Zwölf mal haben wir uns in den vergangenen dreieinhalb Jahren beim Presserat über die Berichterstattung von “Bild” beschwert. Neun Fälle hat der Presserat bisher behandelt (siehe Kasten rechts) und in keinem Fall eine Rüge ausgesprochen.
Die Axel-Springer-AG sieht in dieser “Flut” von “kommerziellen, also sachfremd motivierten Beschwerden” eine große Gefahr. Der “Bild”-Zeitung drohe ein “ungerechtfertigter Imageverlust” und ein “unangemessener und schwerwiegender wirtschaftlicher Schaden* Nachteil”. Mit diesen Worten zitiert der Presserat den Verlag, der das Gremium aufgefordert hat, den “Missbrauch” der freiwilligen Selbstkontrolle durch uns abzustellen, der auch gegen das “Wahrhaftigkeitsgebot” verstoße. Der “Spiegel” zitiert in seiner kommenden Ausgabe eine Juristin, die Springer berät: Es sei nicht hinnehmbar, dass Presserat und “Bild” Aufwand betreiben müssten, um die Attraktivität und mittelbar die Einnahmen von “Bildblog” zu steigern.
Bereits seit 2006 versucht die Chefredaktion von “Bild” zu verhindern, dass der Presserat sich mit unseren Beschwerden befasst (wir berichteten). Die zuständigen Beschwerdeausschüsse sind der immer wieder vorgetragenen Argumentation in den einzelnen Fällen aber nicht gefolgt. Nun verlangt Springer eine Grundsatzentscheidung vom Plenum des Presserates. Dort soll die Sache am 12. März 2008 beraten werden. Bis dahin beschäftigen sich die Beschwerdeausschüsse auch nicht mehr mit den noch offenen Beschwerden von uns.
Wir verfolgen die Sorge des Axel-Springer-AG um das Wohlergehen des Presserates und die Bewahrung publizistischer Grundsätze wie dem der “Wahrhaftigkeit” amüsiert und lassen uns gerne von der Entscheidung des Presserates überraschen*. Dass sich die “Bild”-Zeitung nicht aussuchen kann, wer sich über ihre zahlreichen Verstöße gegen journalistische Mindeststandards beim Presserat beschwert, liegt vor allem im Interesse des Presserates selbst.
*) Das “Geschäftsmodell” von BILDblog beruht nicht auf der Verwertung eigener Presseratsbeschwerden.
Nachtrag, 20.2.2008: Der “Tagesspiegel” zitiert heute einen Springer-Sprecher mit den Worten: “‘Bildblog’ ist ein kommerzielles Unternehmen, unter diesem Aspekt sind auch die kontinuierlichen Beschwerden zu sehen.” Gegenüber dem Branchendienst epd-medien wurde der Springer-Sprecher offenbar deutlicher: “‘Bildblog’ handelt wie ein Abmahnverein und instrumentalisiert den Presserat für eigene kommerzielle Interessen.” Außerdem zitiert epd-medien den Presserats-Geschäftsführer Lutz Tillmanns dahingehend, dass im Fall “Bildblog” zumindest “Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Verwendung des Beschwerderechts” vorlägen.
*) Korrektur, 10.3.2008: Wir hatten an dieser Stelle (anders als in der ausführlichen Fassung) versehentlich und fälschlicherweise “Schaden” statt “Nachteil” geschrieben. In der aktuellen Ausgabe des “Medium Magazins” heißt es, “Bild”-Sprecher Tobias Fröhlich habe die Zeitschrift “gern” auf diesen Fehler hingewiesen:
Wenn die “Bildblog”-Macher schon bei “Bild” so genau hinschauten, sollten sie doch bitte auch selbst genau arbeiten.
Nachtrag, 12.3.2008: Das Plenum des Presserats hat entschieden, dass wir den Presserat mit unseren Beschwerden nicht “missbraucht” haben.
Der Verlag Axel Springer versucht zu erreichen, dass die B-Blog GbR (Christoph Schultheis, Stefan Niggemeier), die BILDblog betreibt, keine Beschwerden mehr beim Deutschen Presserat einreichen darf. Er argumentiert dabei wie folgt:
Nach Ansicht von Springer “manipuliert” BILDblog durch die Inanspruchnahme des Presserates die journalistische Berichterstattung. Der Presserat gibt die Argumentation des Verlages so wieder:
B-Blog inszeniere die Wirklichkeit, die sie selbst zum Gegenstand ihrer journalistischen Berichterstattung mache, und verstoße somit selbst gegen journalistische Grundsätze wie Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit. (…)
Nach der Präambel des Pressekodex sollten alle Journalisten ihre publizistische Aufgabe unbeeinflusst von persönlichen Interessen und von sachfremden Erwägungen wahrnehmen. Gegen diesen Grundsatz verstießen daher Journalisten der B-Blog GbR, indem sie den Presserat mit einer Flut von kommerziellen, also sachfremd motivierten Beschwerden anriefen, um daraus Stoff für ihre Berichterstattung zu gewinnen. Damit verbunden sei eine Verfälschung der Beschwerdestatistiken, wodurch zugleich das Wahrhaftigkeitsgebot verletzt werde. Eine Aufnahme dieser Beschwerden in die Statistiken des Presserats sei wegen der künstlichen Beschwerdehäufung für BILD nicht hinnehmbar. Dies wäre wegen ungerechtfertigtem Imageverlust auch mit einem unangemessenen und schwerwiegenden wirtschaftlichen Nachteil verbunden.
Mit den Beschwerden gehe es uns “offenkundig nicht darum, Missstände aufzuzeigen, sondern darum, beim Presserat Vorgänge zu erzeugen” und diese für unsere “gewerbliche Tätigkeit einzusetzen”, paraphrasiert der Presserat Springers Argumentation weiter:
Es sei nicht absehbar, welches Ausmaß diese Arbeitsbeschaffungsaktion noch erreichen werde, wie viele Beschwerden noch folgen könnten. Die Aktion müsse deshalb grundsätzlich beendet werden.
Springer bezieht sich auf die Grundsätze aus der Rechtsprechung ordentlicher Gerichte, die in “künstlichen” oder “konstruierten” Rechtsstreitigkeiten Entscheidungen in der Sache mangels Rechtsschutzbedürfnis ablehne. Der Verlag bezieht sich auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes (GRUR 1976, 258), wonach niemand ein gesetzlich vorgesehenes Verfahren zur Verfolgung zweckwidriger Ziele ausnutzen dürfe.
Zudem riskiere der Presserat, sich selbst “lahm zu legen”:
Nachahmer würden aufgerufen, den Presserat und Verlage auf gleiche Weise zu instrumentalisieren. Der Presserat liefe Gefahr, künftig zum Spielplatz für Medien-Blogger zu werden. (…) Seine Akzeptanz bei den Redaktionen als Instanz der Selbstkontrolle würde er einbüßen.
“Bild”-Kritik als Geschäft
Nach Ansicht der Axel-Springer-AG verfolgt die B-Blog GbR zwar vielleicht auch “presseethische”, vor allem aber kommerzielle Interessen. Sie begründet das in den Worten des Presserates wie folgt:
“So werde auf der Seite Werbung geschaltet. Es werde ein sogenannter BILDblog-Shop betrieben, in dem man T-Shirts und Trinkbecher kaufen könne, die mit der Bezeichnung BILDblog.de gekennzeichnet seien. Zudem könnten Besucher über diese Plattform Bücher kaufen, wobei der Beschwerdeführer bei jedem erfolgreichen Buchverkauf eine Provision erhalten dürfte. Auch ein Abo sei für 12 Euro erhältlich. Da dieses Umsatzsteuer beinhalte, gehe man davon aus, dass die wirtschaftliche Tätigkeit der B-Blog GbR offenbar einen Umfang erreicht habe, der umsatzsteuerpflichtig sei.”
Ausführlich führte Springer gegenüber dem Presserat Belege dafür auf, dass es sich bei BILDblog um ein kommerziell ausgerichtetes Unternehmen handele (siehe Kasten rechts) und daher als “Berufs-Beschwerdeführer” anzusehen sei:
Auch die Glaubwürdigkeit des Presserats stehe auf dem Spiel, wenn kommerzielle Anbieter die Institution der Presse-Selbstkontrolle benutze, um eine “Leserbindung” zu schaffen, die die Grundvoraussetzung für die verschiedenen Erlösmodelle darstelle. (…)
Daher sei die Verfolgung kommerzieller Interessen in Verbindung mit Presse-Ethik deutlich anders zu bewerten als etwa politische Interessen. Letztere fördere die öffentliche Meinungsbildung, erstere diene der Gewinnmaximierung der Beschwerdeführer. Den Betreibern gehe es also darum, sich auf einfachem Wege Material für ihre gewerbliche Tätigkeit zu verschaffen.
Nein, es vergeht in der Tat kaum ein Tag, an dem “Bild” nicht irgendjemandes Persönlichkeitsrechte verletzt. (Der Verlag, in dem “Bild” erscheint, hat sich zwar u.a. verpflichtet, das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen zu achten und in der Regel keine Informationen in Wort und Bild zu veröffentlichen, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Darum, ob diese Selbstverpflichtung auch umgesetzt wird, kümmert sich verlagsintern aber offenbar niemand.) Nahezu täglich zeigt “Bild” beispielsweise Fotos, die unzulässigerweise eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen. Und immer wieder mag sich (insbesondere für Boulevardjournalisten) natürlich die Frage stellen, ob das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen nicht doch überwiegt.
Aber es gibt Fälle, da ist diese Frage schon beantwortet.
So hatte der Presserat die “Bild”-Zeitung beispielsweise 2004 öffentlich gerügt, weil sie das Foto einer jungen Frau zeigte, der vorgeworfen wurde, ihr neugeborenes Kind getötet zu haben. Im vergangenen Jahr veröffentlichte “Bild” abermals das Foto einer Frau, der vorgeworfen wurde, ihr neugeborenes Kind getötet zu haben. Der Presserat missbilligte das: “Bild” hätte “auf eine erkennbare Darstellung der Betroffenen verzichten müssen” (wir berichteten).
Und heute?
Heute zeigt “Bild” wieder das Foto einer Frau, die verdächtigt wird, ihr neugeborenes Kindes getötet zu haben. Die Veröffentlichung unterscheidet sich nur insofern von den anderen beiden, vom Presserat beanstandeten, als “Bild” dort die Betroffenen ebenso halbherzig wie unzureichend anonymisiert hatte — wohingegen “Bild” sich heute sogar diese Mühe spart (siehe Ausriss, Unkenntlichmachung von uns).
Der zugehörige “Bild”-Artikel beginnt mit dem Wort:
Im vergangenen Jahr hatte “Bild” die identifizierende Berichterstattung im Nachhinein u.a. damit zu rechtfertigen versucht, dass der Sachverhalt im Ort Stadtgespräch gewesen sei…
Erfahrene Fotografen machen am Tatort häufig auch solche Fotos, die keine Persönlichkeitsrechte verletzten und – ohne allzu große Bedenken und sogar ohne Unkenntlichmachung – von Medien veröffentlicht werdenkönnen.
Laienfotografen hingegen…
…knipsen drauflos und schicken ihre Fotos anschließend als “BILD-Leser-Reporter” an “Bild”. Und bei Bild.de werden die dann veröffentlicht – offenbar ebenfalls ohne allzu große Bedenken, vor allem aber (vom Nummerschild abgesehen!) ohne Unkenntlichmachung (siehe Ausrisse).
Laut Pressekodex* allerdings (der sich als “Leitfaden für die journalistische Arbeit” versteht) soll, wenn Anhaltspunkte für die mögliche Schuldunfähigkeit eines Täters vorliegen, eine “Abbildung unterbleiben”.
Und da der hier abgebildete Mann schon vor seiner Tat in psychiatrischer Behandlung gewesen ist und, wie sogar Bild.de selbst schreibt, nach seiner Tat “in die Psychiatrie” gebracht wurde, spricht wohl alles dafür, dass Anhaltspunkte für eine mögliche Schuldunfähigkeit des Täters vorliegen.
Gut möglich, dass der Laienfotograf das nicht wusste – und diesen komischen Pressekodex gar nicht kennt. Aber er hat die Fotos ja auch nicht veröffentlicht.
*) Für Verstöße gegen den Pressekodex in Online-Angeboten sieht sich der Presserat nur dann zuständig, wenn sie “von Zeitungs-, Zeitschriftenverlagen und Pressediensten in digitaler Form verbreitet wurden und zeitungs- oder zeitschriftenidentisch sind”. Das ist beim Bild.de-Bericht über den abgebildeten Mann nicht der Fall, denn die gedruckte “Bild” berichtete anders. Der Presserat hat zwar kürzlich angekündigt, dass der Pressekodex in Zukunft auch für die Online-Angebote von Zeitungen und Zeitschriften gelten soll. Ob das irgendwas ändert, ist fraglich. Schließlich sind Persönlichkeitsrechtsverletzungen wie die oben geschilderte nicht deshalb verantwortungslos, weil man damit riskiert, sich eine Rüge des Presserats einzufangen, sondern weil sie die Persönlichkeitsrechte verletzen.
Christian Schertz, 41, ist Medienanwalt in Berlin. In den vergangenen Jahren setzte er in “Bild” und “BamS” u.a. Gegendarstellungen für Sabine Christiansen, Oliver Pocher, Nadja Auermann, Natalie Wörner, Katja Flint, Hannelore Hoger, Nora Tschirner, Karsten Speck, Sibel Kekilli, Cosma Shiva Hagen, Dieter Wedel, Günther Jauch und Alexandra Neldel durch. Schertz lehrt u.a. Medienrecht an der Potsdamer HFF und der FU Berlin — und stellt heute in Berlin gemeinsam mit Thomas Schuler das Buch “Rufmord und Medienopfer” vor.
Von Christian Schertz
Kein Zweifel: Auf BILDblog ist es angezeigt, sich kritisch mit “Bild” auseinanderzusetzen. Nur: Kritik kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet sinngemäß: “Die Kunst der Beurteilung”. Blattkritik — zu der ich von “Bild” noch nie eingeladen wurde — heißt also auch, Positives zu erwähnen. Daher mein Selbstversuch, die heutige “Bild”-Ausgabe nach Punkten zu durchforsten, die mir positiv auffallen, gewissermaßen als dialektischer Gegenentwurf zu BILDblog.
And here are the results:
Auf der Titelseite ist Nicolas Sarkozy “Verlierer” des Tages. “Bild” prangert zu Recht an, wie der französische Staatspräsident dem libyschen Staatschef Gaddafi (“Folter, Zensur und Menschen, die einfach verschwinden!”) fünf Tage einen roten Teppich ausrollt, um ihm ein Atomkraftwerk zu verkaufen.
Auf Seite 2 deckt Hugo Müller-Vogg in seinem Kommentar die Bigotterie christdemokratischer Politiker auf, die zumindest über Jahre ausschließlich das Lebensmodell “verheiratet mit Kindern” als Ideal gefeiert und vor allem dem Volk verkauft haben, dieses Modell aber immer seltener selbst leben nach dem Motto: “Wasser predigen und Wein trinken.” Müller-Vogg gelingt das Ganze auch noch, ohne bei den beschriebenen Fällen (Wulff, Oettinger, Pofalla) die Intimsphäre zu verletzen, da er lediglich öffentlich bekannte Fakten mitteilt und hieraus seine Schlüsse zieht. Hinzutritt, dass Frau Oettinger in einem Artikel neben dem Kommentar immerhin Fragen der “Bild” zu der Trennung, wenngleich abwiegelnd, beantwortet und damit selbst den heutigen Titel “Nach Ehe-Aus: Das sagt Frau Oettinger” ohne Not befördert hat. Wahrscheinlich war es wieder ein Überrumpelungsanruf, bei dem als presserechtliche Grundregel eigentlich gilt: Wenn man weitere Berichterstattung nicht befördern will, sagt man nichts, njet, kein Kommentar. Anders offenbar im Fall Oettinger.
Weiterhin fällt auf, dass die heutige “Bild” im Wesentlichen auch sonst ohne massive Eingriffe in die Privatsphäre auskommt. Lediglich ein “Abschuss” von Britney Spears, der sie beim Stehlen eines Feuerzeuges im Wert von 99 Cent an einer Tankstelle zeigt, lässt sich finden. Indes dürfte auch dieses Foto rechtlich nach der medialen Inszenierung von Frau Spears sogar zulässig sein.
Noch zu diesem Thema: Tatsächlich, ich kann es gar nicht glauben, ich finde kein Leser-Reporter-Foto! Jedenfalls in der Printausgabe. Mehrfach blättere ich die Zeitung durch. Ich finde keins.* Da wurde über Monate “das Phänomen Leser-Reporter” in den Feuilletons der überregionalen Tagespresse und den Medienmagazinen in Funk und Fernsehen diskutiert und angeprangert. Auch ich selbst war hieranbeteiligt (“Massenweiser Aufruf zum Rechtsbruch”). Und dann stellt man fest, dass die “Bild”-Zeitung in ihrer Printausgabe jedenfalls eine tägliche Rubrik “Leser-Reporter” offensichtlich aufgegeben hat. Völlig unbemerkt. Nach dem Abklingen der Diskussion.
Vielleicht muss “Bild” ja auch die Privatsphäre von Menschen nicht mehr verletzen, da seit geraumer Zeit Prominente jeglicher Couleur zumeist unaufgefordert, jedenfalls ohne Not, sich zu dem aktuellen Zustand ihres Liebes- und Privatleben äußern. Während in der Vergangenheit viele Celebrities gut daran getan haben, ihre Privatsphäre zu schützen, häuft sich die Anzahl derjenigen, die mit O-Tönen wie: “Ja, es stimmt. Wir sind ein Paar.”; “Ja, es stimmt. Wir haben uns getrennt.” oder gleich in der Kombi “Ja, es stimmt. Ich habe mich getrennt und bin jetzt zusammen mit…” in die Öffentlichkeit gehen. BUNTE-Republik Deutschland.
Dennoch ist der Selbstversuch misslungen: Was die “Bild”-Zeitung heute auf Seite 2 mit dem offensichtlich traumatisierten Folter-Opfer Al-Masri macht (“Brandstifter und Schläger vor Gericht”) ist unfassbar, unentschuldbar, ein Nachtreten in Richtung Presserat und Betroffenen. Das Leben ist nicht fair.
*) Nachtrag zum misslungenen Selbstversuch, 16.47 Uhr: Jetzt habe ich sie doch gefunden, Leser-Reporter-Fotos auf Seite 12, insgesamt 5 Fotos von Frauen mit Rückentatoos. Dabei handelt es sich aber im Wortsinne nicht um Leser-Reporter-Fotos, sondern um Leser-Fotos — offensichtlich mit Einwilligung der Abgebildeten. In den Anfängen der Leser-Reporter-Fotos waren es noch vielfach Abschüsse von Prominenten ohne deren Zustimmung. Das erklärt auch, warum die Rubrik Leser-Reporter nicht mehr offensichtlich ins Auge fiel.
Keine Krähen, Abgang verpasst, Geld von Belgien, Schleichwerbung.
Der Schweizer Textkünstler Christoph Geiser (“kein morgen | kein wind | keine krähen | in den ästen | wartet laub | den mond | vergass ich | zwischen den gittern wächst | frost | die steine waren noch warm | als ich starb”, Zuger Tagblatt, 2. Juni 1971) blitzte vor dem Presserat ab mit einer Beschwerde gegen einen Artikel aus dem inzwischen eingestellten Facts. Die implizite Unterstellung, er benütze seine sexuelle Orientierung zur Beschaffung von Fördermitteln, entbehre jeglicher tatsächlichen Grundlage. Der Text von Daniel Arnet nannte sich “Die Subventionskünstler” und nannte die Schweizer Literaturförderung ein dunkles Kapitel. Wer ein Gesuch schreiben könne und Modethemen verwurste, habe alle Chancen, Steuergelder abzusahnen. Talent brauche es kaum.
Der Ringier-Verlag baute einige wenige Stellen ab (“Es besteht ein grosszügiger Sozialplan. Wenn immer möglich werden den Betroffenen intern Stellen angeboten.”) und will ab Februar nicht mehr mit dem Karikaturisten des hauseigenen Boulevardblatts Blick zusammenarbeiten. Der “geniale”, aber “schon beim Tagi völlig überbezahlte Nico mit seinen horrenden Lohnforderungen” habe “wohl den Abgang verpasst” (persoenlich.com Kommentare).
Denn “Bild” berichtet heute in großer Aufmachung und mit vielen Fotos von einem “Amoklauf im Berliner Hauptbahnhof”:
Ein 26-jähriger Mann hat gestern dem Kellner eines Cafés zwei Stunden lang ein Messer an die Kehle gedrückt. (…) Der panische Blick der Geisel auf die scharfe Klinge lässt viele Augenzeugen erschaudern.
TODESANGST!
So steht’s im Pressekodex
(…) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (…) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden.
(…) Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen.
(…) Liegen Anhaltspunkte für eine mögliche Schuldunfähigkeit eines Täters oder Tatverdächtigen vor, sollen Namensnennung und Abbildung unterbleiben.
(…) Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.
Ein Großteil der Fotos, die den ganzseitigen Artikel illustrieren, dokumentiert das Beschriebene. Wir sehen: einen Mann mit einem Messer, der einen anderen Mann im Würgegriff hat. Und auf allen Fotos zeigt “Bild” den Mann mit dem Messer, ohne ihn irgendwie unkenntlich zu machen, was nicht schön, aber laut Pressekodex gerechtfertigt sein könnte (siehe Kasten) oder auch nicht (siehe Kasten). Schließlich hatte der Mann laut “Bild” “offenbar Kokain geschnupft” und wurde “in eine Psychoklinik eingewiesen”.
Aber die Anonymisierungspraxis in “Bild” ist ohnehin undurchschaubar. Und einfallsreich zugleich: mal Verpixelungen, mal kleine, mal größere schwarze Balken über der Augen- oder schwarze Kreise über der Gesichtspartie, mal vollständiges Weißen kompletter Silhouetten… Doch wer heute anonymisiert wird, muss schon morgen damit rechnen, dass “Bild” darauf verzichtet, und umgekehrt. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem “Bild” nicht Menschen zur Schau stellt (Opfer, Täter, Betroffene), obwohl berechtigte Zweifel bestehen, ob “Bild” das darf. Erfahrungsgemäß zeigt “Bild” lieber zu viel als zu wenig. Zudem gab es in der Vergangenheit wiederholt Fälle, in denen “Bild”-Anonymisierungen vom Presserat als unzureichend beanstandet wurden.
Und den Mann im Würgegriff des Geiselnehmers am Berliner Hauptbahnhof (“Bild” nennt nicht nur seinen Beruf, sondern auch Vornamen, Alter und Arbeitsplatz) hat “Bild” auf den vielen Fotos, die ihn in “Todesangst” zeigen, unkenntlich gemacht — und zwar ziemlich genau so, wie wir das auf obigen Fotos demonstrieren.
Nachtrag, 23.11.2007: Auch heute zeigt “Bild” wieder Fotos der Geiselnahme — diesesmal jedoch ohne jegliche Unkenntlichmachung, die ja für gewöhnlich dem Schutz der Persönlichkeit des Abgebildeten dienen soll. Was das Opfer anbelangt, ist “Bild” deswegen heute (anders als gestern bei der weniger als halbherzigen Verpixelung seiner Augenpartie) wohl nichts vorzuwerfen, denn: “In BILD spricht er jetzt exklusiv über den Horror, über die wirren Gedanken des Täters, über die Liebe, die ihn stark machte.” Über den Täter wird inzwischen berichtet, dass er möglicherweise wegen Wahnvorstellungen, die eventuell durch Betäubungsmittel verstärkt worden waren, schuldunfähig gewesen und vom Ermittlungsrichter in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden sei. Grund genug also, noch einmal aus dem Pressekodex zu zitieren: “Liegen Anhaltspunkte für eine mögliche Schuldunfähigkeit eines Täters oder Tatverdächtigen vor, sollen Namensnennung und Abbildung unterbleiben.”
Uneinigkeit über Amy Winehouse, Loriot, Blocher im Internet.
Früher wunderte man sich, wenn man an einem Konzert war und darauf in zwei Zeitungen zwei komplett gegensätzliche Kritiken las. War es nun sehenswert das Konzert oder nicht? Naja, dachte man sich – so ist es nun mal, wenn es dem einen gefällt, dem anderen nicht. Mit guten Begründungen gespickt könnten sogar beide Texte lesenswert sein.
Heute aber ist es anders: Da spielt Amy Winehouse in Zürich und 20 Minuten schreibt in der Bildergalerie zuerst “Am 25. Oktober 2007 begeisterte die britische Soul-Sängerin Amy Winehouse im Zürcher Volkshaus” und aktualisiert dann in “Ihr gestriges Konzert war ein einziges Debakel”. Genauso unentschlossen ist der Blick. Die Printausgabe: “Amy in Bestform! Die Britin bestätigt bravourös: Ihre Stimme wird in die Geschichte eingehen!”. Online aber: “Nach knapp einer Stunde Horror-Show mussten die armen Musiker dann sogar die Zugabe ohne ihre Amy über die Bühne bringen – so kaputt war das Sorgenkind?”. Zusammengetragen hat diesen durchaus bedenklichen Fall benkoe.ch. Boulevard-Journalismus ist ja ganz nett, aber ohne Koordination und Hintergrund einfach peinlich.
“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann hat der Schweizer “Weltwoche” ein Interview gegeben. Es ist so mittelinteressant, aber auf die Frage, warum Diekmann im Jahr 2002 die vermeintlichen Enthüllungen über eine Sex-Affäre des damaligen Schweizer Botschafters Thomas Borer mit der Parfümverkäuferin Djamile Rowe abgelehnt habe, antwortet der “Bild”-Chef bloß:
Die Geschichte betraf Vorgänge, die ausschliesslich zwischen dem Botschafter und seiner Frau zu diskutieren waren.
Mehr hat Diekmann dazu nicht zu sagen.
Diekmann sagt nicht, dass — nachdem der Schweizer “Sonntags-Blick” am 31. März 2002 die angebliche Affäre Borers enthüllt hatte — auch “Bild” und “Bild am Sonntag” detailliert und groß berichteten (u.a. am 2., 3., 4., 5., 6., 7., 8., 11., 12., 13., 14., 15., 17., 25., 28. und 29 April). Diekmann sagt nicht, dass “Bild” immer wieder “Freunde” des Botschafterpaars zitiert und z.B. einen “BILD-Medizinexperten” zu einer mutmaßlichen Fehlgeburt von Borers Ehefrau Shawne Borer-Fielding befragt hat. Diekmann sagt nichts über “Bild”-Schlagzeilen wie “Botschafter-Affäre! Jetzt spricht die schöne Gattin” (“Martin S. Lambeck störte sie beim Urlaub auf Mauritius”) oder darüber, dass die “BamS” anschließend schrieb: “Als BamS Thomas Borer kurz nach seiner Ankunft zu Hause auf dem Handy erreichte, wirkte er resigniert.”
Und Diekmann sagt nichts über Alexandra Würzbach. Wir schon:
Schließlich ist Alexandra Würzbach die Autorin des Artikels im “Sonntags-Blick”, der die vermeintliche Sex-Affäre öffentlich machte (siehe Ausriss) — und den die “NZZ” später als ein “mit perfidem ‘Textdesign’ und skrupellosen Verhörmethoden” angerichtetes “Schmierenstück” bezeichnen sollte. Aber der Reihe nach…
Würzbach hatte, wie übrigens auch ihr Mann Ralph Große-Bley, zuvor bei Axel Springer gearbeitet: Große-Bley bei “Bild”, Würzbach bei der Berliner “Bild”-Schwester “B.Z.”, wo sie vom damaligen Chefredakteur Franz Josef Wagner den Auftrag hatte, die Ehefrau des schweizer Botschafters “zur Society-Königin von Berlin hochzuschreiben”, wie es der heutige “BILD-Royal”-Kolumnist Alexander von Schönburg damals für die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” formulierte. 2002 dann arbeiteten beide für den “Sonntags-Blick”: Große-Bley als stellvertretender Chefredakteur, Würzbach als Berlin-Korrespondentin. (Von Schönburg schrieb: “Das Ehepaar Borer-Fielding war eigentlich das einzige Thema, über das sie nach Zürich berichtete.”)
Und vielleicht erinnern wir uns kurz, dass die “Sex-Affäre” im Juli 2002 eine, nun ja, überraschende Wende nahm: Djamile Rowe, inzwischen zum “Botschaftsluder” avanciert, widerrief vor Gericht ihre Affären-Behauptung komplett und behauptete stattdessen, “Sonntags-Blick”-Reporterin Würzbach habe ihr “ständig ein solches Verhältnis einzureden” versucht (“Sie skizzierte für mich ein Horrorszenario, wenn ich eine sexuelle Beziehung in Abrede stellen werde.”) und viel Geld geboten, was anschließend wiederum Würzbach bestritt. (Mehr dazu siehe Kasten.)
Die “Bild”-Zeitung zitierte am 8. Juli 2002 unter der Überschrift “Alles Lüge” aus einer Eidesstattlichen Versicherung Rowes und drückte bereits fünf Tage später eine “Gegendarstellung” Würzbachs, in der es hieß:
“Richtig ist, dass ich nicht versucht habe, Frau Rowe ein Verhältnis mit Dr. Borer einzureden. Ich habe keinen psychischen Druck auf Frau Rowe ausgeübt und ihr auch keinen hohen Geldbetrag dafür angeboten.”
“Bild” kommentierte die Gegendarstellung damals mit den Worten:
“Das Presserecht verpflichtet uns zum Abdruck dieser Gegendarstellung. Egal, ob sie wahr oder unwahr ist.”
Übrig blieb von Würzbachs “Sex-Skandal” schließlich nur das öffentliche Eingeständnis des Ringier-Verlags, dass Würzbach mit Rowe ein “Informationshonorar” von 10.000 Euro ausgehandelt habe — und das Ende von Würzbachs Karriere beim “Sonntags-Blick”. Im Juli 2002 bat sie um Entlassung aus ihrem Arbeitsverhältnis. Denn “psychischer Druck” und “Informationshonorar” waren nicht die einzigen Vorwürfe gegen die Journalistin. Ringier gab außerdem zu, dass Würzbach sich einige Nacktfotos von Rowe, die zehn Jahre zuvor in der “Super-Illu” zu sehen waren, widerrechtlich (offenbar unter dem Vorwand, für eine Reportage über Ostdeutschland zu recherchieren) im “Super-Illu”-Archiv besorgt bzw. zur Bebilderung ihrer vermeintlichen Enthüllungen abfotografiert habe. Dem “Sonntags-Blick” habe sie jedoch anschließend gesagt, die Frage der Rechte der Bilder sei geklärt.
Und weiter? Weiter nichts: Anschließend bekam Alexandra Würzbach (wie übrigens auch ihr Mann Große-Bley) einen Job bei “Bild”.
Schon im Januar 2003 erschienen wieder Artikel unter ihrem Namen in “Bild”, Artikel mit Überschriften wie “Meine Nacht mit Paris Hilton: BILD-Reporterin Alexandra Würzbach feierte mit dem Party-Girl in Cannes” oder “Hat Paris Hilton ein Kleid von Berliner Mode-Designer geklaut?” Besonders beeindruckt hat uns jedoch auch diese kleine Fortsetzungsgeschichte aus dem vergangenen Jahr. Da berichtete Würzbach zunächst über “Deutschlands schönste Knast-Wärterin” und schrieb neben ein großes Nacktfoto von Nicole G., dass sich männliche Häftlinge vor ihr exhibitionieren, weibliche sie hingegen als “Nutte, Schlampe, Lesbe” beschimpfen würden, denn:
Seit 11 Jahren ist sie hinter Gittern. Aber jetzt packt sie aus!
(…) Nicole ist “Misses Schleswig-Holstein”, zeigt ihren Körper gern: “Ich will zeigen, dass auch ‘normale’ Frauen nach der Schwangerschaft wieder eine Top-Figur… [usw. usf.]
Elf Jahre hinter Gittern, das reicht. Deutschlands schönste Knastwärterin will endlich raus. Nicole G. (33) wandert aus.
Am Dienstag entblätterte sich die zweifache Mutter in BILD, berichtete von ihrem Arbeitsalltag als Justizvollzugsbeamtin im Hamburger Untersuchungsgefängnis. Nun packt sie die Koffer. “Ich ziehe nach Neuseeland, ans schönste Ende der Welt. (…) Ich habe meinen Arbeitgeber um Freistellung, also unbezahlten Urlaub, für sechs Jahre gebeten”, erklärt Nicole. “Ich (…) war lange genug der Prügelknabe für alle. Viele Insassen behandeln einen schlecht, beschimpfen die Wärter (…). Auf Dauer macht mich das krank.”
Vielleicht kommt Nicole G. mit der Auswanderung auch einer Kündigung zuvor. Denn: “Die Justizbehörde ist von solchermaßen geschaffenen ,nackten Tatsachen nicht begeistert. (…)
Aber worum ging’s noch mal eigentlich? Ach ja, darum, dass Diekmann im “Weltwoche”-Interview auf die Frage, warum er damals die Borer-Story ablehnt habe, nicht geantwortet hat:
Im Grunde hatten wir Glück. Die Geschichte betraf Vorgänge, die ausschliesslich zwischen dem Botschafter und seiner Frau zu diskutieren waren (lacht). Aber wir haben das Ganze ja auch so in aller gebotenen Ausführlichkeit begleitet und konnten uns, als sich die Sache als fatale Falschmeldung herausstellte, sogar guten Gewissens weit aus dem Fenster lehnen. Anschließend haben wir dann übrigens die für das Fiasko verantwortliche Autorin bei “Bild” eingestellt. Erst kürzlich ist sie ja mit mir ins indische Dharamsala gefahren, um den Dalai Lama zum BILD-Exklusiv-Interview zu treffen.
Aber vermutlich hätte das den Rahmen des “Weltwoche”-Interviews gesprengt. Schließlich geht’s darin ja eigentlich um Diekmanns neues Buch. Es trägt den Titel “Der große Selbstbetrug”.
Bevor der Presserat vor einem Vierteljahr “Bild” dafür rügte, mit ihrer Berichterstattung über Aldi-Reisen die Grenze zwischen zulässiger Information und unzulässiger Werbung überschritten zu haben, hatte die Zeitung sich gegenüber dem Gremium ja damit gerechtfertigt, dass es einen “publizistischen Anlass” gegeben habe: Erstmals sei ein Discounter ins Reisegeschäft eingestiegen.
Das stimmte zwar nicht, aber “Bild” war auch nach der Rüge nachhaltig unzufrieden mit der Entscheidung des Presserates.
Und fand am vergangenen Freitag einen neuen “publizistischen Anlass” für detaillierte Berichterstattung über ein neues Produkt: Vermutlich erstmals ist eine deutsche Boulevardzeitung ins Sportdrinkgeschäft eingestiegen. “Bild”, äh: informierteexklusiv und auf Seite 1: