderbar … äh: “bizarre” Motive, die dem Leser nicht vorenthalten werden sollen und die zu Einleitungen wie dieser einladen:

Der Junge mit den Engelsflügeln – er wurde das Opfer eines bestialischen Killers.

Nun hat der “Junge mit den Engelsflügeln” überhaupt keine Engelsflügel: Wenn man das Originalfoto aus dem Manga-Forum nicht (wie “Bild”) an den Rändern beschneidet, sieht man nämlich ganz gut, dass der “Junge” vor einem Plakat mit Engelsflügeln steht:

“Bild” fragt:

Wer war der Tote, der sich in Frauenkleidern fotografieren ließ und seine Fingernägel schwarz lackierte?

Natürlich kennt die Zeitung die Antwort selbst nicht, aber die “Bild”-Reporter Bernhard Nathke, sonst Fotograf für Klickstrecken wie “Zwei Männer in Auto verbrannt” oder “Nissan Fahrer rast in Stauende und stirbt”, und Johannes Proft, der auch gerne mal mit Menschenknochen im Internet posiert, haben sich offensichtlich viel Mühe gegeben, ein “bizarres” Gesamtbild zusammen zu puzzeln. Sie zitieren “eine ehemalige Bekannte” und “Nachbarn” und malen so das Bild eines “ängstlichen Eigenbrötlers”, der von Hartz IV lebt und “in eine Phantasiewelt” abgetaucht sei (“Gefesselt von japanischen Manga-Comics und Rollenspielen”).

Diese “Phantasiewelt” ist natürlich ein Boulevard-Thema, das die “Bild”-Reporter wunderbar ausschlachten können. Zwar hält die schon genannte Online-Community nicht viele Informationen bereit, dafür aber einige Fotos des Ermordeten. Und weil er so unvorsichtig war, sich zumindest bei einer Gelegenheit mal in Frauenkleidern fotografieren zu lassen, und er wenigstens auf einem anderen, fünf Jahre alten Foto mit schwarz lackierten Fingernägeln zu sehen ist, ist er für “Bild” jetzt “der Tote, der sich in Frauenkleidern fotografieren ließ und seine Fingernägel schwarz lackierte”.

In einer Art Serviceteil beantwortet “Bild” die Frage “Manga & Cosplay — Was ist das eigentlich?”. Nach ein paar sachlichen Informationsbrockenen schwenkt “Bild” zum Ende wieder auf die bekannte Linie:

Auch sexuelle Rollenspiel-Varianten sind bekannt, aber eher selten.

Offenbar nicht zu selten, um auf die vermeintlich anrüchige Information zu verzichten.

Dazu passt auch diese Information, die “Bild” von “Nachbarn” erfahren haben will:

Homosexuell, mit ständig wechselnden Männerbekanntschaften.

Wie sehr sich “Bild” in die Theorie irgendeines perversen Milieu-Mordes verbissen hat, zeigt sich in einem Artikel vom Samstag, bei dem die Geilheit des Autors geradezu aus den Zeilen trieft:

Nach BILD-Informationen wird derzeit jedoch besonders intensiv geprüft, ob das Opfer im homosexuellen Milieu aktiv war, möglicherweise sogar seinen Körper an Freier verkaufte. Der Staatsanwalt, der alle anderen Thesen klar abwies, bleibt bei dieser vorsichtig: “Das möchte ich weder bestätigen noch dementieren.”

Sollte sich dieser Verdacht erhärten und der Täter bald gefasst werden, kann “Bild” in Kürze schon wieder mit dem Porträt irgendeiner “kranken” oder “irren” Welt aufwarten.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

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