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Der Stammbaum des Verbrechens

Der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer hat vor ein paar Tagen den Vorschlag gemacht, den Pressekodex zu ändern. Er möchte, dass Journalisten nicht länger verschweigen, aus welchem Land Straftäter kommen. Bislang verzichten sie auf derartige Angaben, weil der Pressekodex sie dazu auffordert, die Herkunft von Tätern nur dann zu erwähnen, wenn diese Information für das Verständnis der Tat von Bedeutung ist — wenn also zum Beispiel ein Wohnwagen-Gespann einen Fußgänger überfährt und sich im Nachhinein herausstellt: Es war ein Holländer.

Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)

Ich hoffe, ich hab’ das richtig verstanden.

Die Richtlinie 12.1 im Pressekodex lautet:

In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.

Diese Richtlinie soll verhindern, dass Minderheiten diskriminiert werden. Und nachdem man sie gelesen hat, sieht man schon: Wenn wir sie streichen, müssen wir auch konsequent sein. Wir können uns schlecht darauf beschränken, nur die Nationalität zu nennen. Wir müssen alle Minderheiten gleich behandeln. Deswegen müssen wir auch alle erwähnen. In den Nachrichten würde das dann in etwa so klingen:

Ein kleinwüchsiger Wallone aus Lüttich hat am Mittwochmittag in Bochum einen Auffahr-Unfall verursacht. Der Mann ist Veganer.

Oder:

Eine 36-jährige Diabetikerin aus Hof hat am Dienstag eine Sparkasse in Nürnberg überfallen. Bei der Täterin handelt es sich um eine fettleibige Atheistin.

Oder vielleicht auch:

Ein koptischer Christ aus Kirgisistan ist vom Landgericht Stuttgart wegen Geldwäsche zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Der Mann leidet an einer Hausstaubmilben-Allergie und ist Anhänger von RB Leipzig.

Ja, das müsste man der Vollständigkeit halber dazusagen.

Wobei man ja schon bei der Herkunft nicht so recht wüsste, wo man am besten die Grenze zieht. Wenn ein in Berlin lebender Brite in einer Münchener Kneipe die Zeche prellt, wäre dann von Bedeutung, ob er aus England kommt oder aus Schottland? Und wäre es ein weiterer Hinweis, wenn er nicht in Berlin-Mitte leben würde, sondern im schwäbischen Teil von Kreuzberg? Und was, wenn er zwar Brite ist, aber in Zypern geboren wurde? Kann man das einfach so verschweigen?

Da müsste man vielleicht mal Andreas Scheuer fragen. In dem Fall wäre ja vielleicht sogar von Bedeutung, auf welchem Teil der Insel er zur Welt gekommen ist: auf dem türkischen oder dem griechischen? Wahrscheinlich dann wohl auf dem griechischen. Die haben ja die Probleme mit dem Geld. So war das doch, oder? Und dann kann man sich auch schon denken, was das für einer ist. Die Zeche geprellt in München. Und das mit dieser Vorgeschichte. Unglaublich.

Mal angenommen, es gäbe jetzt noch einen Großvater aus Russland. Was wäre dann? Wäre das nicht auch eine interessante Information? Die Affinität zu Hochprozentigem läge nähe. Und das könnte eine Erklärung für die Tat sein.

Überhaupt sind Eltern und Großeltern doch eigentlich ein viel wichtigeres Indiz, wenn es um Straftaten geht. So eine Staatsbürgerschaft kann ja auch Zufall sein: Man war halt gerade in Los Angeles, als man geboren wurde. Aber beide Eltern Libanesen. In der Zeitung stand nur: “Der Dreifach-Mörder war US-Amerikaner.” Tja, so entsteht fälschlicherweise schnell ein vertrauenserweckender Eindruck.

Bei der Nachbarin im dritten Stock hört man die italienischen Wurzeln sogar noch durch die gedämmten Innenwände heraus. Das ist jedenfalls mein Empfinden. Der dumpfe Knall neulich, das war sicher ein Nudelholz, und wenn die mal im falschen Moment ein Messer in die Hand bekäme — ich würde für nichts mehr garantieren.

Aber kann man das wirklich alles berücksichtigen? Wie sähe dann die Berichterstattung aus?

Bei einem Familienstreit in Münster ist am Samstagmorgen ein 55-jähriger Mann erstochen worden. Die 53-jährige Täterin hat eine belgische Mutter und einen norwegischen Vater. Wichtig dürfte in diesem Zusammenhang aber vor allem der sizilianische Großvater sein. Nach Polizeiangaben ging es in dem Streit um Drogen. Der getötete Mann war Jamaikaner.

Dann ist ja alles klar. Aber kurz darauf stellt sich heraus: Die Großmutter der Täterin war Schwedin, was in der Sache vielleicht auch nicht ganz unwichtig ist. Um zu sehen, was bei denen verbrechenstechnisch so los ist, muss man ja im Prinzip nur einmal durch eine Buchhandlung laufen. Und dann meldet die Polizei zwei Tage später: Die Frau war auf Speed, aber der Mann hatte überhaupt nichts genommen. Die totale Verwirrung.

Es ist alles sehr kompliziert. Aber wenn wir nichts verschweigen wollen, müssen wir uns die Mühe machen, dann müssen wir alle bekannten Fakten nennen. Nur dann müssen wir auch konsequent sein. Und wenn kurz nach Weihnachten am Düsseldorfer Rheinufer ein Flüchtling von einem Betrunkenen zusammengeschlagen wird, müssen wir, wenn die Fakten eben so sind, in der Polizei-Meldung auch dazuschreiben: “Bei dem betrunkenen Täter handelte es sich um ein CSU-Mitglied. Der Mann stammte aus Bayern.”

Journalisten in Haft, Mafia-Berichte, Projekt “Schmalbart”

1. Justiz muss führende Journalisten freilassen
(reporter-ohne-grenzen.de)
Seit über zwei Wochen sitzen die myanmarischen Journalisten Than Htut Aung und Wai Phyo in Untersuchungshaft. Sie hatten in einem Kommentar Korruptionsvorwürfe gegen einen Politiker der regierenden “Nationalen Liga für Demokratie” angedeutet. Die “Reporter ohne Grenzen” fordern ihre sofortige Freilassung und berichten in ihrem Appell über die aktuelle Situation der Pressefreiheit in Myanmar, das auf der “Rangliste der Pressefreiheit” auf Platz 143 von 180 Staaten liegt.

2. Flüchtlinge — Presserat bietet “Checkliste” für Berichterstattung
(derstandard.at)
Der Presserat in Österreich hat eine Checkliste zum “verantwortungsvollen Journalismus in der Flüchtlingsberichterstattung” veröffentlicht. Zehn Fragen sollen dabei helfen, sachlich über das Thema zu berichten, das “in der Bevölkerung, aber auch in den Medien ’emotional und kontrovers’ diskutiert” werde. Kostprobe: “Würde ich über ein Fehlverhalten auch dann berichten, wenn es nicht von einem Ausländer/Asylwerber/Migranten gesetzt worden wäre?” oder “Bin ich mir im Klaren darüber, welche Absichten meine Hinweisgeber/ Recherchequellen verfolgen?”

3. “Ich gewinne leider nie”
(taz.de, Ambros Waibel)
Claudio Cordova hat vor vier Jahren die Webzeitung “il dispaccio” gegründet, die über die Mafia und das Beziehungsgeflecht der Ndrangheta berichtet. Im Interview mit “taz”-Redakteur Ambros Waibel erzählt er von investigativer Arbeit im Umfeld der organisierten Kriminalität, einer Million Euro Schadenersatz und das Problem mit Werbekunden, die zur Mafia gehören könnten.

4. Staunen über eine Nachricht zur ARD-Struktur: Wenn “Bild” medienpolitisch aktiv wird
(medienkorrespondenz.de, Dietrich Leder)
Vergangene Woche meldeten die “Bild”-Medien, es gebe einen Fusionsplan für die “ARD”: Statt den bisher neun Anstalten könnte es bald nur noch vier geben. Das Presseteam der “ARD” sagte ziemlich schnell, dass das “blanker Unsinn” sei. Dietrich Leder erkennt in der steten Diskussion “um etwaige oder reale Reformpläne des öffentlich-rechtlichen Systems” Interessen der Zeitungsverlage: “Die Zeitungsverleger haben sich mit der Existenz dieses nicht-privatwirtschaftlichen Mediensystems bis heute nicht abfinden können und delegieren deshalb an dieses öffentlich-rechtliche System permanent die Ursachen ihres eigenen Versagens, etwa was ihre Situation im Internet betrifft.”

5. Wie geht das genau mit dem Gegenlesen?
(tagesanzeiger.ch, Philipp Loser)
“Nun sag, wie hast du’s mit dem Gegenlesen?” Philipp Loser erklärt, wie der “Tages-Anzeiger” es mit dem Autorisieren von Interviews, Zitaten und ganzen Texten hält. Er hofft auf mehr Politiker, Verwaltungsangestellte, Funktionäre, die souverän aufs Gegenlesen verzichten, auch im Sinne eins guten Journalismus: “Wer von Anfang weiss, dass der Politiker nicht mehr draufschauen wird, formuliert exakter, wortgetreuer.”

6. Projekt “Schmalbart” — eine Einladung
(christophkappes.de)
Die Ankündigung von “Breitbart”, bald auch in Deutschland einen Ableger der “Alt-Right”-“Nachrichten”-Seite aufzubauen, führte bei einigen Leuten zur gleichen Reaktion: “Dagegen muss man doch was tun!” Auch bei Christoph Kappes. Damit auch wirklich was dagegen getan wird, hat er ein schon ziemlich detailliertes Konzept entwickelt für das “Projekt ‘Schmalbart'”. Mitstreiter sind sehr willkommen.

Opfer bringen

Jörg Völkerling ist selbst für “Bild”-Verhältnisse ein besonderer Fall. Wenn sich beispielsweise eine Angeklagte vor einem Gerichtsprozess einen Aktenordner vors Gesicht hält, dann machen alle Fotografen Fotos von der Frau mit dem Aktenordner vor dem Gesicht. “Bild”-Polizei-und-Gerichtsreporter Völkerling sucht sich hingegen einen Platz im Saal, von dem aus er hinter den Ordner fotografieren kann. Ha, mal wieder alle reingelegt!

Völkerling war es auch, der Wetter-Moderator Jörg Kachelmann beim Hofgang in der Justizvollzugsanstalt Mannheim fotografierte — unerlaubter Weise, wie ein Gericht später feststellte. Als Kachelmann dann bei Twitter ein Foto von Völkerling auf der Lauer verbreitete, ging der “Bild”-Reporter vergeblich dagegen vor.

Jetzt hat Jörg Völkerling wieder mit einer für ihn typischen Aktion zugeschlagen.

Vor dem Landgericht Aschaffenburg läuft seit Donnerstag ein Prozess wegen zweifachen versuchten Totschlags, über den Völkerling berichtet. Der Fall in Kurzform: Ein Mann soll mit seinem Auto ziemlich dicht an zwei jungen Fußgängern vorbeigerast sein. Diese sollen ihm daraufhin einen Vogel und den Mittelfinger gezeigt haben. Der Mann soll gebremst, den Rückwärtsgang eingelegt und die beiden Fußgänger über den Haufen gefahren haben. Diese schleuderten gegen eine Hauswand und mussten mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Der Angeklagte sagt, er habe die jungen Männer lediglich zur Rede stellen wollen, er könne sich nicht erklären, warum sein Auto auf den Gehweg ausbrach.

“Bild” brachte gestern in der Bundesausgabe einen großen Artikel über den Prozessauftakt:


(Unkenntlichmachungen durch uns.)

Und auch Bild.de berichtete:


(Zusätzliche Unkenntlichmachungen durch uns.)

Dass die “Bild”-Medien ganz selbstverständlich ein Foto des (noch nicht verurteilten) Angeklagten veröffentlichen, ist zwar bedenklich, aber nicht ungewöhnlich. Schließlich scheint im Axel-Springer-Hochhaus der Grundsatz zu gelten: Leute, denen etwas vorgeworfen wird, wird man ja wohl noch zeigen dürfen!

Jörg Völkerling hat aber auch die zwei Opfer fotografiert.* Und das — so wirkt das Foto jedenfalls –, obwohl sie es nicht wollten: Das eine Opfer hat sich eine Kapuze übergezogen; das andere Opfer hat blöderweise keine Kapuze, hält sich dafür aber die Hand vors Gesicht. Beide haben sich von Völkerlings Kamera weggedreht. Und dennoch veröffentlichen “Bild” und Bild.de dieses Foto:


(Zusätzliche Unkenntlichmachungen durch uns.)

Im Pressekodex des Deutschen Presserats steht zum “Opferschutz”:

Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

Nach Zustimmung sieht es in diesem Fall wahrlich nicht aus. Dennoch bedrängt “Bild”-Spezialfall Jörg Völkerling mit seiner Kamera die zwei Opfer, die eigentlich nur zu ihrem Gerichtsprozess und dabei nicht fotografiert werden wollen.

An dem Fall in Aschaffenburg kann man übrigens ganz gut sehen, nach welchen Kriterien die “Bild”-Medien Anonymisierungs-Balken und Verpixelungen verteilen: offenbar nach keinen. Bei Bild.de hat der Angeklagte einen schwarzen Balken vor die Augen gesetzt bekommen, das Gesicht des Opfers ohne Kapuze hat die Redaktion verpixelt. In der Print-Version gibt es weder das eine noch das andere.

Mit Dank an Philipp für den Hinweis!

*Korrektur, 27. November: Jörg Völkerling sagt, dass er von den Opfern “selbstverständlich” eine Zustimmung zur Veröffentlichung des Fotos hatte:

Unser Fehler tut uns leid, wir ziehen die Kritik an der Veröffentlichung des Opferfotos zurück. An den anderen Kritikpunkten (Veröffentlichung eines Fotos des Angeklagten, willkürliche Anonymisierung bei “Bild” und Bild.de) halten wir hingegen fest.

Neoliberal-Battle, Kopp-Kongress, Böhmermann-Verlautbarung

1. Oskars Rage
(taz.de, Georg Löwisch)
Oskar Lafontaine hat auf Facebook geschimpft, die “taz” gehöre zu einer „neoliberalen Kampfpresse“. Er hatte sich über einen “taz”-Artikel geärgert, in dem es um das Doppel-Interview der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” mit Sahra Wagenknecht und der AfD-Chefin Frauke Petry ging. Das kann und will Chefredakteur Georg Löwisch nicht auf sich sitzen lassen und antwortet in einem Kommentar: “Den taz-Artikel, den Lafontaine als Ergebnis neoliberaler Kampfpresse schmäht, hat ausgerechnet Ulrike Herrmann geschrieben: unsere wirtschaftspolitische Korrespondentin, die kundig wie keine andere im Land neoliberale Politik auseinandernimmt. Bizarr, ausgerechnet diese Korrespondentin greift er an. Es ist ein Detail, aber es gehört zur Tragik dieses Mannes, der einmal die Courage selbst war und dem nun nur noch die Rage geblieben ist.”

2. Nicolaus Fest zieht es zur AfD
(tagesspiegel.de, Fabian Leber)
Die Berliner AfD freut sich über einen prominenten Neuzugang. Dabei soll es sich um den Ex-Springer-Journalisten Nicolaus Fest handeln. Fest war ehemaliger stellvertretender Chefredakteur der “Bild am Sonntag” und Sohn des früheren FAZ-Herausgebers Joachim Fest. Ende 2014 hatte er auf eigenen Wunsch die “Bild am Sonntag” verlassen. Dem vorausgegangen war ein islamkritischer Beitrag von Fest, der viel Kritik und eine Rüge des Presserats auslöste. “BamS”-Chefredakteurin Marion Horn und “Bild”-Chefredakteur und “BamS”-Herausgeber Kai Diekmann hatten sich danach von dem Kommentar distanziert und auf mehreren Seiten eine Entschuldigung abgedruckt.

3. Wenn die Grossen bei den Kleinen klauen
(presseverein.ch, Janosch Tröhler)
Dem Online-Magazin “Negative White” ist zum wiederholten Male ein Foto gemopst und ohne Erlaubnis veröffentlicht worden. Übeltäter soll “20min.ch” gewesen sein, das größte Newsportal der Schweiz. Entsprechend sauer und frustriert fällt die Reaktion der beklauten Seite aus: “Wir könnten theoretisch mal eine dieser Abmahn-Agenturen für Nachforschungen anfragen. Doch – wie gesagt – arbeiten alle bei Negative White auf freiwilliger Basis. Wir verdienen etwas an Werbung und Partnerschaften, aber davon gibt’s knapp ein kühles Blondes, nachdem wir alle Rechnungen bezahlt haben. Und das ist es, was mich an der Sache so wütend macht. Die Leute bei Negative White arbeiten aus Leidenschaft, opfern ihre Freizeit und nehmen sogar Ferien, um der Leserschaft etwas bieten zu können. Eine unerlaubte Verwendung ihrer Arbeit ist nicht nur illegal, sondern man spuckt ihnen geradezu vor die Füße.”

4. Der kleine Mann beim Kongress des Kopp-Verlags
(ndr.de, Jakob Leube & Tobias Döll)
Am Wochenende fand in Stuttgart der Kopp-Kongress statt. Pressevertreter waren bei der Versammlung der Lügenpresse-Ankläger und Verschwörungstheoretiker nicht zugelassen. “Extra 3” hat dennoch einen Reporter entsandt, der zumindest einige der am Einlass wartenden Besucher befragen konnte, was faul im Staate ist. Ohne zu viel spoilern zu wollen: Genannt wurden die Rothschilds, die Illuminati, Obama und Marionetten…
Wer umfangreichere Kongressberichte lesen will: Moritz Tschermak war für “Übermedien” vor Ort, Anja Rützel für den “Spiegel” (Bezahllinks). Beiden sei von dieser Stelle aus gute Genesung gewünscht!

5. Can Dündar will Medienprojekt in Deutschland starten
(persoenlich.com)
Der im Exil lebende Ex-Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung “Cumhuriyet”, Can Dündar, will in Berlin ein neues Medienprojekt starten. Er wird mit den Worten zitiert: “Ich möchte hier das tun, was wir in der Türkei mit gefesselten Händen und Füssen zu machen versucht haben.”

6. Böhmermann-Affäre: Persönliche Stellungnahme von Jan Böhmermann zur Sache.
(youtube.com, Jan Böhmermann, Video: 7:09 Min.)
Jan Böhmermann gibt eine persönliche Stellungnahme zur Einstellung des Schmähgedicht-Verfahrens ab. Böhmermann steht, wie er sagt, zu 100 Prozent zum ZDF und leitet dann zum Inhaltlichen über: “Im Vergleich zu dem, was kritische Journalisten, Satiriker oder Oppositionelle damals und auch jetzt gerade durchmachen, ist dieses ganze Theater um die “Böhmermann-Affäre” schon wieder ein guter, trauriger Witz für sich, der sich leider völlig außerhalb meiner professionellen Qualitätskontrolle befindet.”

“Die Moral der Moralapostel”

Vorletzten Freitag hat der Deutsche Presserat mal wieder Rügen verteilt. Mit dabei: “Bild am Sonntag”. Heute hat das Blatt darauf reagiert, mit einem “Kommentar in eigener Sache”:

“Bild am Sonntag” hatte, genauso wie Bild.de, Fotos der teilweise noch minderjährigen Opfer des Amoklaufs in München veröffentlicht. Die Fotos dürften zum großen Teil von den Profilen der Betroffenen in Sozialen Netzwerken stammen. Katrin Saft, Vorsitzende eines der Beschwerdeausschüsse des Presserats, sagte dazu in der Entscheidung des Gremiums:

Nicht alles, was in sozialen Netzwerken verfügbar ist, darf auch ohne Einschränkung veröffentlicht werden. Die eigene Darstellung, z. B. in einem Facebook-Profil, bedeutet nicht zwingend eine Medienöffentlichkeit.

Immerhin: “Bild am Sonntag” hat mit dem Kommentar auf die Entscheidung des Presserats reagiert — und das an prominenter Stelle (direkt auf Seite 2). Sonst verstecken die “Bild”-Medien die gegen sie ausgesprochenen Rügen auch mal ganz gern zwischen “Traum-Busen” und vermissten Kängurus. Was der stellvertretende Chefredakteur Tom Drechsler schreibt, lässt einen aber doch etwas rat- und fassungslos zurück.

Da wäre zum Beispiel der Umgang mit dem Begriff der “Person der Zeitgeschichte”. Ein beliebtes Argument, wenn es um die Frage geht, über wen man identifizierend berichten darf: Wenn eine Tat ein so großes Ausmaß hat wie beispielsweise in München, dann kann man durchaus von einem zeitgeschichtlichen Ereignis sprechen. Die Persönlichkeitsrechte der Personen, die daran aktiv beteiligt sind, müssen dann eher vor dem öffentlichen Informationsinteresse zurücktreten. Drechsler erklärt in seinem Kommentar aber nicht nur den Täter von München zur Person der Zeitgeschichte, sondern auch dessen Opfer:

Wir haben nach dem Amoklauf von München acht der Opfer gezeigt. Ganz bewusst, denn erstens machte die Dimension der Tat — eines der schlimmsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte — die Opfer zu Personen der Zeitgeschichte und zweitens hatte der Täter gezielt Jagd auf Jugendliche mit Migrationshintergrund gemacht.

Dass Tom Drechsler die Argumentation des Presserats anscheinend nicht so ganz verstanden hat, zeigt sein nächstes Argument. Während es dem Presserat darum ging, dass “Bild am Sonntag” Fotos von jungen Menschen aus den Sozialen Netzwerken zusammengesucht hat, die diese Personen nie dort eingestellt hatten, um damit irgendwann mal auf der Titelseite eines Boulevardblatts zu landen, zielt Drechsler auf den Fotoinhalt — nette Fotos wird man ja wohl noch zeigen dürfen:

BamS hat keine Leichenfotos gedruckt. BamS hat acht fröhliche junge Menschen gezeigt, deren Leben von einem 18 Jahren alten Attentäter auf grausamste Weise beendet wurden. BamS hat die Opfer so gezeigt, wie ihre Angehörigen und Freunde sie kannten, sie liebten. Würdelos? Nein, würdevoll!

Um eine ästhetische Bewertung der Fotos ging es bei der Rüge allerdings nie, sondern ganz grundsätzlich um das Zusammenklauben und das hunderttausendfache Vervielfältigen von privaten Bildern.

Dass all das, was sein Team gemacht hat, gar nicht so schlimm ist, versucht Drechsler mit einem Vergleich zu belegen:

Die “New York Times” hat vor Kurzem Dutzende Fotos von Terroropfern aus der ganzen Welt gedruckt: The human toll of Terror. Ihre Geschichten zeigen, dass jeder zum Opfer werden kann.

Bei “The Human Toll of Terror” handelt es sich um ein großes Projekt der “New York Times” aus dem Juli dieses Jahres. 29 Redakteure, Reporter und Stringer haben versucht, die persönlichen Geschichten von 247 Terroropfern von verschiedenen Anschlägen auf der ganzen Welt nachzurecherchieren. Bei 222 haben sie es geschafft. Sie haben dafür mit Freunden, Angehörigen, Arbeitskollegen gesprochen, Querverbindungen zwischen einzelnen Opfern hergestellt, Fotos besorgt. In einem Werkstattbericht erzählt die Redakteurin Jodi Rudoren von der Arbeit, und es wird schnell klar, dass der Aufwand immens gewesen sein muss. Das Ergebnis ist ein ziemlich besonderes Stück Journalismus.

Dass Tom Drechsler nun dieses Beispiel heranzieht, um das Vorgehen seiner Redaktion im Fall des Amoklaufs von München zu rechtfertigen, zeugt von ziemlicher Chuzpe. Der wahrscheinlich frappierendste Unterschied ist, dass die “New York Times”-Mitarbeiter intensive Gespräche mit Angehörigen geführt haben, um an Fotos der Opfer zu kommen, während die “Bild am Sonntag”-Mitarbeiter sich mutmaßlich dafür durch Facebook geklickt haben.

Der Pressekodex sagt klar: “Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben”. Der Vater eines der Opfer von München hatte mit der Redaktion gesprochen. Ihn hatte das Blatt auch am Sonntag nach dem Amoklauf mit einem Foto des Sohnes in der Hand groß abgedruckt. Der Mann dürfte sein Okay gegeben haben; gegen die Berichterstattung ist erstmal nichts einzuwenden. Beim Großteil der anderen Getöteten dürfte eine solche Zustimmung von Angehörigen allerdings nicht vorgelegen haben. Und dennoch nutzt Drechsler sie für seine Verteidigungsschrift:

Ist diese Zurschaustellung etwa moralisch bedenklich? Die Angehörigen der Opfer waren es jedenfalls nicht, die sich beim Presserat beschwert haben.

Vielleicht lag das aber auch einfach daran, dass man im Moment tiefster Trauer nicht als erstes an eine Beschwerde beim Presserat denkt, vorausgesetzt man weiß überhaupt von seiner Existenz.

An einer Stelle seines Kommentars schreibt Tom Drechsler dann noch:

Was unterscheidet die Tat von München von Terror? Der Täter, ein schiitisch geprägter Deutsch-Iraner, tötete aus rassistischen Motiven gezielt Sunniten. Es ist absurd, da von Amok zu sprechen.

Und zwar so absurd, dass er es vor zwei Monaten noch selbst getan hat:

“Bild” zeigt private Fotos von getöteten Menschen

Am vergangenen Sonntag entdeckte die Polizei in einer Bonner Wohnung zwei Leichen. Es handelte sich um eine 48-Jährige und ihren 11-jährigen Sohn. Der Lebensgefährten der Frau und Vater des Kindes, der anfangs nirgendwo zu finden war, wurde zum Verdächtigen.

“Bild” und Bild.de berichteten am Dienstag bundesweit über den Fall und die Suche der Polizei:

In dem Artikel ist auch ein unverpixeltes Foto des Gesuchten zu sehen, was zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Sinn machte, weil er eben zur Fahndung ausgeschrieben war. Was viel problematischer ist: Die “Bild”-Medien zeigten auch ein privates Foto der getöteten Frau, ebenfalls ohne irgendeine Verpixelung:


(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Im Pressekodex des Deutschen Presserats heißt es in Richtlinie 8.2:

Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

Und als wäre das Zeigen der Frau nicht schon rücksichtslos genug, veröffentlichten “Bild” und Bild.de auch noch ein privates Foto des 11-jährigen Jungen:

Noch einmal ein Blick in den Pressekodex, dieses Mal Richtlinie 8.3:

Insbesondere in der Berichterstattung über Straftaten und Unglücksfälle dürfen Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in der Regel nicht identifizierbar sein.

Außerdem schreiben die Redaktionen über eine schwere Krankheit des Jungen.

Der Verdächtige wurde inzwischen gefasst. Ein Passant erkannte ihn, wohl auch aufgrund der Berichterstattung in den Medien. Gestern dann der nächste große Bericht, dieses Mal in der Köln-Ausgabe der “Bild”-Zeitung; bei Bild.de gab es ebenfalls einen Artikel über die neuen Geschehnisse:

In einem ersten Verhör soll der Mann zugegeben haben, seiner früheren Freundin zwar 15.000 Euro gestohlen zu haben, er bestreitet allerdings, etwas mit ihrem Tod und dem seines Sohnes zu tun zu haben. Die Reporter von “Bild” und Bild.de haben in der Zwischenzeit ein weiteres Foto der Frau und des Kindes aufgetrieben, das sie ihrer Leserschaft unbedingt präsentieren wollen:

Woher die “Bild”-Leute all die Fotos haben, verraten sie lieber nicht. In den Fotocredits heißt es wie immer in solchen Fällen: “Fotos: PRIVAT”. Das könnten sie endlich mal wörtlich nehmen.

Die Rügen-Könige aus dem Axel-Springer-Hochhaus

Im Axel-Springer-Hochhaus in Berlin klirren gerade die Champagnergläser. Julian Reichelt dreht an seinem Arbeitsrechner Queens “We Are The Champions” noch ein Stück lauter, Freddie Mercurys Stimme knarzt aus den kleinen Lautsprecherboxen. Die Mitarbeiter von “Bild”, “Bild am Sonntag” und Bild.de sind zusammengekommen. Sie liegen sich in den Armen und pusten Luftschlangen durch den großen Newsroom. Denn die große “Bild”-Familie hat es mal wieder geschafft: Sie sind die Nummer eins, unangefochten in ganz Deutschland, ein weiterer Grund, mächtig stolz auf sich zu sein. Alle drei Rügen, die der Deutsche Presserat in seiner letzten Sitzung verteilt hat, gehen an “Bild”-Medien.

***

Jeweils eine Rüge bekamen “Bild am Sonntag” und Bild.de für ihre Berichterstattung über das Attentat vor und im Münchener Olympia-Einkaufszentrum. Konkret geht es um das Zeigen von Fotos der teilweise noch minderjährigen Opfer:


Der Presserat schreibt dazu:

Der Ausschuss kritisierte, dass beide Veröffentlichungen Fotos zeigten, die ohne Einwilligung der Hinterbliebenen veröffentlicht worden waren. Einige Opfer waren minderjährig. Es handelt sich um einen schwerwiegenden Verstoß gegen Richtlinie 8.2. des Kodex, nach der die Identität von Opfern besonders zu schützen ist. Die Hinterbliebenen der Verstorbenen sollten nicht unvermittelt mit Fotos ihrer toten Angehörigen konfrontiert werden. “Nicht alles, was in sozialen Netzwerken verfügbar ist, darf auch ohne Einschränkung veröffentlicht werden. Die eigene Darstellung, z. B. in einem Facebook-Profil, bedeutet nicht zwingend eine Medienöffentlichkeit”, sagte die Vorsitzende des Ausschusses 2, Katrin Saft.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Dass die “Bild”-Medien dazu diametral entgegengesetzte Ansichten haben, kann man täglich in den vielen “Bild”-Regionalausgabe und bei Bild.de beobachten.

Der Presserat beschäftigte sich übrigens auch mit Beschwerden zur Berichterstattung über den Täter von München. Im Veröffentlichen der Fotos, die ihn zeigen, und Nennen seines Namens sah das Gremium allerdings keinen Verstoß gegen den Pressekodex:

Die Tat in München hatte ein großes öffentliches Interesse ausgelöst und Fragen nach dem Motiv und nach den Hintergründen der Tat aufgeworfen. Das öffentliche Interesse am Täter ist höher zu bewerten als der Schutz der Persönlichkeit nach Ziffer 8 des Kodex, die Darstellung war presseethisch akzeptabel, urteilte der Beschwerdeausschuss.

***

Die dritte Rüge ging an Julian Reichelts Bild.de, womit er “Bild”-interner Rügen-König wurde. Sein Portal berichtete im Mai über einen Messerangriff in einem Dortmunder Kaufhaus. Bild.de zeigte ein Video, in dem das Opfer neben einer Blutlache auf dem Bauch lag, das Messer steckte noch in seinem Rücken:

Der Beitrag unter der Überschrift “Brutale Messerattacke auf Video aufgenommen” zeigt den Handymitschnitt eines Passanten, auf dem das Opfer zu sehen ist, wie es mit einem Messer im Rücken blutend auf dem Boden liegt. Diese Passage wurde sogar mehrfach wiederholt. Im Hintergrund sind die Schreie einer Frau zu hören. Die Berichterstattung hält der Beschwerdeausschuss für eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt.

Bei all der Schrecklichkeit dieses Artikels: Immerhin ist der Kopf des Opfers bei Bild.de verpixelt. Die Ruhrgebiets-Ausgabe der “Bild”-Zeitung berichtete in dem Fall noch rücksichtsloser, ohne Unkenntlichmachung, dafür aber mit einer Großaufnahme des im Rücken steckenden Messers (Bildunterschrift: “Am Messergriff hängt noch die Diebstahlsicherung”):

Folgen hatte dieser Voyeurismus für die Redaktion allerdings keine. Eine Sprecherin des Presserats sagte uns, dass gegen den Printartikel keine Beschwerde eingegangen sei. Und dann wird der Presserat auch nicht aktiv.

  • Neben den drei Rügen verteilte der Presserat noch zwölf Missbilligungen und 32 Hinweise an verschiedene Medien.

Bei Anruf Witwenschütteln

Am vergangenen Sonntag stürzte ein Kletterer in den Südtiroler Alpen ab und starb noch vor Ort. Der Mann lebte zwar schon seit mehreren Jahren in Österreich, er war aber gebürtiger Kölner. Und so griff die Köln-Redaktion der “Bild”-Zeitung die Geschichte am Montag auf:

Es war nur eine kleine Meldung, 15 Zeilen lang, beschränkt auf die wichtigsten Fakten. Für “Bild”-Verhältnisse also ein ausgesprochen ordentlicher Umgang mit einer so traurigen Nachricht, und wir wunderten uns schon, warum das Blatt nicht — wie sonst — Fotos des Verstorbenen zeigt oder Angehörige und Bekannte belästigt hat, um an Zitate zu kommen, oder sonst irgendwie Privatsphären missachtet hat.

Was wir nicht wussten: Während wir noch rätselten, liefen in der “Bild”-Redaktion in Köln schon die üblichen Post-mortem-Recherchen. Und so konnten “Bild” und Bild.de (kostenpflichtig als “Bild-plus”-Artikel) gestern eine deutlich opulentere Aufmachung der Geschichte präsentieren:


(Unkenntlichmachung durch uns.)

Schon der erste Absatz gibt die Sensationsgier vor:

Er liebte die Berge, das Klettern, die Höhe. Doch sein Hobby wurde für ihn nun zur Todesfalle!

Und auch sonst haben die “Bild”-Mitarbeiter mal wieder unter Beweis gestellt, was sie alles Schreckliches so können. Da wäre zum Beispiel das Foto von Christian V., das “Bild” und Bild.de groß und unverpixelt zeigen. Es stammt von der Homepage der Praxis, in der der Mann gearbeitet hat. Die “Bild”-Medien haben einfach seine Arbeitskollegen weggeschnitten und das Foto veröffentlicht.

Oder der Anruf in der Praxis:

Einen Tag danach erreicht BILD eine Arbeitskollegin von Christian V. […]. Sie erzählt unter Tränen: “Wir sind alle so geschockt. Christian war ein begeisterter Kletterer, viel in den Bergen unterwegs. Das ist alles so schlimm.”

Witwenschütteln am Telefon. Was denkt man sich als “Bild”-Reporter wohl nach diesem Gespräch? “Geil, die weint! Das nehm’ ich.”?

Als er in den Südtiroler Alpen abstürzte, war Christian V. übrigens mit seiner Frau und einer Freundin unterwegs. “Bild” schreibt:

Christians Ehefrau, die den Absturz wohl direkt miterlebte, wird nun psychologisch betreut.

Wenn man das weiß und dennoch eine solche Geschichte druckt, hält man sein eigenes Verhalten womöglich auch noch für völlig normal.

Nachtrag, 14:50 Uhr: Inzwischen haben wir die Praxis erreicht, in der Christian V. gearbeitet hat. Wir wollten wissen, ob dort jemand der “Bild”-Zeitung erlaubt hat, das Foto zu nutzen. Antwort: “Nein.” Es habe nicht mal eine Anfrage gegeben.

Nur zur Erinnerung: Die Identität eines Opfers sei “besonders zu schützen”, sagt der Pressekodex. Für das Verständnis eines Unglücks sei “das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich.” Zwar könne das Foto eines Opfers “veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben”. Aber das dürfte in diesem Fall eben nicht so gewesen sein.

Neben diesen presseethischen Grundsätzen dürfte “Bild” mit der Veröffentlichung des Fotos auch das Urheberrecht des Fotografen missachtet haben. Als Quelle nennt die Redaktion lediglich das notorische “PRIVAT”.

Medienselbstkontrolle, Digitalradio, Kinderlied

1. Hinterher sind nicht alle schlauer
(faz.net, Ursula Scheer & Michael Hanfeld)
Vor einem Jahr, am 4. September 2015, öffneten Deutschland und Österreich ihre Grenzen für die Flüchtlinge. Mehr als eine Million Menschen kamen ins Land. Ursula Scheer und Michael Hanfeld lassen in der “FAZ” das vergangene Jahr Revue passieren und geben ihre Sicht auf die jeweilige Berichterstattung wieder, von der monatelangen wohlwollenden Berichterstattung bis hin zu Wegduckreflexen und Phasen der medialen Ernüchterung.

2. Twitter statt Presserat?
(de.ejo-online.eu, Susanne Fengler)
Susanne Fengler ist Professorin für internationalen Journalismus an der TU Dortmund und beschäftigt sich in einem längeren Artikel mit dem Thema Medienselbstkontrolle in Europa. Sie spricht sich im Eigeninteresse der Branche für Standards aus: “Was spräche dagegen, die Vergabe staatlicher und auch privater Anzeigenaufträge davon abhängig zu machen, dass die betreffende Redaktion einen Ethikkodex entwickelt, einen Newsroom-Blog installiert, einen Ombudsmann eingesetzt oder einen „Correction Button“ für die Nutzer installiert hat, kurz: sich in welcher Form und mit welchem Ergebnis auch immer um media accountability bemüht?”

3. Google gibt die Daten frei
(taz.de, Nina Monecke)
Der von Google gelöschte Blog des US-Autors Dennis Cooper geht wieder online. Allerdings nicht bei Google, sondern unter eigener Adresse. Google hatte den Blog ohne Begründung vom Netz genommen und den Google-Account mit 14 Jahren Mail-Verkehr gleich mit deaktiviert. Ein wochenlanger Rechtsstreit folgte. Nun will Google dem Schriftsteller seine Daten zuschicken. Bis Coopers Blog wieder vollständig sei, werde es noch ein wenig dauern. Zum Verhängnis soll Cooper übrigens ein Bild geworden sein, dass nach zehn Jahren von einem User als angeblich “kinderpornographisch” gemeldet worden war. Ein Vorwurf, den Cooper vehement abstreitet.

4. NZZ, (K)alter Krieg & die nützlichen Idioten 2016
(infosperber.ch, Jürgmeier)
“Infosperber”-Kolumnist Jürgmeier geht mit der “NZZ” ins Gericht. “Kalter Krieg” reloaded, übertitelt er seinen Artikel und schachtelsatzt dem Schweizer Traditionsblatt seine Kritik um die Ohren: “Wer jene, die im (durchaus nötigen) Kampf gegen islamistische & andere fundamentalistische Religionen beziehungsweise Ideologien auf gelebte Freiheit, Gleichheit & Brüderlichkeit (sowie Schwesterlichkeit) setzen, als «Anhänger einer Therapie- und Verständniskultur» diffamiert und ihnen «verblendete Wehrlosigkeit» unterstellt, greift zum einen auf die Kalte-Kriegs-Formel vom «nützlichen Idioten» zurück und beweist zum anderen, dass er oder sie nicht wirklich an die Kraft der so gern & oft beschworenen europäischen Werte der Aufklärung sowie der universellen Menschenrechte glaubt.”

5. Die Schwäche des Radios ist die Schwäche von DAB+
(dwdl.de, Hans Hoff)
Seit Jahren werde über das Digitalradio in Deutschland gestritten, doch woran liegt es, dass sich DAB+ einfach nicht durchsetzen will, fragt Hans Hoff in seiner neuen Kolumne. Es gäbe einige Kritikpunkte, doch Hoff sieht noch ein ganz anderes Problem: “Ich glaube ja, dass die Krux ganz woanders liegt, nämlich in der Tatsache, dass Radiomacher landauf, landab auf dem besten Wege sind, das Radio abzuschaffen, also zumindest das öffentlich-rechtliche mit Restbeständen von Anspruch? Sie sagen natürlich nicht, dass sie es abschaffen wollen. Sie richten es vielmehr still und leise zugrunde.”

6. Kann denn Singen Sünde sein?
(rp-online.de, Tobias Jochheim)
Zu Ehren ihres syrischen Mitschülers sangen die Erstklässler einer Volksschule im Hinterland von Salzburg ein arabisches Kinderlied. “FPÖ” und “Kronen Zeitung” erklärten die nette Geste zum Skandal, nutzten es für Stimmungsmache und forderten lautstark eine “Überprüfung des Vorfalls”. Tobias Jochheim weist in seinem Beitrag darauf hin, dass sich eine Überprüfung erübrige, denn der Lehrplan für Volksschulen sehe interkulturelle Bildung ausdrücklich als übergeordnetes “Allgemeines Bildungsziel” vor. (Wo “österreichische und ausländische Kinder gemeinsam unterrichtet werden”, seien “im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem jeweils anderen Kulturgut (…) insbesondere Aspekte wie Lebensgewohnheiten, Sprache, Brauchtum, Texte, Tradition, Liedgut usw. aufzugreifen”.) Hier ginge es um eine Form von aufgebauschter Skandalberichterstattung, bei der das Medienhaus und die FPÖ voneinander profitieren würden.

“Bild” schon wieder am Grab von Andreas L.

Als Andreas L., der Co-Pilot des “Germanwings”-Flugs 4U9525, vor etwas mehr als einem Jahr beerdigt wurde, hatten die “Bild”-Redaktionen im Vorfeld glücklicherweise nichts davon mitbekommen. So konnten ihre Fotografen nicht mit Teleobjektiven auf dem Friedhof von Montabaur lauern, und ihre Reporter nicht schmierige Zeilen über die Trauergäste verfassen.

“Bild” und Bild.de berichteten aber trotzdem, einige Tage später, und zeigten in Großaufnahmen das Grab von Andreas L. Damals gab es das volle Bilder-Programm: das Holzkreuz aus verschiedenen Perspektiven, die Blumen und Trauerkränze der Angehörigen, den Grabschmuck der Freundin, ihre Abschiedsworte.

Gestern veröffentlichten “Bild” und Bild.de erneut einen Bericht über das Grab von Andreas L.:


Der einzige Grund für die neuen, großen Berichte: Das Holzkreuz wurde inzwischen durch eine Granitsäule ersetzt.

Neun Monate nach seiner heimlichen Beisetzung auf dem Friedhof in Montabaur, unweit des Segelflugplatzes, auf dem L[.] seine Leidenschaft fürs Fliegen entdeckte, wurde inzwischen das einfache Holzkreuz (“Andy”) durch die Grabsäule ersetzt.

Wieder gibt es große Fotos vom Grab, außerdem eine Nahaufnahme einer “runden Plakette”, auf der eine persönliche handschriftliche Widmung zu lesen ist, vermutlich von der Mutter von Andreas L. Im Text kommt eine Frau zu Wort, die bei dem Absturz zwei Angehörige verloren hat. Sie ist auch die Zitatgeberin für die Überschrift bei Bild.de (“Für mich als Angehörige der Opfer ist das sehr verletzend …”). Dass sie über das Grab ebenfalls sagt: “Für die Eltern von L[.] verständlich”, erfährt man erst im Artikel. Dort wird auch noch ein Anwalt zitiert, der mehrere Opfer-Familien vertritt und analysiert, dass durch die neue Grabsäule die “Ich-Bezogenheit” von Andreas L. “über seinen Tod hinaus in Stein gemeißelt” bleibe. Und dazu erinnern die beiden “Bild”-Autoren noch einmal mit deutlichen Worten daran, wer dort überhaupt begraben liegt:

Wir sehen das Grab von Todes-Pilot Andreas L[.] Das Andenken an einen Massenmörder!

Die “Bild”-Medien nutzen weiterhin jede noch so kleine Gelegenheit, um die Tat von Andreas L. aufs Neue aufrollen zu können, mit all den Beteiligten — Täter, Opfer, den Angehörigen beider Seiten. Ob es sich dabei um ansatzweise relevante Informationen handelt, spielt schon lange keine Rolle mehr.

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