Suchergebnisse für ‘focus’

“Asylkritiker”, Ferrari-Werbung, mit 10 Franken durch die Schweiz

1. “Asylkritiker” oder “Rassist”? Die Suche nach den richtigen Worten
(sz-online.de, Julia Kilian)
Wenn man über die deutsche Flüchtlingsproblematik … Nein, da fängt es schon an: Wenn man über die deutsche Debatte über den Umgang mit Geflüchteten schreibt, ist es wichtig, seine Worte mit Bedacht zu wählen. Zuerst warnte David Hugendick vor dem Euphemismus “Asylkritiker”, daraufhin reagierte die dpa und kündigte an, künftig auf solche verharmlosenden Begriffe zu verzichten. Das veranlasste Julia Kilian, Sprachwissenschaftler zu Ausdrücken wie “Asylgegner”, “Asylanten” oder “Wirtschaftsflüchtlinge” zu befragen. Noch einen Schritt weiter geht Sascha Lobo, der fordert: “Nennt sie endlich Terroristen!”

2. Attacken gegen Flüchtlinge: Terror in Deutschland
(spiegel.de, Maximilian Popp)
Mehr als 200 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im ersten Halbjahr 2015 — und Politiker und Journalisten haben eine Mitverantwortung, meint Maximilian Popp. Er wirft etwa dem “Focus” vor, populistisch Stimmung gegen “falsche Flüchtlinge” zu machen, nimmt seinen Arbeitgeber aber nicht aus: “DER SPIEGEL hat in den Neunzigerjahren den Populismus, den er heute zu Recht beklagt, mit Titeln wie ‘Zu viele Ausländer?’ selbst befeuert.” Auch Kai Budler übt im Störungsmelder-Blog Medienkritik: “Und auch die Medien haben in den vergangenen 20 Jahren offenbar nichts gelernt, denn wieder einmal hantieren sie mit Angstmetaphern wie dem ‘Das Boot ist voll’-Bild.” Und Tagesschau-Chefredakteur Kai Gniffke appelliert, den Ressentiments Fakten entgegenzusetzen und Menschen zu portraitieren, die sich für Flüchtlinge engagieren.

3. Talkshow-Kritik: Völlige Einseitigkeit und ein nationaler Wir-Diskurs
(heise.de, Marcus Klöckner)
Die Medienwissenschaftler Matthias Thiele und Rainer Vowe haben die zahlreichen Griechenland-Runden der politischen Talkshows im deutschen Fernsehen untersucht. Die Sendungen seien “vor allem von Polemiken, Ressentiments und einer arroganten Haltung gegenüber der neuen griechischen Regierung und den Griechen dominiert” gewesen, erzählt Thiele im Interview. Fast durchgehend sei “mit der symbolischen Frontstellung von ‘Wir’ versus ‘die Anderen'” operiert worden.

4. Wofür das “F” in “FAZ” steht
(stefan-niggemeier.de, Boris Rosenkranz)
Auf der Internetseite der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” erschien in dieser Woche ein Video, in dem ein “FAZ”-Redakteur den Formel-1-Piloten Sebastian Vettel interviewt. Dabei sitzen die beiden in einem Ferrari, machen eine Spritztour mit dem Ferrari, tragen Mützen von Ferrari, sprechen über Ferrari, und produziert wurde das Ganze — von Ferrari. Nach der Kritik von Boris Rosenkranz nahm faz.net den Werbeclip offline.

5. Chronistenpflicht, Chronistenkür
(wortvogel.de, Torsten Dewi)
Eigentlich wollte Torsten Dewi die alte, dicke “Chronik des 20. Jahrhunderts” in einer Bücherkiste vor dem eigenen Haus verschenken, machte sie dann aber doch zu seiner “Frühstücks/Badezimmer/Bett-Lektüre”:

Und tatsächlich: Das Buch hat auch im Zeitalter von Wikipedia und YouTube seine Existenzberechtigung. Weil es strikt chronologisch vorgeht, Entwicklungen nachvollziehbar macht, Kontext liefert. Information nicht punktuell und im luftleeren Raum, sondern als Bestandteil eines riesigen Puzzles aus Kultur, Politik, Natur und Wissenschaft.

Beim Blättern stößt Dewi beispielsweise auf eine ihm bisher unbekannte und völlig desaströse ARD-Fernsehshow zum Geburtstag des Automobils, die der damalige Daimler-Benz-Chef höchstpersönlich abbrechen ließ.

6. Die Grand Tour of Switzerland mit 10 Franken in 10 Tagen
(herrfischer.net, Tin Fischer)
Tin Fischer wurde zu einer Pressereise durch die Schweiz eingeladen, mit luxuriöser Unterkunft, einem eigenen Auto und “geballter Spitzenkulinarik”. Stattdessen erkundet der Journalist nun alleine die Strecke der Reise. Mit nur 10 Franken und der Hoffnung, auf hilfsbereite Menschen zu treffen.

Und noch ein anderes Journalisten-Projekt aus der Schweiz: Unser lieber Kollege und Ex-6-vor-9-Kurator Ronnie Grob will ebenfalls auf Tour gehen und für das Projekt “Nach Bern!” sechs Wochen lang den Schweizer Wahlkampf beobachten. Dafür sucht er noch finanzielle Unterstützung.

Das “Kollaps”-Drama von Bayreuth: Merkel fällt vom Stuhl

Sie müssen sich sehr beeilt haben bei der “Bild am Sonntag”. So schafften sie es noch, die dramatische Meldung vom späten Samstagabend in einem Teil ihrer Auflage unterzubringen:

Das Drama in Bayreuth spielte sich in diesem Jahr nicht nur auf der Bühne ab. Nach Informationen von bild.de erlitt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei den Bayreuther Festspielen einen Kollaps!

(…) Um 16 Uhr beginnt “Tristan und Isolde”. Gegen 17.20 Uhr ist der erste Akt zu Ende. Während der Kaffeepause fällt die Kanzlerin in Ohnmacht, rutscht von ihrem Stuhl. Zwei Minuten soll es gedauert haben, bis Merkel wieder auf die Beine kommt. Die Menschen an ihrem Tisch kümmern sich um sie. Unter anderen Bundestagspräsident Norbert Lammert und Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

Offenbar war es ein ähnlicher Kollaps wie beim CDU-Parteitag in Köln, damals ging man von Stress und Dehydrierung aus. Auch diesmal zeigte Merkel Nehmer-Qualitäten, ließ sich den Empfang nach der Aufführung nicht nehmen!

Um 22:59 Uhr hatte Bild.de das unter der Überschrift “Schock in Bayreuth: Angela Merkel – Kollaps!” gemeldet.

Keine halbe Stunde später alarmiert eine Reihe von Online-Medien seine Leser mit Eilmeldungen. “Festspiele in Bayreuth: Merkel offenbar kurzzeitig kollabiert”, berichtet “Spiegel Online”. “Kollaps während der Pause – Schock in Bayreuth: Angela Merkel bricht zusammen”, tickert “Focus Online”. “Zusammenbruch! Sorge um die Kanzlerin”, schreibt Bunte.de.

Um 0:23 Uhr verbreitet die Nachrichtenagentur AFP die “Bild”-Meldung:

“Bild”: Merkel bei Wagner-Festspielen kurzzeitig in Ohnmacht gefallen
– Kanzlerin offenbar schnell wieder auf den Beinen

Berlin (AFP) – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth laut einem Medienbericht einen Kollaps erlitten. Die 61-Jährige sei am Samstag während der ersten Pause der Oper “Tristan und Isolde” in Ohnmacht gefallen und vom Stuhl gerutscht, berichtete das Nachrichtenportal “Bild Online”. (…)

Eineinhalb Stunden später rudert AFP zurück:

Regierungssprecher: Merkel bei Wagner-Festspielen nicht kollabiert – Kein Schwächefall – Stuhl der Kanzlerin brach zusammen

Berlin (AFP) – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Eröffnung der Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth am Samstag trotz eines Zwischenfalls in der Pause unbeschadet überstanden. Merkel habe keinen Schwächeanfall erlitten, lediglich der Stuhl der Kanzlerin sei zusammengebrochen, sagte Vize-Regierungssprecher Georg Streiter der Nachrichtenagentur AFP.

Er dementierte damit einen Bericht des Nachrichtenportals “Bild Online”, wonach die 61-Jährige während der ersten Pause der Oper “Tristan und Isolde” kurzzeitig in Ohnmacht gefallen und vom Stuhl gerutscht sei.

Auch die Agentur dpa, die die “Bild”-Behauptung, anders als AFP und viele Online-Medien, nicht ungeprüft verbreitet hatte, vermeldet gegen zwei Uhr früh das Dementi.

Nutzer von “Focus Online” bekommen bald darauf erneut eine “Eilmeldung”: “Nicht Merkel brach zusammen, sondern ihr Stuhl”. Online-Medien löschen ihre alten Meldungen, korrigieren sie eilig oder fügen nur am Ende noch einen kleinen Absatz an.

Und bei Bild.de steht an der Stelle, an der gerade noch über den dramatischen “Kollaps” der Kanzlerin berichtet wurde, nun ein Stück über eine “Panne bei Bild.de”, nee: “bei Festspielen in Bayreuth: “Weshalb Angela Merkel mit ihrem Stuhl zusammenbrach”:

Zunächst hatte es geheißen, die Bundeskanzlerin habe einen Schwächeanfall gehabt und sei kollabiert. Lokale Medien und auch BILD hatten darüber berichtet.

Na sowas: Als “Bild” noch an die Richtigkeit der eigenen Geschichte glaubte, war von anderen, “lokalen Medien” als Quelle noch nicht die Rede gewesen.

PS: In einem großen Artikel über die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Presse hatte die “Bild am Sonntag” zum Tag der Pressefreiheit vor zwei Monaten übrigens erklärt:

Viele Medien, wie auch BILD am SONNTAG, haben zudem einige praktische Regeln für ihre Arbeit. Dazu gehört zum Beispiel das Zwei-Quellen-Prinzip. Das bedeutet: Es genügt nicht, eine Information zu bekommen, sie kann erst verwendet werden, wenn sie durch mindestens eine zweite Quelle bestätigt wurde.

Nachtrag, 12:25 Uhr. “Bild am Sonntag”-Chefredakteurin Marion Horn schreibt auf Twitter, es habe zwei Quellen für den Merkel-Kollaps gegeben, “nicht unbekannte Menschen, die dort waren”.

Florida-Rolf, Selbstinszenierung, Smoothies gegen Wagner

1. „Die ‘zweite Erde‘ die schon wieder mal keine zweite Erde ist!“
(scienceblogs.de, Florian Freistetter)
Die Nasa gab gestern die Entdeckung des „first near-Earth-size“ Planeten Kepler-452b bekannt. Es handele sich dabei „um eine sogenannte Supererde und keinen erdähnlichen Planeten“, schreibt Florian Freistetter, auch wenn Webseiten wie „Focus Online“ anderes berichten. Freistetter, der seit Jahren auf scienceblog.de Fälle von angeblichen Erd-Entdeckungen dokumentiert, sagt, dass die heutigen Teleskope noch nicht so weit seien:

Wir werden die zweite Erde schon noch finden. Wenn die Erde kein Einzelfall ist und dort draußen noch andere Himmelskörper mit entsprechenden Umweltbedingungen vorhanden sind, dann werden wir sie in den nächsten 20 Jahren entdecken. Aber jetzt geht das eben noch nicht.

2. „Ich will nicht immer alles als Risiko sehen”
(horizont.net, Roland Pimpl)
Soziale Netzwerke wie Facebook, aber auch Google, Apple oder Online-Kioske wie „Blendle“ besetzten weiter klassische Verlagsaufgaben. Stefan Plöchinger, Digital-Chef der „Süddeutschen Zeitung”, sieht in der Zusammenarbeit mit den neuen Vertrieblern journalistischer Inhalte „größere Chancen“. Doch die relevanteste Frage bleibt für ihn, „wie der Journalismus (…) – unabhängig, investigativ, tief und kenntnisreich – den digitalen Medienbruch überleben kann“.

3. „Warum unsere Gesellschaft die Armen verachtet“
(sebastian-doerfler.de, Sebastian, Audio, 58:29 Minuten)
„Florida-Rolf“, „Fetti“ oder „Assi“ – in einem „BR”-Radiofeature gehen Sebastian Dörfler und Julia Fritzsche der Frage nach, woher die Bilder vom „faulen Arbeitslosen” und „faulen Griechen” kommen. „Es ist eine kleine Ideologiekritik zum laufenden Sozialstaatsabbau geworden, mit allerhand Beispielen aus Funk, Fernsehen und Politik“, schreibt Dörfler in seinem Blog.

4. „Datenschutz? Ist mir doch egal!“
(eaid-berlin.de, Peter Schaar)
Peter Schaar, ehemaliger Bundesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit, mahnt: „Die meisten datengetriebenen Geschäftsmodelle gleichen einem venezianischen Spiegel, der nur einseitig durchsichtig ist.“ Mit Blick auf die Nachlässigkeit beim Datenschutz sei zu befürchten, „dass wir unsere Ignoranz teuer bezahlen müssen.“

5. „Es ist in Ordnung, dass wir uns online selbst inszenieren“
(blog.neon.de, Angela Gruber)
„Auch mit einem Beme-Video wollen Nutzer Aufmerksamkeit und Zuspruch von anderen“, schreibt Angela Gruber. Die neue Video-App sei im Kern eine weitere Möglichkeit der Selbstdarstellung. Und das Internet brauche egozentrische User, die den Anspruch hätten, ihre online geteilten Inhalte zu inszenieren.

6. „Mit Smoothies gegen Franz Josef Wagner“
(meedia.de)
„Bild“-Kolumnist Franz Josef Wagner meint zu wissen, warum „wir“ jedes Jahr „um 200 000 Menschen ärmer“ werden. Schuld seien Smoothie-trinkende Frauen. „Meedia“ sammelt Reaktionen dazu aus dem Netz. Siehe auch: „11 Beweise, dass berufstätige Frauen Deutschland ruinieren“ (buzzfeed.com, Juliane Leopold).

FIFA, Insel-Märchen, Robo-Reporter

1. „Das Märchen von der Buffett-Insel“ 
(capital.de, Christian Kirchner)
Am Wochenende machte eine Falschmeldung die Runde: Der Milliardär Warren Buffett soll eine griechische Insel für 15 Millionen Euro erworben haben. Der angebliche Kauf löste internationale Empörung aus. Diese Meldung wurde unter anderem von Bild.de, „Spiegel Online“ (Klarstellung) und manager-magazin.de (Klarstellung) verbreitet. Christian Kirchner mahnt deshalb:

Der Fall zeigt aber, dass eine verbale Abrüstung Not tut, weil derartige Meldungen wie der Kauf einer Insel durch einen US-Großinvestor Ressentiments schüren und entscheidend zur Meinungsbildung in Sachen Griechenlandkrise beitragen. Das erfordert entsprechende Vorsicht (…).

2. „Die Schreib-Maschinen“
(brandeins.de, Lars Jensen)
Lars Jensen besucht die Agentur „Associated Press“ und die Erfinder des Schreibroboters „Wordsmith“. Beide Unternehmen zeigen sich zufrieden mit der Arbeit, die die „Robo-Reporter” leisten, auch wenn Autor Lars Jensen anmerkt, die Meldungen läsen sich, „als hätte sie ein leicht gelangweilter Redakteur geschrieben“. Angst müssten Journalisten aber keine haben, sagt Robbie Allen, Gründer von „Wordsmith“, denn: „Eine Filmkritik oder einen Kommentar zu Obamacare kann kein Algorithmus schreiben.“

3. „Wir müssen lernen, den Shitstorm zu lesen”
(meedia.de, Christoph Driessen)
„In einem kollektiven Empörungssturm können sich große gesellschaftliche Fragen zeigen”, sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Interview. Er schlägt vor, einen Shitstorm als gesellschaftliche Komponente und nicht als Kampfbegriff zu betrachten. Es ließen sich daraus gar Wertkonzepte aufzeigen.

4. „That FIFA Movie Really Was As Much Of A Bomb As You Heard“
(fivethirtyeight.com, David Goldenberg, englisch)
David Goldenberg entlarvt den 27 Millionen Dollar teuren FIFA-Film „United Passions” als großen Flop in den USA. Bis in die deutschen Kinos schaffte es der Streifen nicht. Hauptdarsteller Tim Roth, der den FIFA-Boss Joseph Blatter spielt, schäme sich heute für den Film.

5. „Warum machst du es dir so schwer?“
(girlsguidetoblogging.de, Sandra)
Sandra Konrad gibt drei Tipps, die den Einstieg ins Blogger-Dasein erleichtern und sich zum Teil auch Journalisten zu Herzen nehmen können: „Du wirst es nie allen recht machen können. Das ist einfach so. Punkt! Das Gute daran: Du musst es auch nicht.“

6. „Was ich sehe, wenn ich versehentlich auf der Startseite vom FOCUS lande“
(torbenfriedrich.de)

Medien spielen mit Schäubles Rücktritt

Heute große Aufregung in den Politikredaktionen:


(Bild.de)

(rp-online.de)

(t-online.de)

(manager-magazin.de)

(„Focus Online“)

(„Huffington Post“)

Grund ist ein Interview mit Finanzminister Wolfgang Schäuble im aktuellen „Spiegel“, in dem steht:

SPIEGEL: Die Koalition hätte ein Problem, wenn die Kanzlerin und ihr wichtigster Minister in einer so großen Frage wie der Griechenlandhilfe unterschiedlicher Auffassung sind.

Schäuble: Es gehört zur Demokratie, dass man auch einmal unterschiedliche Meinungen hat. Und dann ringt man gemeinsam um Lösungen. Dabei hat jeder seine Rolle. Angela Merkel ist die Bundeskanzlerin, ich bin der Finanzminister. Politiker haben ihre Verantwortung aus ihren Ämtern. Zwingen kann sie niemand. Wenn das jemand versuchen würde, könnte ich zum Bundespräsidenten gehen und um meine Entlassung bitten.

Der letzte Satz ist es, der den Medien die Idee von Schäubles Rücktrittswünschen in den Kopf gesetzt hat.

Allerdings funktioniert das nur, wenn man ignoriert, wie das Gespräch weitergeht:

Vermutlich haben die oben zitierten Medien aber nicht das ganze Gespräch im „Spiegel“ gelesen (online bisher nur auf Englisch verfügbar), sondern den Artikel auf „Spiegel Online“ oder die fast wortgleiche “Spiegel”-Vorabmeldung. Denn auch dort gibt’s lediglich die halbe Wahrheit.

Das Portal bewirbt das Interview der Print-Kollegen heute so:

Im Streit mit Kanzlerin Angela Merkel über die Griechenlandrettung ist Finanzminister Wolfgang Schäuble im äußersten Fall zum Rücktritt bereit. “Politiker haben ihre Verantwortung aus ihren Ämtern”, sagte er dem SPIEGEL. Niemand könne sie zwingen, gegen ihre Überzeugungen zu handeln. “Wenn das jemand versuchen würde, könnte ich zum Bundespräsidenten gehen und um meine Entlassung bitten”, sagte Schäuble. (Lesen Sie hier das ganze Gespräch im neuen SPIEGEL.)

(Link im Original.)

Die entscheidende Stelle – dass Schäuble eben nicht über Rücktritt nachdenkt — erwähnt „Spiegel Online“ nicht.

Andere Medien tun das zwar, wollten aber trotzdem unbedingt irgendwie den Rücktritt ins Spiel bringen:

(tagesspiegel.de)

(stern.de)

(welt.de)

(faz.net)

Mit Dank an Konrad A.!

Stell dir vor, es droht Krieg, und nur chip.de berichtet darüber

Passen Sie auf, verrückte Geschichte: Der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un hat den USA wegen einer angeblichen Urheberrechtsverletzung (!) mit Krieg (!) gedroht.

Demnächst soll nämlich Windows 10 erscheinen, und weil der Diktator meint, dass Microsoft bei einem nordkoreanischen Betriebssystem geklaut habe, fordert er Barack Obama nun auf, den Release zu stoppen, sonst gebe es drastische Konsequenzen.

Aber was mindestens genauso verrückt ist: Enthüllt wurde diese Geschichte nicht etwa von einem koreanischen oder amerikanischen Medium, sondern vom deutschen Technikportal chip.de.

Vor knapp einer Woche berichtete die Seite aus dem Burda-Verlag exklusiv:

Windows 10 erscheint am 29. Juli – es sei denn, Nordkorea verhindert das. Denn offenbar will der nordkoreanische Machthaber Kim Jong-un den Release um jeden Preis stoppen, weil Microsoft beim nordkoreanischen [Betriebssystem] Red Star OS geklaut haben soll – und droht für Zuwiderhandlung mit drastischen Konsequenzen.

Anscheinend hat sich auch Kim Jong-un (oder einer seiner Untergebenen) eine Preview von Windows 10 besorgt und ist nun der Meinung, dass Microsoft sich bei Red Star OS bedient hat, berichtet der nordkoreanische Staats-Fernsehsender KCTV. Der Machthaber fordert nun: US-Präsident Obama müssen den Release von Windows 10 verhindern, da Microsoft das Urheberrecht verletzt. Schreitet Obama nicht ein, werde man nicht zögern, mit aller Macht die diebische US-Gesellschaft zur Rechenschaft zu ziehen, heißt es.

Sehr interessant. Vor allem, weil außer chip.de offenbar niemand sonst davon weiß.

Nicht mal die staatliche Nachrichtenagentur KCNA, die als Teil der nordkoreanischen Propagandamaschinerie normalerweise sofort berichtet, wenn das Regime mit den Säbeln rasselt, hat etwas zu der angeblichen Kriegsdrohung gebracht. Im Gegensatz zum Staatssender KCTV verfügt die Agentur über ein Archiv, in dem man zwar allerlei beklopptes Zeug findet, aber nicht ein einziges Wort zu der Windows-Story.

Auch in amerikanischen Medien ist nichts darüber zu lesen, auch nicht in südkoreanischen oder japanischen, nicht einmal bei Bild.de, wo sonst wirklich jeder NordkoreaSchrott verbreitet wird.

Kim Jong-un droht Barack Obama also wegen eines Betriebssystems mit Krieg und von allen Medien auf der Welt findet nur chip.de, dass man darüber berichten sollte?

Ah, nee:

Drei Tage nach der weltexklusiven Enthüllung durch chip.de entdeckte stern.de die Geschichte und schrieb:

Absurde Anschuldigung, drastische Drohung: Nachdem sich Kim Jong Un zuletzt gut gelaunt bei der Eröffnung des Pjöngjang-Airports präsentierte, war es für Nordkoreas Machthaber nun offenbar wieder an der Zeit, die Welt an seinen – sagen wir: eigenwilligen – Gedanken teilhaben zu lassen – Kriegsdrohung inklusive.

Demnach stört sich der Staatschef am für den 29. Juli geplanten Release des Microsoft-Betriebssystems „Windows 10″, wie unter anderem das Technikportal „chip.de“ berichtet.

„unter anderem“, schreibt der Autor, was aber geschummelt ist, denn wörtlich genommen hat er zwar recht: Neben chip.de haben auch andere darüber berichtet. Bloß: Auch die gaben nur eine Quelle an — chip.de.

Weiter schreibt stern.de:

Und das kann der Diktator natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Wie Nordkoreas Staatssender „KCTV“ vermeldet, will Kim Jong Un die Veröffentlichung mit allen Mitteln verhindern – und fordert in diesem Zug nicht weniger als ein persönliches Handeln von US-Präsident Barack Obama. Sollte dieser nicht gegen den Release einschreiten, werde man nicht zögern, die diebischen Bewohner der Vereinigten Staaten mit aller Macht zur Rechenschaft zu ziehen, wird Kim Jong Un in dem Bericht zitiert.

Man kann also davon ausgehen, dass der Autor den Bericht selbst gesehen hat. Oder davon, dass er schwindelt.

Auch „Focus Online“ hat die Geschichte inzwischen aufgegriffen und schreibt:

Zwar beruft sich der Autor ebenfalls auf chip.de, aber auch er tut so, als läge ihm die Originalquelle vor:

Dies berichtet der nordkoreanische Staats-Fernsehsender KCTV.

Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder es gibt diesen Bericht tatsächlich, Nordkorea hat wirklich eine Kriegsdrohung ausgesprochen, und nur ein paar deutsche Medien haben Notiz davon genommen — oder irgendwer hat sich die Story ausgedacht und alle anderen verbreiten sie ungeprüft weiter.

Am Donnerstag haben wir die Redaktionen von chip.de, stern.de und focus.de gebeten, ihre Geschichten zu belegen. Bisher kam keine Antwort. Die Artikel sind unverändert online.

Mit großem Dank an Tobias D. und Bruno B.

Nachtrag, 21. Juli: Chip.de hat den Artikel inzwischen gelöscht. Auf Nachfrage von „Meedia“ sagte eine „Chip“-Sprecherin, dass sich der Beitrag „als nicht ausreichend belegbar herausgestellt” habe und „daher offline genommen“ wurde. „Die Veröffentlichung des Artikels war ein Fehler, den wir bedauern“. (Siehe auch hier.)

Auch „Focus Online“ hat die Story gelöscht. Bei stern.de und anderen ist sie dagegen immer noch zu finden.

Wir haben übrigens mal bei der deutschen Botschaft in Nordkorea nachgefragt, und, Überraschung: Auch dort gibt es “keine weiterführenden Erkenntnisse” zu der angeblichen Kriegsdrohung.

Nachtrag, 22. Juli: Heute haben wir zum dritten Mal bei stern.de nachgefragt, ob wir denn noch mit Belegen für die Story rechnen können. Kurz darauf ist der Artikel von der Seite verschwunden.

Bild  

“Bild” druckt freiwillig zu kleine Gegendarstellung

Die heutige Titelseite der “Bild”-Zeitung sieht auf den ersten Blick ganz normal aus: ein bisschen Fußball (“Neuer Zwirn für Schweini”), ein bisschen mehr vom Wir-gegen-die-Griechen-Gefühl (“Merkel rettet Griechenland mit unserem Geld!”), was Kurioses (“Betrunkener Einbrecher schläft im Kofferraum ein”). Oben rechts wird’s aber eher ungewöhnlich, da steht nämlich das hier:

Sie bezieht sich auf die riesige “Bild”-Titelstory vom 17. Juni, in der das Blatt keinen Zweifel daran ließ, was nach der Urteilsverkündung im Tuğçe-Prozess (BILDblog berichtete) passiert ist:

Das Besondere an der Gegendarstellung auf der “Bild”-Titelseite von heute: Sie hätte in dieser Form gar nicht abgedruckt werden müssen.

Vor zwei Wochen hat das Landgericht Berlin zugunsten von Sadija M. eine einstweilige Verfügung erlassen und die “Bild”-Zeitung dazu verdonnert, eine Gegendarstellung abzudrucken. Gegen diese Abdruckanordnung hat “Bild” Widerspruch eingelegt, eine mündliche Verhandlung folgt in der kommenden Woche. Trotzdem hat sie schon heute eine Gegendarstellung veröffentlicht, allerdings nicht entsprechend den Vorgaben des Gerichts.

Warum? Der Grund könnte in eben diesen gerichtlichen Vorgaben liegen: Demnach muss das Wort “Gegendarstellung” in der Größe der Dachzeile der Erstveröffentlichung (“EKLAT NACH DEM HAFTURTEIL”) gedruckt werden, der dazugehörige Text (“In der BILD-Zeitung vom 17.06.2015 haben Sie auf …”) in der Größe der einstigen Überschrift (“Mutter des Schlägers spuckt auf Tugce-Foto!”). Das würde bedeuten, dass die Gegendarstellung am Ende in etwa so aussieht, wie die von Heide Simonis aus dem Jahr 2006.

Felix Damm, Anwalt von Sadija M., vermutet, dass die “Bild”-Zeitung sich mit dem Abdruck der kleinen Version für die mündliche Verhandlung wappnen will:

Es scheint die Hoffnung zu bestehen, das Gericht werde von der verfügten Abdruckanordnung derart abweichen, dass mit dem Abdruck der verkleinerten Version der gerichtlichen Entscheidung genügt wurde. Ich gehe allerdings davon aus, dass die „Bild“-Zeitung die Gegendarstellung noch einmal drucken muss, dann deutlich größer.

Warum “Bild” bei der Position bleibt, Sadija M. habe auf das Tuğçe-Foto gespuckt, steht auf Seite 6 der heutigen Ausgabe:

Dem Gericht legte [M.] eine eidesstattliche Versicherung vor, nach der sie nicht gespuckt habe.

Wir glauben, dass Frau [M.] lügt, und bleiben deshalb bei unserer Darstellung und werden Strafanzeige stellen.

Mehrere Zeugen haben den Vorgang beobachtet und gegenüber BILD bestätigt.

Interessanterweise berichteten auch andere Medien von einem Spucken nach der Verhandlung, sie ordneten es im Gegensatz zur “Bild”-Redaktion aber nicht unmittelbar Sadija M. zu.

Ihr Anwalt Felix Damm sagt, ihn erinnere die Art der “Bild”-Berichterstattung über seine Mandantin an eine “moderne Form der Sippenhaft”:

Als Sanel M. im Gefängnis saß, hat sich die “Bild”-Zeitung dessen Bruder vorgenommen. Als sie damit durch war, kam die Mutter dran. Es wird versucht, der Öffentlichkeit eine schuldige Familie zu präsentieren.

Deswegen gehe Familie M. nun juristisch gegen einzelne Veröffentlichungen vor. Erste Unterlassungserklärungen konnte sie bereits einsammeln. Zum Beispiel hatte “Bild” auch ein unverpixeltes Foto der Mutter abgedruckt. Das Blatt darf es nun nicht mehr zeigen — weiß sich aber natürlich zu helfen und druckt heute einfach ein anderes Foto der Mutter, schon wieder ohne jede Unkenntlichmachung. Auch dagegen wird sie sich nun wehren.„"

Mit Toten ködern

Trommelwirbel, bitte!

Der “Focus Online”-Award für das pietätloseste Clickbaiting geht in dieser Woche an: Blick.ch.

Auf seiner Facebookseite teaserte das Portal einen Artikel über einen Badeunfall in einem Fluss in Zürich heute so an:

Der zweite Fund war ein anderer ertrunkener Badegast.

Inzwischen hat Blick.ch den Teaser verbessert geändert. Er lautet jetzt:

Mit Dank an Alexander S.

Da hat leider niemand mehr rübergeguckt


Danke an Robert O.

***

Schädlingsbekämpfung mit Samtpfoten.

Danke an Silvia P.

***

That escalated quickly. (Schlagzeilen von Augsburger-Allgemeine.de, “Focus Online” und Bild.de.)


Danke an David J.

The Sunday Times, NZZ, taz

1. “The Sunday Times’ Snowden Story is Journalism at its Worst — and Filled with Falsehoods”
(firstlook.org/theintercept, Glenn Greenwald, englisch)
Glenn Greenwald ärgert sich über die unkritische Aufnahme eines Artikels in der “Sunday Times” durch Journalisten: “The whole article does literally nothing other than quote anonymous British officials. It gives voice to banal but inflammatory accusations that are made about every whistleblower from Daniel Ellsberg to Chelsea Manning. It offers zero evidence or confirmation for any of its claims. The ‘journalists’ who wrote it neither questioned any of the official assertions nor even quoted anyone who denies them.” Siehe dazu auch “Five Reasons the MI6 Story is a Lie” (craigmurray.org.uk, englisch).

2. “Berichtigung: gefürchtete Konsequenz eines journalistischen Fehlers”
(fachjournalist.de, Frank C. Biethahn)
Frank C. Biethahn klärt auf über Berichtigungsansprüche und unzulässige Tatsachenbehauptungen.

3. “NZZ verbreitet irreführende Statistik”
(infosperber.ch, Urs P. Gasche)
Urs P. Gasche kritisiert die NZZ, weil sie bei einer Kriminalitätsstatistik das Bevölkerungswachstum nicht einbezogen hatte: “Im konkreten Fall gab es im Jahr 1984 eine Verurteilung pro 105 Einwohner, im Jahr 2014 eine Verurteilung auf 60 Einwohner. Das ist immer noch eine starke Zunahme, jedoch nicht um 138 Prozent, sondern um 75 Prozent.”

4. “Die Kasachstan-Connection: Wie der SPIEGEL ins Visier der Nasarbajew-Lobby geriet”
(spiegel.de, Walter Mayr)
Walter Mayr liest E-Mails, die “in seltener Eindringlichkeit die Versuche der Nasarbajew-Lobbyisten, sich Teile der Presse dienstbar zu machen”, beleuchten.

5. “Wirtschaftsförderung auf Abwegen”
(nzz.ch, Christoph Eisenring)
Die “taz” erhält 3,8 Millionen Euro Fördergelder aus der “Gemeinschaftsaufgabe ‘Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur'”. Wie sie auch im eigenen Hausblog transparent macht: “Die taz braucht keine staatlichen Subventionen, um auch Ihr Handeln weiterhin kritisch verfolgen zu können. Die 3,7 Mio. ‘Subvention’ dienen der taz Verlagsgenossenschaft eG ausschließlich dazu, ein neues Haus zu bauen. Hier wird also nicht irgendwas subventioniert, sondern investiert – in die Zukunft.”

6. “Tim Hunt: ‘I’ve been hung out to dry. They haven’t even bothered to ask for my side of affairs'”
(theguardian.com, Robin McKie, englisch)
Wissenschaftler Tim Hunt tritt nach Aussagen an einem Vortrag von seiner Honorarprofessur zurück: “‘I was very nervous and a bit confused but, yes, I made those remarks – which were inexcusable – but I made them in a totally jocular, ironic way. There was some polite applause and that was it, I thought.’ (…) Hunt may have meant to be humorous, but his words were not taken as a joke by his audience. One or two began tweeting what he had said and within a few hours he had become the focus of a particularly vicious social media campaign.”

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