1. Geldwerter Vorteil (sueddeutsche.de, Hans Leyendecker)
Für das Abkommen zur Transpazifischen Partnerschaft (TPP) hatte Wikileaks bereits ein “Kopfgeld” ausgesetzt: 100.000 Euro für vertrauliche Dokumente. Jetzt wiederholt die Plattform das Spiel für das hierzulande so kontrovers diskutierte Freihandelsabkommen TTIP. Hans Leyendecker erinnert das “an den alten Scheckbuchjournalismus, den es bei Magazinen wie Spiegel, Stern und Focus gegeben hat.”
2. Gefilterte Berichterstattung (cicero.de, Petra Sorge)
Petra Sorge wundert sich darüber, dass kaum über den Dokumentarfilm „Ungefiltert eingeatmet“ berichtet wird, obwohl er ein “gravierendes Problem in Flugzeugen” beleuchte: Nämlich den Umgang mit giftigen Gasen an Bord. Weil Presse und Luftfahrtindustrie den Filmemacher Tim van Beveren für einseitig halten, stellt Sorge die Frage, ob der “Luftfahrt Presse-Club” ein Interesse daran hat, das Thema zu vertuschen. “Eine deutliche Trennung von Journalisten und Pressesprechern gibt es beim LPC jedenfalls nicht.”
3. Krieg im Kopf (message-online.com)
“Wie Krisenreporter mit traumatischen Erlebnissen umgehen” — erzählen im Interview die Reporter Christoph Maria Fröhder und Wolfgang Bauer.
4. How To’s (storybench.org)
Eine Sammlung von Storytelling-Tools und -Tutorials der Northeastern University’s School of Journalism. Hier erfährt man zum Beispiel, wie man Daten organisieren und visualisieren kann, wie man mit Programmen wie Plotly oder Python umgeht — oder wie man einen Star-Wars-Lego-Stopmotion-Film dreht.
5. Bad comments are a system failure (medium.com, Jessamyn West)
Popular Science, Bloomberg Business, Reuters, Mic, The Week, re/code, The Verge, The Daily Dot – das ist eine Auswahl der Online-Medien, die ihre Kommentarfunktion abgeschaltet haben. Auch deutsche Medien klagen oft über Trolle und wüste Hetze in den Kommentarspalten. Doch die Leser stumm zu schalten sei keine angemessene Reaktion, findet Jessamyn West. Diskussionskultur stelle sich nicht von selbst ein, Medien müssten sich aktiv darum kümmern. Das erfordere viel Arbeit, sei aber eine wichtige Aufgabe für Journalisten. Diese These vertritt zum Beispiel auch “Zeit Online”-Chef Jochen Wegner, hier in einem Interview mit dem “Standard” von Anfang des Jahres.
In der Sex-Kürze liegt die Würze – das ist das Ergebnis einer aktuellen US-Umfrage. Demnach sind drei bis dreizehn Minuten Sex völlig ausreichend und befriedigend.
Tatsächlich sind Forscher der Pennsylvania State University gezielt der Frage nachgegangen, wie lange Sex dauern sollte, damit er gut ist. Dafür befragten sie 50 Mitglieder der “Society for Sex Therapy and Research” – genauer: “psychologists, physicians, social workers, marriage/family therapists and nurses” –, von denen 44 Auskunft gaben. Ergebnis:
The average therapists’ responses defined the ranges of intercourse activity times: “adequate,” from three to seven minutes; “desirable,” from seven to 13 minutes; “too short” from one to two minutes; and “too long” from 10 to 30 minutes.
Sie sehen: Für guten Sex braucht man nur drei Minuten. Na gut, mindestens drei.
Höchstens drei braucht man dagegen, um festzustellen, dass die Aussagekraft dieser “Studie” doch arg zu wünschen übrig lässt. Die Aussagen von 44 Ärzten und Krankenschwestern als Maßstab für die Sex-Vorlieben der Menschheit? Nun ja.
Noch viel weniger als drei Minuten bedarf es allerdings, um herauszufinden, dass diese ganze Sache schon über sieben Jahre alt ist.
Trotzdem taucht sie seit ihrer Veröffentlichung (meist pünktlich zum Sommerlochanfang) immer wieder als Nachricht in den deutschen Medien auf.
Der oben zitierte Bild.de-Artikel stammt aus November 2009. Da war die “aktuelle US-Umfrage”, von der die Rede ist, immerhin schon anderthalb Jahre alt, was im Artikel freilich nicht erwähnt wird.
Auch in diesem Jahr — sieben Jahre nach Erscheinen der Studie — haben die Journalisten sie wieder für sich entdeckt. Im Mai schrieb die „Huffington Post“:
Die Autorin verlinkt sogar auf die Studie, tut aber trotzdem so (oder geht tatsächlich davon aus), als wäre das alles neu.
Die eifrigsten Sexartikelwiederverwurster sind aber selbstverständlich die Medien des Axel-Springer-Verlags.
Als die Studie herauskam, berichtete zunächst welt.de:
2009 folgte der Bild.de-Artikel, den wir oben zitiert haben:
Dass die Studie nur von sehr bedingter Aussagekraft und noch dazu uralt ist, schreiben sie nicht, aber darauf kann man ja auch nicht kommen, wenn man immer nur stumpf voneinander abschreibt.
Also, liebe Recyclingredakteure: Wenn Ihnen diese Story im nächsten Sommer wieder vor die Flinte läuft (und das wird sie ganz bestimmt), nutzen Sie die Zeit, die Sie fürs Copy-und-Pasten brauchen würden, doch lieber für was Sinnvolles. In drei Minuten schafft man ja so einiges.
1. “Asylkritiker” oder “Rassist”? Die Suche nach den richtigen Worten (sz-online.de, Julia Kilian)
Wenn man über die deutsche Flüchtlingsproblematik … Nein, da fängt es schon an: Wenn man über die deutsche Debatte über den Umgang mit Geflüchteten schreibt, ist es wichtig, seine Worte mit Bedacht zu wählen. Zuerst warnte David Hugendick vor dem Euphemismus “Asylkritiker”, daraufhin reagierte die dpa und kündigte an, künftig auf solche verharmlosenden Begriffe zu verzichten. Das veranlasste Julia Kilian, Sprachwissenschaftler zu Ausdrücken wie “Asylgegner”, “Asylanten” oder “Wirtschaftsflüchtlinge” zu befragen. Noch einen Schritt weiter geht Sascha Lobo, der fordert: “Nennt sie endlich Terroristen!”
2. Attacken gegen Flüchtlinge: Terror in Deutschland (spiegel.de, Maximilian Popp)
Mehr als 200 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im ersten Halbjahr 2015 — und Politiker und Journalisten haben eine Mitverantwortung, meint Maximilian Popp. Er wirft etwa dem “Focus” vor, populistisch Stimmung gegen “falsche Flüchtlinge” zu machen, nimmt seinen Arbeitgeber aber nicht aus: “DER SPIEGEL hat in den Neunzigerjahren den Populismus, den er heute zu Recht beklagt, mit Titeln wie ‘Zu viele Ausländer?’ selbst befeuert.” Auch Kai Budler übt im Störungsmelder-Blog Medienkritik: “Und auch die Medien haben in den vergangenen 20 Jahren offenbar nichts gelernt, denn wieder einmal hantieren sie mit Angstmetaphern wie dem ‘Das Boot ist voll’-Bild.” Und Tagesschau-Chefredakteur Kai Gniffke appelliert, den Ressentiments Fakten entgegenzusetzen und Menschen zu portraitieren, die sich für Flüchtlinge engagieren.
3. Talkshow-Kritik: Völlige Einseitigkeit und ein nationaler Wir-Diskurs (heise.de, Marcus Klöckner)
Die Medienwissenschaftler Matthias Thiele und Rainer Vowe haben die zahlreichen Griechenland-Runden der politischen Talkshows im deutschen Fernsehen untersucht. Die Sendungen seien “vor allem von Polemiken, Ressentiments und einer arroganten Haltung gegenüber der neuen griechischen Regierung und den Griechen dominiert” gewesen, erzählt Thiele im Interview. Fast durchgehend sei “mit der symbolischen Frontstellung von ‘Wir’ versus ‘die Anderen'” operiert worden.
4. Wofür das “F” in “FAZ” steht (stefan-niggemeier.de, Boris Rosenkranz)
Auf der Internetseite der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” erschien in dieser Woche ein Video, in dem ein “FAZ”-Redakteur den Formel-1-Piloten Sebastian Vettel interviewt. Dabei sitzen die beiden in einem Ferrari, machen eine Spritztour mit dem Ferrari, tragen Mützen von Ferrari, sprechen über Ferrari, und produziert wurde das Ganze — von Ferrari. Nach der Kritik von Boris Rosenkranz nahm faz.net den Werbeclip offline.
5. Chronistenpflicht, Chronistenkür (wortvogel.de, Torsten Dewi)
Eigentlich wollte Torsten Dewi die alte, dicke “Chronik des 20. Jahrhunderts” in einer Bücherkiste vor dem eigenen Haus verschenken, machte sie dann aber doch zu seiner “Frühstücks/Badezimmer/Bett-Lektüre”:
Und tatsächlich: Das Buch hat auch im Zeitalter von Wikipedia und YouTube seine Existenzberechtigung. Weil es strikt chronologisch vorgeht, Entwicklungen nachvollziehbar macht, Kontext liefert. Information nicht punktuell und im luftleeren Raum, sondern als Bestandteil eines riesigen Puzzles aus Kultur, Politik, Natur und Wissenschaft.
Beim Blättern stößt Dewi beispielsweise auf eine ihm bisher unbekannte und völlig desaströse ARD-Fernsehshow zum Geburtstag des Automobils, die der damalige Daimler-Benz-Chef höchstpersönlich abbrechen ließ.
6. Die Grand Tour of Switzerland mit 10 Franken in 10 Tagen (herrfischer.net, Tin Fischer)
Tin Fischer wurde zu einer Pressereise durch die Schweiz eingeladen, mit luxuriöser Unterkunft, einem eigenen Auto und “geballter Spitzenkulinarik”. Stattdessen erkundet der Journalist nun alleine die Strecke der Reise. Mit nur 10 Franken und der Hoffnung, auf hilfsbereite Menschen zu treffen.
Und noch ein anderes Journalisten-Projekt aus der Schweiz: Unser lieber Kollege und Ex-6-vor-9-Kurator Ronnie Grob will ebenfalls auf Tour gehen und für das Projekt “Nach Bern!” sechs Wochen lang den Schweizer Wahlkampf beobachten. Dafür sucht er noch finanzielle Unterstützung.
1. „Das Märchen von der Buffett-Insel“ (capital.de, Christian Kirchner)
Am Wochenende machte eine Falschmeldung die Runde: Der Milliardär Warren Buffett soll eine griechische Insel für 15 Millionen Euro erworben haben. Der angebliche Kauf löste internationale Empörung aus. Diese Meldung wurde unter anderem von Bild.de, „Spiegel Online“ (Klarstellung) und manager-magazin.de (Klarstellung) verbreitet. Christian Kirchner mahnt deshalb:
Der Fall zeigt aber, dass eine verbale Abrüstung Not tut, weil derartige Meldungen wie der Kauf einer Insel durch einen US-Großinvestor Ressentiments schüren und entscheidend zur Meinungsbildung in Sachen Griechenlandkrise beitragen. Das erfordert entsprechende Vorsicht (…).
2. „Die Schreib-Maschinen“ (brandeins.de, Lars Jensen)
Lars Jensen besucht die Agentur „Associated Press“ und die Erfinder des Schreibroboters „Wordsmith“. Beide Unternehmen zeigen sich zufrieden mit der Arbeit, die die „Robo-Reporter” leisten, auch wenn Autor Lars Jensen anmerkt, die Meldungen läsen sich, „als hätte sie ein leicht gelangweilter Redakteur geschrieben“. Angst müssten Journalisten aber keine haben, sagt Robbie Allen, Gründer von „Wordsmith“, denn: „Eine Filmkritik oder einen Kommentar zu Obamacare kann kein Algorithmus schreiben.“
3. „Wir müssen lernen, den Shitstorm zu lesen” (meedia.de, Christoph Driessen) „In einem kollektiven Empörungssturm können sich große gesellschaftliche Fragen zeigen”, sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Interview. Er schlägt vor, einen Shitstorm als gesellschaftliche Komponente und nicht als Kampfbegriff zu betrachten. Es ließen sich daraus gar Wertkonzepte aufzeigen.
4. „That FIFA Movie Really Was As Much Of A Bomb As You Heard“ (fivethirtyeight.com, David Goldenberg, englisch)
David Goldenberg entlarvt den 27 Millionen Dollar teuren FIFA-Film „United Passions” als großen Flop in den USA. Bis in die deutschen Kinos schaffte es der Streifen nicht. Hauptdarsteller Tim Roth, der den FIFA-Boss Joseph Blatter spielt, schäme sich heute für den Film.
5. „Warum machst du es dir so schwer?“ (girlsguidetoblogging.de, Sandra)
Sandra Konrad gibt drei Tipps, die den Einstieg ins Blogger-Dasein erleichtern und sich zum Teil auch Journalisten zu Herzen nehmen können: „Du wirst es nie allen recht machen können. Das ist einfach so. Punkt! Das Gute daran: Du musst es auch nicht.“
Die heutige Titelseite der “Bild”-Zeitung sieht auf den ersten Blick ganz normal aus: ein bisschen Fußball (“Neuer Zwirn für Schweini”), ein bisschen mehr vom Wir-gegen-die-Griechen-Gefühl (“Merkel rettet Griechenland mit unserem Geld!”), was Kurioses (“Betrunkener Einbrecher schläft im Kofferraum ein”). Oben rechts wird’s aber eher ungewöhnlich, da steht nämlich das hier:
Sie bezieht sich auf die riesige “Bild”-Titelstory vom 17. Juni, in der das Blatt keinen Zweifel daran ließ, was nach der Urteilsverkündung im Tuğçe-Prozess (BILDblogberichtete) passiert ist:
Das Besondere an der Gegendarstellung auf der “Bild”-Titelseite von heute: Sie hätte in dieser Form gar nicht abgedruckt werden müssen.
Vor zwei Wochen hat das Landgericht Berlin zugunsten von Sadija M. eine einstweilige Verfügung erlassen und die “Bild”-Zeitung dazu verdonnert, eine Gegendarstellung abzudrucken. Gegen diese Abdruckanordnung hat “Bild” Widerspruch eingelegt, eine mündliche Verhandlung folgt in der kommenden Woche. Trotzdem hat sie schon heute eine Gegendarstellung veröffentlicht, allerdings nicht entsprechend den Vorgaben des Gerichts.
Warum? Der Grund könnte in eben diesen gerichtlichen Vorgaben liegen: Demnach muss das Wort “Gegendarstellung” in der Größe der Dachzeile der Erstveröffentlichung (“EKLAT NACH DEM HAFTURTEIL”) gedruckt werden, der dazugehörige Text (“In der BILD-Zeitung vom 17.06.2015 haben Sie auf …”) in der Größe der einstigen Überschrift (“Mutter des Schlägers spuckt auf Tugce-Foto!”). Das würde bedeuten, dass die Gegendarstellung am Ende in etwa so aussieht, wie die von Heide Simonis aus dem Jahr 2006.
Felix Damm, Anwalt von Sadija M., vermutet, dass die “Bild”-Zeitung sich mit dem Abdruck der kleinen Version für die mündliche Verhandlung wappnen will:
Es scheint die Hoffnung zu bestehen, das Gericht werde von der verfügten Abdruckanordnung derart abweichen, dass mit dem Abdruck der verkleinerten Version der gerichtlichen Entscheidung genügt wurde. Ich gehe allerdings davon aus, dass die „Bild“-Zeitung die Gegendarstellung noch einmal drucken muss, dann deutlich größer.
Warum “Bild” bei der Position bleibt, Sadija M. habe auf das Tuğçe-Foto gespuckt, steht auf Seite 6 der heutigen Ausgabe:
Dem Gericht legte [M.] eine eidesstattliche Versicherung vor, nach der sie nicht gespuckt habe.
Wir glauben, dass Frau [M.] lügt, und bleiben deshalb bei unserer Darstellung und werden Strafanzeige stellen.
Mehrere Zeugen haben den Vorgang beobachtet und gegenüber BILD bestätigt.
Interessanterweise berichteten auchandereMedien von einem Spucken nach der Verhandlung, sie ordneten es im Gegensatz zur “Bild”-Redaktion aber nicht unmittelbar Sadija M. zu.
Ihr Anwalt Felix Damm sagt, ihn erinnere die Art der “Bild”-Berichterstattung über seine Mandantin an eine “moderne Form der Sippenhaft”:
Als Sanel M. im Gefängnis saß, hat sich die “Bild”-Zeitung dessen Brudervorgenommen. Als sie damit durch war, kam die Mutter dran. Es wird versucht, der Öffentlichkeit eine schuldige Familie zu präsentieren.
Deswegen gehe Familie M. nun juristisch gegen einzelne Veröffentlichungen vor. Erste Unterlassungserklärungen konnte sie bereits einsammeln. Zum Beispiel hatte “Bild” auch ein unverpixeltes Foto der Mutter abgedruckt. Das Blatt darf es nun nicht mehr zeigen — weiß sich aber natürlich zu helfen und druckt heute einfach ein anderes Foto der Mutter, schon wieder ohne jede Unkenntlichmachung. Auch dagegen wird sie sich nun wehren.
Griechenlands Schuldenproblem verschärft sich — die Bundesregierung denkt daher über neue Schritte nach: Wie die “Zeit” und die Nachrichtenagentur Reuters berichten, arbeitet das Finanzministerium an einem Notfallplan für eine Pleite Griechenlands. “Sie haben begonnen, das Undenkbare zu denken”, sagte ein Insider zu Reuters. Deutschland wolle dies nicht, stelle sich aber auf eine solche Situation ein. “Sie wären sonst nicht vorbereitet auf die Folgen für die Banken.”
Diese Zeilen sind viereinhalb Jahre alt. Und ob der Insider nun recht hatte oder nicht — es wäre doch zumindest fahrlässig, wenn sich die Bundesregierung nicht ständig auf alle Eventualitäten einstellen würde, also auch auf eine faktische Insolvenz Griechenlands.
Wie auch immer. Zehn Monate später, im November 2011, schrieb dann auch „Bild“:
Merkel lobte [den damaligen Griechenland-Premier] Papandreou, stellte weitere Hilfen in Aussicht. Doch in Wirklichkeit geht die Bundesregierung nach BILD-Informationen inzwischen davon aus, dass Griechenland pleitegehen wird – und zwar warscheinlich [sic] noch vor Weihnachten, wenn auch die nächste Hilfs-Rate aufgebraucht ist.
„Wir versuchen, eine Insolvenz Griechenlands zu vermeiden. Ich kann das aber nicht ausschließen“, sagte Merkel am Nachmittag laut Teilnehmern in der Sitzung der Fraktion von CDU/CSU.
Insofern übersetzt man das “Jetzt” in der heutigen (!) “Bild”-Schlagzeile also am besten mit: “seit vier Jahren”.
Sie hat monatelang um Griechenland gekämpft. Doch seit vorletzter Nacht weiß Angela Merkel (60, CDU): Es war vielleicht umsonst …
Gut zwei Stunden verhandelte die Kanzlerin in Brüssel mit Frankreichs Staatspräsident François Hollande (60) und Griechen-Premier Alexis Tsipras (40).
Als das Trio gestern um 0.20 Uhr auseinanderging, war klar, was die deutsche Regierungschefin bisher nie wahrhaben wollte: Die Staatspleite Griechenlands ist womöglich nicht mehr aufzuhalten!
Darüber wird in vertraulicher Runde in Berlin jetzt offen gesprochen.
Aus, vorbei, GREXIT …!
Die einzige Quelle für die Behauptung ist wieder ein Insider, ein „Top-Diplomat“, der gesagt haben soll: „Auch die Kanzlerin weiß jetzt, dass die Zeit nicht mehr reichen wird …!“
Obwohl es da ja noch einen kleinen Haken gibt, wie “Bild” am Ende zugeben muss:
Eine letzte Frist hat Athen noch: Kommenden Donnerstag treffen sich in Brüssel die Finanzminister der Euro-Zone zur entscheidenden Sitzung. Sie wollen dann ein Konzept sehen, das bereits vom griechischen Parlament verabschiedet ist.
Egal, “Bild” hat trotzdem schonmal den Sekt kaltgestellt und ihn jetzt endgültig ausgerufen, den
Nachtrag, 13 Uhr: Aber im deutschen Medienbetrieb ist bekanntlich keine Meldung alt oder falsch genug, als dass sich nicht doch irgendwer finden würde, der sie blind abschreibt.
Die dpa vermeldete heute pünktlich um Mitternacht:
Berlin (dpa) – Nach einem Bericht der «Bild»-Zeitung bereitet sich Berlin auf eine Staatspleite Griechenlands vor.
Die Agentur zaubert sogar noch ein paar zusätzliche Quellen aus dem Hut:
Unter Berufung auf mehrere mit den Vorgängen vertraute Personen berichtet die Zeitung (Freitag), es gebe konkrete Beratungen, was im Falle einer Pleite zu tun sei.
„Mehrere mit den Vorgängen vertraute Personen“? Wir haben (wenn überhaupt) nur eine gezählt: den angeblichen Insider.
Auch Reuters sprach 20 Minuten später von „mehrere[n] mit den Vorgängen vertraute[n] Personen“ — und titelte:
Und schwupps — wird der alte Hut wieder überall als neu verkauft:
Bei FAZ.net finden sie zwar immerhin, dass es „wenig plausibel“ erscheine, „dass die deutsche Regierung sich jetzt erstmals mit einem solchen Szenario befasst“ — die „Bild“-Geschichte haben sie aber trotzdem mal abgeschrieben:
Derweil will die Bild-Zeitung erfahren haben, dass nun auch die deutsche Kanzlerin eine Staatspleite Griechenlands nicht mehr ausschließt.
Nachtrag, 15.05 Uhr: Nachdem sich die dpa über zwölf Stunden lang auf “Bild” verlassen hatte, ist ihr inzwischen doch noch aufgefallen, dass die vermeintliche Neuigkeit gar keine ist. Die aktuellste Meldung zum Thema (erschienen um 12.49 Uhr) ist überschrieben mit:
1. “Das Q-Wort” (de.ejo-online.eu, Kurt W. Zimmermann)
Kurt W. Zimmermann denkt nach über den Begriff des “Qualitätsjournalismus”: “In verwandten Berufen kennt man diese Unterscheidung zwischen gehobener und minderwertiger Güteklasse nicht. Den Ausdruck Qualitätsliteratur gibt es nicht. Es gibt auch keine Qualitätsmalerei, keinen Qualitätsgesang und keine Qualitätspoesie. Wer dauernd von Qualität redet, der verrät darum nur eines. Er hat ein Problem mit sich selbst.”
3. “Der Flugzeugabsturz und der mediale Zwang zur Sichtbarkeit” (medienkorrespondenz.de, Dietrich Leder)
Dietrich Leder fasst die Berichterstattung zum Absturz von Germanwings-Flug 9525 zusammen: “Der Absurdität, ein Bild zu zeigen, das man in seinem Aussagekern unkenntlich macht, war man bei ARD und ZDF schon in den ersten beiden Tagen erlegen, als man Aufnahmen von Angehörigen der Absturzopfer präsentierte, bei denen man ebenfalls die Gesichter unkenntlich gemacht hatte. Auf die Idee, auf diese Bilder ganz zu verzichten, kam man nicht, denn das bedeutete ein Eingeständnis der Grenzen, die dem Bildermedium Fernsehen gesetzt sind: Ein Röntgenbild der Seele des mutmaßlichen Täters wird es nicht geben, auch wenn es sich alle wünschten.”
4. “How Is It Possible That the Inane Institution of the Anchorman Has Endured for More Than 60 Years?” (nymag.com, Frank Rich, englisch)
Frank Rich fragt, warum es den Anchorman immer noch gibt: “When Brian Williams has spoken about why he wanted to be a network anchor since roughly the age of 6, he hasn’t emphasized reporting but the thrill of being everyone’s focus of attention during a national cataclysm. He’s fond of quoting Simon & Garfunkel: ‘a nation turns its lonely eyes to you.'”
5. “Kein Witz” (sz-magazin.sueddeutsche.de, Tobias Haberl)
Tobias Haberl gesteht, den Radiosender “Bayern 1” zu hören: “Inzwischen schalte ich auch gern mal abends ein, dann kommt nämlich Volksmusik. Nicht Hansi Hinterseer, sondern richtige Blaskapellen oder Zithermusik, die Leitzachtaler Buam oder die Gesangsgruppe Eberwein; die spielen mal einen Landler, mal einen Dreiviertler, ich lege mich ins heiße Fichtennadelbad und bin – ich kann es nicht anders sagen – glücklich.”
1. “‘Propaganda’: Schlagwort des Jahres 2014” (zdf.de, Video, 6:11 Minuten)
Ein Bericht über Propaganda im Fernsehen: “25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges müssen wir uns wieder klar machen, was Propaganda eigentlich ist.”
2. “Ken-Jebsen-Stammtisch im ZDF” (fr-online.de, Katja Thorwarth)
Katja Thorwarth schaut sich die Satiresendung “Die Anstalt” mit Claus von Wagner und Max Uthoff an: “Schablonenhaftes Schwarz-Weiß-Denken ohne intellektuelle Differenzierung hätte es unter Priol nicht gegeben.”
3. “Die Israel-Story” (welt.de, Matti Friedman)
Der Journalist Matti Friedman stellt seine Sicht von Journalisten in Israel dar. Es stört ihn insbesondere, dass internationale Organisationen in den Storys der Reporter kaum je auftauchen – obwohl sie aus seiner Sicht “zu den mächtigsten Akteuren” vor Ort gehören: “Sind sie aufgebläht, ineffektiv, korrupt? Sind sie Teil der Lösung oder des Problems? Wir wissen es nicht, denn Journalisten zitieren sie, statt über sie zu berichten.”
4. “Sprachlust: Auf Deutsch lässt sich viel behaupten” (infosperber.ch, Daniel Goldstein)
Daniel Goldstein vermisst die klare Erkennbarkeit von Fakten im deutschsprachigen Journalismus: “Angelsächsischen Journalisten wird eingetrichtert, fein säuberlich zwischen Fakten und Äusserungen zu unterscheiden, und so wimmelt es in ihren Berichten von ‘he said’ und ‘she said’. Man könnte das auch auf Deutsch so halten, tut es aber selten. Das liegt nicht an der Sprache, sondern an der journalistischen Kultur: Wertende Kommentare werden zwar auch bei uns im Prinzip abgetrennt, Einordnungen aber baut man gern in die Berichte ein und nimmt dafür in Kauf, dass die reine Nachricht nicht mehr klar erkennbar ist.”
5. “Studie für extrem faule ‘Medienkritiker'” (plus.google.com, Torsten Kleinz)
Torsten Kleinz hält die Studie “Synchronisation von Nachricht und Werbung” (siehe “6 vor 9” vom Freitag) für fragwürdig: “Ich bin absolut nicht in der Lage, Spiegel oder Focus freizusprechen. Aber ich kann die Autoren des Papiers davon freisprechen, irgendeinen Beitrag zu der von ihnen geforderten fundierten Forschung zum Thema geleistet zu haben.”
6. “Zum Zehnjährigen: Jamba Laya” (spreeblick.com, Johnny Häusler)
Johnny Häusler macht sich Gedanken über seinen Artikel “Jamba Kurs” vom 12. Dezember 2004: “Speziell den letzten Satz hatte ich in den Monaten nach der Veröffentlichung immer wieder mal bereut, denn ich hatte den Eindruck, dass er als Einladung für die oben beschriebenen Aggressionen gelesen wurde. Für die Dramaturgie des Textes, dem schließlich auch eine Wut innewohnte, war der Satz jedoch wichtig, und so habe ich ihn bis heute nicht gelöscht.”
Die Filmemacher und DFB-Verantwortlichen müssen sehr stolz auf dieses Zitat sein, denn es eröffnet nicht nur den Trailer und war Inspiration für den Titel, sondern wurde gar zur „Leitidee“ des ganzen Projekts erklärt. In einer Pressemitteilung schrieb der DFB vor einigen Wochen:
Der Film […] stellt den besonderen Teamgedanken als entscheidend für den vierten Titelgewinn heraus. “Brasilien hat Neymar. Argentinien hat Messi. Portugal hat Ronaldo. Deutschland hat eine Mannschaft!” Dieses Motto, ein Twitter-Beitrag des englischen Kapitäns Steven Gerrard nach dem 7:1-Triumph des DFB-Teams im Halbfinale gegen Brasilien, ist die Leitidee.
Doof nur: Das Zitat stammt gar nicht von Steven Gerrard.
Der „Twitter-Beitrag“, auf den sich der DFB bezieht, sieht so aus:
Da steht zwar „Steven Gerrard“, und das Foto zeigt ihn auch, doch hinter dem Account steckt nicht Gerrard selbst, sondern ein Fan. Das erkennt man zum Beispiel daran, dass über Gerrard in der dritten Person getwittert wird, oder auch am fehlenden blauen Haken (Sportler dieser Größenordnung haben in der Regel verifizierte Accounts, wie man schön an dieser Liste sieht), vor allem aber an der Profilbeschreibung, in der es heißt:
Your mouth-piece centre for #LFC transfers news and rumours #DareToGerrard #TeamGerrard
Als Website wird im Profil außerdem eine Steven-Gerrard-Fanseite verlinkt.
Kurzum: Eigentlich hätte auch der DFB darauf kommen können, dass das ach so schöne Zitat nicht vom damaligen Kapitän der Engländer stammt, sondern von irgendwem.
Und die Medien genauso. Aber die sind auch drauf reingefallen, schon damals, als der Tweet um die Welt ging. Und zwar durch die Bank. So erschien das angebliche Gerrard-Zitat unter anderem in der „Bild“-Zeitung, in der „Berliner Zeitung“, in der „Süddeutschen Zeitung“, in der „Welt“, im „Stern“, im „Focus“, im „Tagesspiegel“, in der „Badischen Zeitung“, der „Saarbrücker Zeitung“, der „Kölnischen Rundschau“, der „Rheinischen Post“, den „Aachener Nachrichten“, dem „Darmstädter Echo“, der „Westdeutschen Zeitung“, dem „Bonner General-Anzeiger“, auf den Webseiten des „Handelsblatts“, der „Berliner Morgenpost“, der „Sport Bild“, der „Augsburger Allgemeinen“, der “Sportschau”, der „Hamburger Morgenpost“, bei Web.de, T-Online, der AFP, dem SID und bei vielen, vielen mehr.
Aber vielleicht als kleiner Trost, damit wir die fußballpatriotische Ein-Hoch-auf-uns-Stimmung jetzt nicht völlig zerschießen: Es gibt noch ein anderes Zitat, nämlich vom damaligen Trainer der Brasilianer, der nach der 1:7-Niederlage gegen Deutschland sagte:
We tried to do what we could, we did our best – but we came up against a great German team.
Das knallt zwar nicht so schön, ist aber wenigstens kein Fake.
*Korrektur/Nachtrag, 13. November: Das falsche Gerrard-Zitat taucht nur im Trailer auf, nicht im Film selbst, wie wir zunächst geschrieben hatten. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
Inzwischen haben wir auch den Verfasser des Tweets erreicht und ihm ein paar Fragen gestellt:
Hallo @iSteven8Gerrard, nur der Vollständigkeit halber: Bist Du der echte Steven Gerrard?
Nein, ich bin nicht der echte Steven Gerrard.
Du hast ja mitbekommen, dass Dein Tweet (“Deutschland hat eine Mannschaft!“) ganz schön die Runde macht. Stammt das Zitat denn von Dir oder vom echten Gerrard?
Das Zitat ist von mir. Während der Weltmeisterschaft haben meine Freunde ich darüber gesprochen, dass sich die Deutschen so gut schlagen, weil sie im Gegensatz zu Brasilien oder Argentinien als Mannschaft spielen. Dann bin ich auf Twitter gegangen, und das waren die Sätze, die mir in den Kopf kamen.
Wie heißt Du denn wirklich und worum geht’s bei Deinem Twitter-Projekt?
Mein echter Name ist Seumas Beathan. Der Twitter-Account hat als normale Fanseite [über Gerrard und den FC Liverpool] begonnen, und zurzeit arbeite ich noch an einer Website für Liverpool-Fans.
Seit Juli hat dein Tweet über 35.000 Retweets bekommen. Ist das Dein erfolgreichster Tweet?
Ich hatte ein paar, die über 1.000-mal retweeted wurden, aber dieser ist mit Abstand der erfolgreichste.
Jetzt taucht er sogar im Trailer zum offiziellen DFB-WM-Film auf und wurde zur „Leitidee“ des Projekts erklärt — ist das der krönende Moment?
Nun, ja und nein. Ja, weil es natürlich unglaublich ist, meinen Tweet im Trailer zu sehen, aber auch nein, weil ich keine Anerkennung dafür bekommen habe. Außer ein paar Journalisten und deutschen Fans hat niemand gemerkt, dass der Tweet in Wirklichkeit gar nicht von Steven Gerrard kam.
Aber hast Du denn nicht manchmal ein schlechtes Gewissen, Dich als Steven Gerrard auszugeben? Oder besser: Wenn so viele Leute glauben, Du seist er?
Ich gebe mich nicht wirklich als er aus. Offensichtlich gibt es einige Leute, die mich fälschlicherweise für den echten Gerrard halten, aber der Großteil meiner Follower ist sich bewusst, dass es ein Fan-Account ist. Und ich versuche so gut wie möglich, die Leute zu korrigieren und darauf hinzuweisen, dass es nur eine Fanseite ist.
Hat Dich jemals irgendein deutscher Journalist oder Fußball-/Film-Mensch kontaktiert, um zu überprüfen, ob Du der echte Gerrard bist?
Nein, und das enttäuscht mich. Der DFB hat mein Zitat ohne Erlaubnis benutzt, darüber bin ich ziemlich unglücklich.
Hast Du überlegt, Dir einen Anwalt zu nehmen?
Nein, das möchte ich nicht. Mir missfällt auch nicht unbedingt die Tatsache, dass der Tweet benutzt wurde, sondern dass sie mich nicht kontaktiert und es nicht geschafft haben, mich korrekt zu zitieren.
Hast Du den echten Gerrard eigentlich jemals getroffen?
Nein, leider noch nicht. Aber ich hoffe, dass ich das eines Tages werde.
1. “Die Netzflüsterer” (datum.at, Stefan Apfl und Sarah Kleiner)
Österreichische Unternehmen beauftragen eine PR-Agentur, die schmeichelhafte Internet-Einträge über sie erstellt, “80.000 bis 100.000 PR-Postings pro Jahr”: “Wer einmal begriffen hat, wie umfassend heimische Unternehmen das Netz mithilfe der PR-Agentur Mhoch3 manipuliert haben, der wird kein Posting und keinen Onlinekommentar mehr lesen können, ohne dabei ein mulmiges Gefühl und die Frage im Kopf zu haben: Was, wenn der Mensch dahinter dafür bezahlt wurde?” Siehe dazu auch “Das Geschäft mit der gefälschten Meinung” (sueddeutsche.de, Johannes Boie).
3. “Experten erwarten mehr Ebola-Panikfälle in Deutschland” (stefan-niggemeier.de, Boris Rosenkranz)
Während in manchen Monaten 40 bis 50 Malaria-Fälle diagnostiziert werden bei aus Westafrika einreisenden Personen, hat sich bis heute in Deutschland niemand mit Ebola infiziert. “Die Verdachtsfälle, die es gab, waren jedes Mal – Verdachtsfälle. Und trotzdem wurden sie vom medialen Panikorchester begleitet.”
4. “Blutarmut als Konzept” (vocer.org, Jan Klage)
Restrukturierer Jan Klage blickt kritisch auf die Restrukturierungen bei Gruner + Jahr: “Warum aber übernimmt ein international tätiges und innovatives Verlagshaus wie Gruner + Jahr ein vier Jahre altes und immer noch umstrittenes Umstrukturierungskonzept eines mittelständischen Mitbewerbers? Weil es praktikabel ist. Und weil offensichtlich immer noch keine bessere Lösung in Sicht ist. (…) Nicht PR-Texte und Auftragsarbeiten schlecht bezahlter freier Journalisten werden die Schlacht um die Aufmerksamkeit moderner Zielgruppen gewinnen, sondern Geschichten mit Herzblut und Authentizität.”
5. “Bräsiger Mix aus Käse- und Infoblatt” (taz.de, Jenni Zylka)
Jenni Zylka liest die “Super Illu”, “die Zeitschrift, die immer noch jede Woche von jedem fünften Erwachsenen in Ostdeutschland gelesen wird und damit, so wirbt sie seit Jahren, ‘mehr Leser erreicht als Spiegel, Stern und Focus zusammen’.”