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Linke Wahlkampf-Berichterstattung

Die Axel Springer AG behält sich das Recht vor, im Wahlkampf einseitig und irreführend über die Parteien und ihre Programme zu berichten. Das kann man aus einer Stellungnahme folgern, die die Rechtsabteilung des Verlages gegenüber dem Presserat abgegeben hat.

Es geht um die Art, wie die “Bild am Sonntag” im vergangenen Bundestagswahlkampf die Steuerpläne der Parteien darstellte (wir berichteten). In einer Übersicht zum Ausschneiden und Aufheben stellte sie scheinbar die unterschiedlichen Positionen der Parteien dar. Bei der Linken fanden sich — als einziger Partei — ausschließlich Pläne für Steuererhöhungen. In seinem auf der nächsten Seite stehenden Leitartikel bestätigte der “stellvertretene (sic!) Chefredakteur” Michael Backhaus den Eindruck: “Die Linkspartei denkt nur ans Erhöhen.” Das war angesichts des Wahlprogramms, das Steuersenkungen für kleine und mittlere Einkommen vorsah, objektiv falsch …

… nach Ansicht der Abteilung Verlagsrecht der Axel Springer AG jedoch absolut zulässig. Sie erklärte gegenüber dem Presserat, bei dem wir uns über die Berichterstattung der “Bild am Sonntag” beschwert hatten, dass der Presserat selbst schon 1990 festgestellt habe, dass es nicht zu kritisieren sei, wenn eine Zeitung lediglich über einen bestimmten Ausschnitt aus einem Wahlprogramm berichte. Die Richtlinie 1.2 im Pressekodex, die sich mit der Wahlkampfberichterstattung beschäftigt, sei bloß eine “Kann-Bestimmung”.

In dieser Richtlinie heißt es:

Zur wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit gehört, dass die Presse in der Wahlkampfberichterstattung auch über Auffassungen berichtet, die sie selbst nicht teilt.

Ob eine Zeitung dieser Empfehlung folgen wolle, müsse ihr selbst überlassen bleiben, argumentiert Springer. Der Verlag beharrt zudem darauf, dass der von uns bemängelte Kasten die Forderungen der Linkspartei korrekt wieder gegeben habe — die Erhöhung des Steueraufkommens sei ein zentraler Bestandteil des Wahlprogramms.

Der Beschwerdeausschuss des Presserates widersprach:

Zwar kann eine Redaktion selbst entscheiden, welche Schwerpunkte sie setzt, wenn sie über Wahlprogramme berichtet und ist nicht gezwungen, jeweils alle Details zu nennen. Insbesondere in Kombination mit dem Kommentar-Satz “Die Linke denkt nur ans Erhöhen” wird jedoch der Eindruck erweckt (…), es gebe keinerlei Steuersenkungs-Pläne im Programm. Die Darstellung ist irreführend, da nicht mitgeteilt wird, dass DIE LINKEN für etliche Gruppen die Steuern senken wollen. Im Sinne einer umfassenden Information des Lesers wäre es notwendig gewesen, auch das zumindest zu erwähnen. Das hätte die Sorgfaltspflicht erfordert.

Der Presserat erteilte “Bild” deshalb einen “Hinweis”, die Schwächste der drei (allesamt folgenlosen) Beanstandungs-Formen des Gremiums.

Nicht bemängelt wurde vom Presserat, dass die “Bild am Sonntag” einer Gegendarstellung, in der Oskar Lafontaine später den falschen Behauptungen der Zeitung widersprach, den Satz hinzufügte, sie sei zu deren Abdruck “unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt” verpflichtet — und so den falschen Eindruck erweckte, Lafontaines Äußerungen seien unwahr.

Dreckschweine muss man zeigen dürfen

“Bild” hat ein eklatantes Problem zu akzeptieren, dass auch Menschen, die schlimme Verbrechen begangen haben, Menschen bleiben und die Menschenrechte somit auch weiterhin für sie gelten.

Im August hatte das Bundeskriminalamt in verschiedenen Medien nach einem Mann gefahndet, dem mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wurde. Aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit stellte sich der mutmaßliche Täter nach einem Tag und das BKA bat, die zur Fahndung veröffentlichten Fotos nicht weiter zu verwenden und aus dem Internet zu entfernen. “Bild” ignorierte diese Bitte ebenso wie etliche als seriös geltende Medien (BILDblog berichtete).

Im Oktober nutzte “Bild” die Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft Trier als willkommenen Anlass, die Fotos erneut zu veröffentlichen und den mutmaßlichen Täter unter anderem als “Deutschlands schlimmsten Kinderschänder”, “Sex-Bestie” und “Dreckschwein” zu bezeichnen (BILDblog berichtete auch da).

Weil wir in der Berichterstattung von “Bild” einen Verstoß gegen den Pressekodex sahen, haben wir uns beim Deutschen Presserat beschwert und waren damit nicht allein.

Ziffer 1 Pressekodex

Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.

Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.

In seiner Stellungnahme an den Presserat erklärte die Rechtsvertretung der Axel Springer AG, dass sie die Bezeichnungen “Sexbestie”, “Perverser” oder “Dreckschwein” für zulässig halte. (Über das besondere Verhältnis von “Bild” zur Bezeichnung “Schwein” hatten wir auch schon mal berichtet.) Ausschlaggebend seien hierfür die besonderen Umstände des Falls. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik habe das Bundeskriminalamt öffentlich nach einem Mann gefahndet, dem mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen werde.

“Bild” möchte den Mann also gerne als “Dreckschwein” bezeichnen dürfen, weil öffentlich nach ihm gefahndet worden war, und erklärt weiterhin, dass es sich “nicht nur um Wertungen der Tat durch die Redaktion” handele, sondern mit der Wortwahl “auch ausgedrückt werde, was der weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung über den Mann denke”.

Der Beschwerdeausschuss sieht in der Bezeichnung “Dreckschwein” hingegen eine Beleidigung, die die Menschenwürde verletze. Die Bezeichnung “Sex-Bestie” hält der Ausschuss dagegen für vereinbar mit dem Pressekodex.

Auch bei der Veröffentlichung der Fotos beruft sich das Springer-Justitiariat auf das große öffentliche Interesse an dem Fall. Außerdem habe der Presserat schon öfter entschieden, dass bei einem vorliegenden Geständnis auch identifizierend über Tatverdächtige berichtet werden dürfe. Etwas unglücklich für diese Argumentationsführung ist freilich der Umstand, dass der Angeklagte bisher noch gar kein Geständnis abgelegt hat, was dann sogar dem Presserat auffiel.

Er hält die erneute Veröffentlichung der Fotos für unzulässig und verweist ausdrücklich darauf, dass das BKA die Aufnahmen offiziell zurückgezogen habe.

Wegen Verstoßes gegen Ziffer 8, Richtlinie 8.1 und Verletzung der Ziffer 1 des Pressekodex sprach der Beschwerdeausschuss eine “Missbilligung” gegen “Bild” und Bild.de aus. Es besteht keine Pflicht, eine solche “Missbilligung” zu veröffentlichen, “als Ausdruck fairer Berichterstattung” empfiehlt der Beschwerdeausschuss jedoch eine Veröffentlichung.

Es ist unwahrscheinlich, dass “Bild” und Bild.de gewillt sind, faire Berichterstattung ausdrücken zu wollen. Die Bilder, die der Presserat beanstandete, sind immer noch online. Aber um deren Entfernung hatte ja schon das BKA vor Monaten vergeblich gebeten. Und im Gegensatz zum Presserat sind die Leute beim BKA sogar bewaffnet.

Focus  

Bei Burda haben sich zwei gefunden

Manchmal sind es gerade scheinbar besonders unterschiedliche Partner, die perfekt zusammenpassen. Eine journalistische Zeitschrift und eine kommerzielle Kontaktbörse zum Beispiel.

Die Illustrierte “Focus” macht seit längerer Zeit fleißig Schleichwerbung für die Partnervermittlung Elitepartner.de. Die Kontaktbörse gehört der Tomorrow Focus AG, der Internet-Tochter des Burda-Verlages, der den “Focus” herausgibt.

Aus dem Pressekodex:

Bei Veröffentlichungen, die ein Eigeninteresse des Verlages betreffen, muss dieses erkennbar sein.

Dem Branchendienst “Meedia” ist aufgefallen, dass “Focus” und “Focus Online” immer wieder auf “ElitePartner” verweisen, ohne die geschäftliche Verquickung offenzulegen, wie es der Pressekodex eigentlich vorschreibt. Eine “Focus”-Sprecherin sagte gegenüber “Meedia”, man achte selbstverständlich “immer darauf, transparent zu berichten und gerade im Falle von Beteiligungen unseres Unternehmens diese auch zu erwähnen”. Wenn dieser Hinweis fehle, sei das “wohl aus Platzgründen ausnahmsweise nicht möglich gewesen”.

Das ist natürlich nicht wahr.

Der gedruckte “Focus” hat in den vergangenen beiden Jahren am 21. Januar 2008, 5. Mai 2008, 23. Juni 2008, 8. September 2008, 3. November 2008, 29. Dezember 2008, 16. Februar 2009, 27. April 2009, 27. Juli 2009, 10. August 2009 und 14. Dezember 2009 über “ElitePartner” berichtet. In keinem Fall hat der “Focus” die eigene Beteiligung an dem Unternehmen erwähnt.

Der “Focus” berichtet vor allem gerne über sinnlose Ergebnisse nicht-repräsentativer Umfragen, die das Schwesterunternehmen “ElitePartner” in großer Zahl veröffentlicht, um in die Medien zu kommen. (Ähnlich aussageschwache Umfrageergebnisse des Konkurrenzunternehmens “Parship” haben es seit Jahren nicht mehr in den “Focus” geschafft.) Gelegentlich äußert sich die Illustrierte aber auch über “ElitePartner” direkt und schreibt zum Beispiel:

Spezialisiert auf Klasse: Mittels eines Persönlichkeitstests verkuppelt die Hamburger Partneragentur Elitepartner.de anspruchsvolle Singles mit festen Bindungsabsichten.

Dafür war Platz.

Optimierungswahnsinn, Paid Content, Vietnam

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “The Year in Media Errors and Corrections”
(regrettheerror.com, englisch)
Ein sehr ausführlicher Jahresrückblick auf Fehler und Korrekturen der englischsprachigen Medien.

2. Presserat in Österreich
(medienschelte.at)
Medienschelte.at zählt drei Gründe auf, warum der zwischenzeitlich aufgelöste Presserat in Österreich “noch vor seiner Konstituierung eine Farce ist”.

3. “Masse statt Klasse”
(bf-g.de/berkner, Bastian Berkner)
Online-Redakteur Bastian Berkner schreibt, wie er “Texte und Überschriften in Richtung Suchmaschine optimieren” muss: “Langsam aber sicher geht mir der Optimierungswahnsinn aber auf den Keks, denn ich habe immer mehr das Gefühl für eine Maschine zu schreiben anstatt für meine Leser.”

4. “Wegen dieser Paid Content-Geschichte…”
(basicthinking.de/blog, André Vatter)
André Vatter widmet sich dem Zweifrontenkrieg, dem Printmedien ausgesetzt sind: “Schwindende Werbeeinnahmen und sinkende Auflagen”. Und dem Zeitungstauschring von Taxifahrern.

5. “Wie lebt es sich in einem Land mit Zensur? Ein Bericht aus Vietnam”
(blog.kooptech.de, Thomas Wanhoff)
“Ich lebe jetzt seit eineinhalb Jahren in Vietnam. Als ich hierher kam, wusste ich, welche Beschränkungen es für Journalisten gab. Ich wusste nicht, wie wenig man das merkt. Und genau das ist das Problem.”

6. “In mobile phone journalism, Africa is ahead of the west”
(guardian.co.uk/media/pda, Mercedes Bunz, englisch)
Mercedes Bunz zeigt journalistische Möglichkeiten mit dem in Afrika eher verbreiteten Mobiltelefon auf, so zum Beispiel über das Open-Source-Projekt Ushahidi, das während Krisen Informationen sammelt.

Brender, Buhrow, Simpsons

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wie gaga ist ‘Bild’ Bremen denn?”
(taz.de, Benno Schirrmeister)
“Eine halbe Seite muss die Bremer Lokalausgabe der Bild für eine Gegendarstellung räumen – in 100-Punkt-Schrift, also 3,5 Zentimeter großen Buchstaben.”

2. “Selbstkontrolle: Der Presserat lebt wieder”
(diepresse.com)
Österreich hat wieder einen Presserat: “Der ‘Verein der Selbstkontrolle der österreichischen Presse’ soll künftig zwei Senate mit je sechs Journalistenmitgliedern stellen, ein siebentes rechtskundiges Mitglied hat den Vorsitz.”

3. Interview mit Michael Sohn
(zeit.de, Julia Mayer)
AP-Fotograf Michael Sohn: “Inzwischen habe ich das Gefühl, dass auch vermeintliche Paparazzi-Fotos inszeniert sind. Zum Beispiel die Bilder der Politiker, die während der Opelverhandlungen oben am Fenster des Kanzleramts standen. Damit schien man den Eindruck erwecken zu wollen: Wir arbeiten bis tief in die Nacht für euch.”

4. “Aufregung um Brender bleibt wohl ohne Folgen”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Thomas Lückerath glaubt, dass der Fall Brender mit der Wahl von Peter Frey zum neuen ZDF-Chefredakteur “höchstwahrscheinlich und bedauernswerterweise beendet” ist. “Im Grunde also ist deshalb bei allen Beteiligten die antrainierte Empörung über die politische Konkurrenz deutlich größer als die Empörung über die Organisationsstruktur des ZDF.”

5. Interview mit Tom Buhrow
(cafeterra.de, Sabrina Gundert)
Tagesthemen-Moderator Tom Buhrow sagt, was ein Journalist haben muss: “Leidenschaft. Neugier. Liebe zur Sprache. (…) Weiterhin ist Sorgfalt bedeutsam. Es geht nicht darum, irgendwas in den Medien zu sehen, was einen fasziniert, und dann einfach mal was darüber zu schreiben. Gründliche Recherche muss sein.”

6. “Newspaper Headlines from The Simpsons”
(youtube.com, Video, 8:15 Minuten, englisch)
Eine Sammlung von Zeitungsschlagzeilen bei den Simpsons.

Gerügt: Leckerer Likör und typische Zigeuner

Das gekauft wirkende Loblied auf eine Fluggesellschaft ist nicht der einzige Artikel aus der “Welt am Sonntag”, der jetzt vom Presserat beanstandet wurde, weil er das Trennungsgebot von Werbung und Redaktion verletzt. Das Gremium rügte auch einen “WamS”-Artikel, in dem ein Münchner “Barchef” das hohe Lied auf ein Mixgetränk mit dem Likör einer bestimmten Marke sang. Genauer:

Wer derzeit in die Gläser der Republik schaut, sieht vor allem: Orange. Aperol Sprizz heißt das süffige Sommer-“Must-have”, wie man so sagt, von einem Trend zu sprechen wäre fast schon untertrieben, denn das modische Getränk ist allgegenwärtig. (…)

Spätestens seit diesem Frühling hat der Sprizz seinen Siegeszug durch ganz Deutschland angetreten, unterstützt von einem klug gemachten Fernsehwerbespot, in dem zwei Mädels per Handzeichen signalisieren, dass sie dazugehören zur großen, fröhlichen Aperol-Gemeinde. Diese wächst weiter, und man fragt sich, was den kollektiven Erfrischungsrausch in diesem Maße ausgelöst haben könnte. In der Eckkneipe wird ebenso “gesprizzt” wie am Gestade der hippen, innerstädtischen Strandbar.

Glaubt man den dort durch ausreichend Sprizz-Bestellungen Seliggewordenen in ihren Liegestühlen, dann entspringt der Kombination Strandbar und Sprizz der Erholungswert eines kleinen Italien-Urlaubs für zwischendurch. Dolce Vita in Dortmund. Oder Hamburg, Düsseldorf, Stuttgart, Berlin. (…)

Bei der “Welt am Sonntag” hielt man das womöglich für Journalismus, der Presserat war weniger besoffen. Er rügte allerdings nur “Welt Online”, wo der “WamS”-Artikel offenbar ursprünglich zudem “mit einem großformatigen Werbefoto des Likör-Herstellers, auf dem der Schriftzug des Getränks plakativ hervorgehoben wurde” illustriert war.

* * *

Wenn sich jemand beim Presserat über einen Online-Artikel beschwert, schaut das behördenähnliche Gremium anscheinend nicht nach, ob der nicht einfach aus der Zeitung übernommen worde. Das zeigt auch die Rüge für die Berichterstattung von Bild.de über ein Familiendrama, bei dem eine Mutter sich und ihre drei Kinder in einem Auto angezündet und so getötet hatte. Bild.de zeigt in einer Bilderstrecke nicht nur abwechselnd Fotos von dem ausgebrannten Auto und dem Abtransport einer Leiche und Werbung u.a. für das Kontaktportal StayFriends (“Schulfreunde wiederfinden”), sondern auch sechs offenbar private Fotos von den Kindern und der Mutter. Nach Ansicht des Presserates verletzt das die Persönlichkeitsrechte der Opfer. Die identifizierende Berichterstattung habe vor allem mit Rücksicht auf die Angehörigen unterbleiben müssen. Bild.de habe außerdem gegen das Gebot verstoßen, bei Selbstmorden besonders zurückhaltend zu berichten.

Aber die gerügte Berichterstattung auf Bild.de stammt aus der gedruckten “Bild”-Zeitung. An zwei Tagen in Folge berichteten die “Bild”-Leute Noel Altendorf, Matthias Lukaschewitsch, Rainer Mittelstaedt, Peter Rossberg und Marco Zitzow detalliert, in großer Aufmachung und mit privaten Fotos von den Opfern über den Fall. “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann hat die Suizid-Berichterstattung seines Blattes vor längerer Zeit zur Chefsache gemacht. Dennoch verstößt “Bild” in diesen Fällen immer wieder gegen den Pressekodex. Oder deswegen.

* * *

Die “Thüringer Allgemeine” kassierte eine Rüge für einen Artikel, in dem sie mit Peter Albach abrechnete, dem Bürgermeister von Weißensee, der bis zur jüngsten Wahl auch für die CDU im Bundestag saß. Denn was die Zeitung ihren Lesern verschwieg: Der Autor des kritischen Textes hatte bis kurz zuvor noch die Öffentlichkeitsarbeit für die Stadt Weißensee gemacht. Anscheinend gab es dann eine unschöne Trennung, jedenfalls einen Interessenskonflikt — der Presserat rügte die mangelnde Transparenz, die das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien gefährde.

* * *

Der “Sarstedter Anzeiger”, der zur “Hildesheimer Allgemeinen Zeitung” gehört, wurde für die Berichterstattung über eine Familie gerügt, die in so katastrophalen hygienischen Verhältnissen lebte, dass das Jugendamt die 16-jährige Tochter in seine Obhut nahm. Der “Sarstedter Anzeiger” habe so viele Details benannt und Fotos gezeigt, dass die Familie für die breite Öffentlichkeit erkennbar geworden sei — obwohl kein öffentliches Interesse vorgelegen habe.

* * *

Und dann war da noch Holger Borchard, Redakteur der “Offenbach-Post” in Langen, der anscheinend verzweifelt nach Wegen sucht, seine Abneigung gegen Sinti und Roma auszurücken. In einem Artikel über Betrüger, die behaupten, für die Langener Tafel zu sammeln, formulierte er vermeintlich oberschlau:

Der Zeuge, nach eigenen Worten selbst Nutznießer der Langener Tafel, hatte der Polizei gegen 14.30 Uhr vier Frauen “südländischen Aussehens” gemeldet, die Passanten auf der Bahnstraße um Spenden für die Langener Tafel anbettelten. Die ausgesandte Funkstreife fing das beschriebene Quartett, darunter eine Zehnjährige, Minuten später auf der Einkaufsmeile ab. Zur — laut Polizeisprecher Henry Faltin “nicht gerade einfachen” — Überprüfung der Personalien wurden die Vier auf die Wache mitgenommen.

Bei den drei erwachsenen Frauen handelte es sich um eine Südosteuropäerin, eine Staatenlose und eine Deutsche — alle einwandfrei einer Volksgruppe zuzuordnen, deren Namen eine Zeitung heute nicht mehr schreiben darf, weil sich sie sich damit garantiert eine Rüge vom Presserat einhandelt. Wir bitten daher um Verständnis, dass wir es wie die Ordnungshüter beim unverfänglichen Hinweis auf besagter Damen Vorliebe für bunte Kleider belassen …

Der Presserat rügte den “klaren Verstoß” gegen das Diskriminierungsverbot im Pressekodex. Die Online-Ausgabe der “Offenbach-Post” habe mit ihrer “ironisch-herabsetzenden Umschreibung” der Frauen aus vermeintlicher Rücksicht auf den Pressekodex noch mehr betont, dass die angeblichen Täterinnen einer ethnischen Minderheit angehören — ohne einen sachlichen Grund zu nennen, warum das relevant ist.

Die feengleichen Damen von Singapore Airlines

Kann sein, dass alles nur ein großes Missverständnis ist. Dass die Hymne, die der Schriftsteller und Journalist Philipp Tingler am 30. August in der “Welt am Sonntag” auf die Erste Klasse der Singapore Airlines geschrieben hat, die famose, fantastische, süchtig machende Erste Klasse von Singapore Airlines, in Wahrheit eine ironische Abrechnung mit der ekelhaften Oberflächlichkeit und Käuflichkeit des Reisejournalismus ist.

Oder eben einer der plumpesten Werbetexte, die sich in jüngerer Zeit in deutschen Medien als Artikel getarnt haben.

Ich spreche heute zu Ihnen aus einem Land, wo jede Bewegung zart ist, jeder Wunsch erfüllbar und das Porzellan von Givenchy. Es dies [sic!] ein Land, wo es keine bösen Worte gibt, höchstens manchmal milde Turbulenzen, kein garstiges Licht, keinen störenden Laut. Ein Land, durch das Zauberwesen huschen, die unendlich viele Kaffeevarianten kennen; Feen, die Ihnen ein Bett im Himmel machen und für jedes Problem eine Lösung finden. Ich spreche zu Ihnen aus der First Class von Singapore Airlines.

Ich hatte perfekte Voraussetzungen, die First Class von Singapore Airlines zu testen (…). “Gelegentlich müssen wir die Passagiere der Businessclass davon abhalten, hierher abzudriften”, erklärt mir die reizende Dame von Singapore Airlines, die mich durch die Hallen für die First Class führt. (…) Es gibt hier einen Chef, der Pancakes zubereitet, die heutige Tagesspezialität, nebst anderen Köstlichkeiten, und Natasha, eine weitere reizende junge Dame vom Singapore Airlines Public Affairs Department, die hierhergekommen ist, um mir Gesellschaft zu leisten, sagt: “Verderben Sie sich nicht den Appetit. Im Flugzeug gibt es gleich eine Delikatesse nach der anderen.” (…)

Die Boeing-777-300-Flotte von Singapore Airlines, die neben Zürich unter anderem Frankfurt, Mailand und Barcelona bedient, ist ziemlich neu und verfügt in der sogenannten Premiumkabine ganz vorne im Flugzeug über acht riesige First-Class-Sessel in zwei Reihen. Diese lederbezogenen und knapp 90 Zentimeter breiten Sessel sind der geräumigste Sitz, der jemals von einer Fluggesellschaft für den kommerziellen Flugbetrieb eingeführt wurde, sagt Singapore Airlines. (…)

Auch bei Singapore Airlines ist, wenn es um die sogenannte “New First Class” in der B 777 geht, in der ich unterwegs bin, die Rede von “feingenarbtem Leder” und “exquisiten Polstern” und “üppigen Duvets” — doch das hier, diese real existierende First Class Cabin, ist tatsächlich ein Refugium, wo Luxus und Erlebnis noch Bedeutung haben, wo Reisen noch glamourös und stilvoll ist, wie früher, als ein Flugticket noch keine Massenware war. (…) Während ich nun ein ansehnliches Steak verschlinge, schaue ich auf meinem 58-Zentimeter-Flachbildschirm (“dem größten im Himmel”, wie Singapore Airlines sagt) “Frost/Nixon” und ein paar Folgen von “Beautiful People”.

Das Unterhaltungsprogramm von Singapore Airlines heißt KrisWorld und umfasst an Bord der Boeing 777 ungefähr 1000 Optionen, neben Spielfilmen und Fernsehformaten auch Spiele und Audioprogramme sowie ein interaktives Sprachlernprogramm. (…)

Stattdessen fühle ich mich ein wenig schläfrig, und so bringt mir die feengleiche Dame von Singapore Airlines meinen Givenchy-Pyjama und mein Frischmacher-Kit von Ferragamo (…).

Es ist eine süße Grausamkeit, seinen ersten First-Class-Flug in der First Class von Singapore Airlines zu absolvieren, denn diese Klasse ist wie Heroin, sie macht schnell abhängig, und der Entzug ist grausam. Nein, nicht wie Heroin, das klingt zu fies, eher wie der Garten Eden oder das Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen und einem reife Früchte in den Mund fallen. Moment mal, was ist eigentlich mit den Leuten im Paradies passiert? Gab es da nicht ein unschönes Ende? Bei Singapore Airlines weiß man zum Glück darum — und bietet an Bord keine Äpfel an.

Mit dieser, nun ja, Pointe endet der eigentliche Artikel (es folgen dann natürlich noch detaillierte Angaben über Buchungsmöglichkeiten und Preise). Der Text rief aber dann doch nicht die Humorpolizei, sondern nur den Deutschen Presserat auf den Plan. Der stellte fest, dass der Autor den Namen der Fluglinie “nicht weniger als 14 Mal” nannte, die Bilder “PR-Fotos der Fluggesellschaft” waren und der Autor seine “ausschließlich positiven Erfahrungen so schwärmerisch” darstellte, “dass die Grenze zur Schleichwerbung nach Richtlinie 7.2 des Kodex deutlich überschritten wurde”.

Der Presserat sprach eine Rüge aus.

Kein Herz für tote Kinder

Auf der Startseite von Bild.de findet sich tagtäglich die Rubrik “Ein Herz für Kinder”. Vorbildlich: Schließlich wird in unserer fortschrittlichen Gesellschaft noch immer allzu oft auf den Rechten von Kindern und Jugendlichen herum getrampelt. Und damit man das nicht vergisst, trampelt Bild.de besonders oft auf den Rechten von Kindern und Jugendlichen herum. Schließlich sind auch schlechte Vorbilder Vorbilder.

Aktuelles Beispiel: Die Berichterstattung über die Identifizierung einer 16-Jährigen, deren Leiche Mitte Oktober in Niederzissen entdeckt wurde. Bild.de nutzt die Meldung der Polizei Koblenz über die Identifizierung der Toten, um das Bild der 16jährigen am Freitag prominent auf der Startseite zu platzieren.

News - Ein Herz Für Kinder - Leserreporter. Mordfall Niederzissen: Identität der nackten Mädchenleiche geklärt

Obwohl die Notwendigkeit der Veröffentlichung durch die zweifelsfreie Identifizierung der Toten nicht mehr gegeben ist, verwendet Bild.de das Bild – wie gewohnt – weiter.

Und das nicht nur einmal — auch am Samstag erscheint das Bild noch einmal ohne Anonymisierung oder Rücksichten auf Rechte von Verbrechensopfern und ihrer Angehörigen auf der Startseite von Bild.de:

News - Ein Herz Für Kinder - Leserreporter. Wieder 2 Todesfälle: Dieses Kind starb an Schweinegrippe -- Das Mädchen lacht, strahlt, springt auf dem Trampolin: Ein Foto voller Lebensfreude. Doch jetzt ist Nina (11, Name geändert) tot – Schweinegrippe! Nackte Tote identifiziert: Nicht mal ihre Mutter hatte sie vermisst! Vor 6 Wochen entdeckte ein Bauer eine nackte Mädchenleiche. Erst jetzt wurde sie identifiziert. Traurig: nicht mal ihre Mutter hatte sie vermisst!

Laut Pressekodex wägt die “Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab.”

Bei den Redakteuren von Bild.de ist die Abwägung eine andere: Genommen wird, was einfacher zu bekommen ist und am meisten Auflage bringt — egal wie entwürdigend und traumatisierend das Motiv auch sein mag. Im Fall des Kindes, das angeblich an der Schweinegrippe gestorben ist, greift die Redaktion zu einem Foto, das eindeutig in privatem Rahmen entstanden ist und wohl nie zur Veröffentlichung bestimmt war.

Zynisch formuliert: Wer nicht wochenlang als Leiche auf der Startseite von Bild.de erscheinen will, sollte ausreichend Privatfotos im Zugriffsbereich der Bild.de-Redakteure hinterlassen.

Ein Herz für Kinder? Aber nur, wenn es Auflage und Klicks bringt.

Nachtrag, 1. Dezember: Die Meldung über die erste Festnahme im Mordfall nimmt Bild.de zum Anlass, ein weiteres Bild des Leichnams des 16-jährigen Opfers prominent auf der Startseite zu platzieren – und verzichtet natürlich wieder auf eine Anonymisierung.

Bild  

Schweine-Pandemie

"Schon wieder so ein brandgefährlicher Kinderschänder frei -- JUSTIZ LÄSST ******* LAUFEN (Schwein darf BILD nicht schreiben, sonst gibt es Ärger mit dem Presserat)"

Zu Beginn des Jahres bekam “Bild” wegen dieser Überschrift eine “Missbilligung” vom Deutschen Presserat, der darin eine Verletzung der Menschenwürde des betroffenen Mannes sah (BILDblog berichtete).

Im Oktober bezeichnete die Zeitung einen weiteren Sexualstraftäter als “Drecksschwein” (BILDblog berichtete). Mit diesem Fall wird sich der Presserat nach einer Beschwerde von uns bei seiner nächsten Sitzung befassen.

Vielleicht glaubt man bei “Bild”, dass der Presserat Bonushefte ausgibt. Heute jedenfalls füllt diese Überschrift über einen Sexualstraftäter, den sein eigener Anwalt laut “Bild” als “schwachsinnig” bezeichnet, ein gutes Viertel der Seite 3 in der Ruhrgebietsausgabe:

Justiz-Schande! Sex-Schwein (19) vergewaltigt Schüler (8) im Wald

Bild  

Schuldig bis zum Beweis des Gegenteils

Seit gestern hat die “Bild” einen Schauspieler (“erfolgreich, gut aussehend und beliebt”) in der Mangel. Genauer gesagt: Seit er unter dem Verdacht, zwei Frauen vergewaltigt zu haben, verhaftet wurde. Was bis jetzt gegen den Mann vorliegt, ist — erstmal ein Verdacht. Angeblich wurde seine DNA am Tatort gefunden, “ein Ermittler” sagte deswegen zu “Bild”: “Für uns gilt er als überführt.” Eine DNA-Spur und die Meinung eines nicht näher benannten Ermittlers, das reicht für “Bild” zu folgender Schlagzeile aus:

TV-Star vergewaltigt Mutter und Tochter
(Unkenntlichmachung von uns)

Weitere Begründung von “Bild” für diese doch gewagte Behauptung: Die Staatsanwaltschaft sei sich sicher, den Schauspieler auch der Vergewaltigung überführen zu können. Sagt zumindest “Bild”. Das offizielle Statement des zuständigen Oberstaatsanwalts liest sich schon weitaus zurückhaltender: “Wir ermitteln wegen Vergewaltigung, gefährlicher Körperverletzung, schweren Raubes, Freiheitsberaubung und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz.”

Dabei war Bild.de am Tag davor noch ein wenig vorsichtiger mit dem Schauspieler umgegangen: Aufgrund ungefähr der gleichen Faktenlage formulierte man da die Überschrift wenigstens noch als Frage. Am Tag darauf wird daraus schon eine Feststellung.

Auch die von “Bild” ins Feld geführte DNA-Spur ist erst einmal nichts anderes als ein Indiz. DNA-Auswertungen dürfen bei einer Gerichtsverhandlung nie als alleiniges Beweismittel gewertet werden. Sollte also tatsächlich die DNA des Schauspielers am Tatort gefunden worden sein, rechtfertigt das noch lange nicht die Aussage, dass der Verdächtige als überführt zu gelten hat.

Indes: Wenn jemand erst einmal in der “Bild”-Redaktion irgendwie als “überführt” gilt, dann bleibt er das — solange, bis ein Gericht im das Gegenteil attestiert. Andreas Türck und eine bekannte Sängerin, eine vermeintliche “Feuer-Chaotin” und sicher nicht nur sie können davon Geschichten erzählen.

Für “Bild” gilt unter Umkehrung von Recht und Pressekodex: die Schuldsvermutung.

Mit Dank an Stephan F.,  B.W.,  Ellen L. und  Annika H.

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