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Hetze aus Österreich, Schüler-Recherche, affiger “Echo”

1. “Unzensuriert” kommt nach Deutschland: Wir haben der Hetzseite bei der Geburt zugeschaut
(motherboard.vice.com, Theresa Locker)
Bisher hat die Website “Unzensuriert” in Österreich zu hauptsächlich österreichischen Themen gehetzt. Nun hat das FPÖ-nahe Portal einen deutschen Ableger gegründet, mit Themen, die hier in der Berichterstattung eine Rolle spielen. Theresa Locker hat den Deutschland-Start von “Unzensuriert” beobachtet: “Tatsächlich sind die neuen Inhalte sorgfältig auf den deutschen Markt zugeschnitten. Die Artikel auf der .de-Seite sind zuwanderungsfeindlich, islamophob, russland- und AfD-freundlich.” Dazu auch: Matthias Meisner beim “Tagesspiegel” mit “‘Die rechte Blase im Netz wächst'”.

2. Wirbel um Hayalis “Junge Freiheit”-Interview
(ndr.de, Caroline Schmidt, Video, 8:11 Minuten)
Kann man, darf man, soll man einem mindestens rechten Blatt wie der “Jungen Freiheit” ein Interview geben? ZDF-“Morgenmagazin”-Moderatorin Dunja Hayali hat’s gemacht und ist dafür teils heftig kritisiert worden. Im NDR-Medienmagazin “Zapp” haben Jan Fleischhauer vom “Spiegel” und Heribert Prantl von der “Süddeutschen Zeitung” das Für (Fleischhauer) und Wider (Prantl) von Hayalis “Junge Freiheit”-Gespräch diskutiert.

3. Jenseits von Tabu und Sensation: Depressionen und Suizid in den Medien
(fachjournalist.de, Elisabeth Gregull)
Der heutige Weltgesundheitstag hat das Motto “Depression — Let’s talk”. Aber wie können Medien über Depressionen und Suizide berichten, ohne dabei stereotype Bilder zu wählen oder zu stigmatisieren? Sie müssten schon schon bei der Wahl der richtigen Begrifflichkeiten anfangen, schreibt Elisabeth Gregull und bietet weitere Tipps sowie Links mit weiteren Tipps für Journalisten. Eines der Ziele dabei sei: Papageno-Effekt statt Werther-Effekt.

4. Ist das Vertrauen in die Medien wirklich gestiegen?
(de.ejo-online.eu, Michael Haller)
Michael Haller ist verwirrt. Die einen (Medienwissenschaftler aus Würzburg) sagen: “Das Medienvertrauen ist so hoch wie seit 15 Jahren nicht mehr”. Die anderen (“Infratest”-Repräsentativerhebung) sagen fast zeitgleich: “Nur gut die Hälfte (52 Prozent) hält die Informationen in den deutschen Medien alles in allem für glaubwürdig”. Ja, was denn nun? Haller hat sich die verschiedenen Erhebungen, ihre Fragebogenformulierungen genauer angeschaut. Sein Fazit zur Jubelschlagzeile “Vertrauen in Medien so hoch wie lange nicht”: “Es handelt sich um Zufallsbefunde, die mal so, aber auch ganz anders ausfallen können.”

5. Von der Schülerzeitung entlarvt
(faz.net, Veronika Hock)
Eigentlich wollten die Mitglieder der Schülerzeitung “The Booster Redux” ihrer künftigen Schulleiterin in einem Interview nur ein paar Fragen stellen. Eine Antwort zum Lebenslauf war allerdings so merkwürdig, dass die Schüler der Pittsburg High School weiter recherchierten. Mit Folgen: Die Schule im US-Bundesstaat Kansas muss die Stelle neu besetzen.

6. Eier aus Stahl: Max Giesinger und die deutsche Industriemusik
(youtube.com, Neo Magazin Royale, Video, 22:11 Minuten)
Jan Böhmermann hat ein großes Ziel: Fünf Schimpansen aus dem Gelsenkirchener Zoo sollen nächstes Jahr einen “Echo” gewinnen, für ihren Song “Menschen Leben Tanzen Welt”. Mit einem “kleinen Experiment” und einer neuen Folge “Eier aus Stahl” zeigt das “Neo Magazin Royale”, wie musikalisch beliebig, maxgiesingerhaft und werbegesteuert die deutsche Industriemusik Musikindustrie ist.

Victim Blaming, Kritik an BVG-Tweets, Doppelmoral

1. Deniz Yücels Anwälte gehen vor das Verfassungsgericht
(welt.de)
Nachdem der „Welt“-Korrrespondent Deniz Yücel bereits mehrere Wochen inhaftiert ist, sind seine Anwälte nun vor das türkische Verfassungsgericht gezogen. Die Inhaftierung Yücels verletze „sein Recht auf körperliche Unversehrtheit und seine persönliche Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren, sein Recht auf die Unschuldsvermutung, sein Recht auf Schutz vor Verleumdung, das Recht auf Privatsphäre und freie Kommunikation sowie seine Meinungsfreiheit“. Deutsche Botschaftsvertreter haben unterdessen weiterhin keinen Zugang zu Yücel, obwohl von Seiten der Türkei eine konsularische Betreuung zugesichert worden war.

2. Victim Blaming im Fall Malina
(taz.de, Sibel Schick)
Seit dem 19. März wird eine 20-jährige Studentin aus München vermisst. Sibel Schick kritisiert die Berichterstattung der „Bild“, die mit irrelevanten Details die Unschuld der vermissten Studentin relativiere: „Die Betroffene ins Rampenlicht zu stellen führt den Täter tiefer in den Schatten: Interessiert uns noch, wer das überhaupt ist? Oder suchen wir nach Ausreden, welches Verhalten von Malina ihn dazu gebracht haben könnte? Machen wir eine Täterin aus der Betroffenen?“

3. Warum Verkehrsbetriebe keine politischen Witze machen sollten
(krautreporter.de, Rico Grimm)
Die Berliner Verkehrsbetriebe haben Krautreporter Rico Grimm mit ihren Witzen schon oft zum Lachen gebracht. Jetzt ist es ihm im Hals steckengeblieben… Anlass ist der Umgang der BVG mit dem Berliner AfD-Politiker Gunnar Lindemann. Die Antwort-Aktion diene nicht dazu, Menschen für die Benachteiligung von Minderheiten zu sensibilisieren. Sie sei ein unprovozierter Angriff auf den Politiker einer Partei, über die gerade sehr viel diskutiert werde. Grimm hält die BVG-Tweets an den AfD-Politiker deshalb für nichts als Marketing.

4. Der Freiraum schrumpft
(deutschlandfunk.de, Edda Schlager)
In Kirgistan herrschen für Journalisten vergleichsweise gute Zustände. Jedenfalls, wenn man es mit Nachbarländern der Region wie Tadschikistan, Turkmenistan oder Usbekistan vergleicht, in denen Pressevertretern Gefängnis und Folter drohen. Kirgistan hat sich daher zu einem Zufluchtsort für verfolgte Journalisten der Nachbarregionen entwickelt. Nun werden aber auch dort die Freiräume immer weiter eingeschränkt. Der Beitrag ist auch als Audio (4:53 Minuten) verfügbar.

5. Lagerberichte 4: Die Doppelmoral der “Alternativen Medien“
(schmalbart.de, Frank Zimmer)
„Warum ereifern sich die neuen „Alternativen Medien“ über Symbole und Begriffe, wenn Sie doch angeblich gegen „Political Correctness“ sind? Und warum sind immer nur die Anderen intolerant?“ Der „linksliberale Verfassungspatriot“ Frank Zimmers antwortet auf den „modernen Konservativen und Vollblutdemokrat“ Ben Krischke.

6. Kampf um US-Datenschutz: Aktivist will Internetnutzung aller Abgeordneten bloßstellen
(heise.de, Daniel AJ Sokolov)
Nachdem US-Netzbetreiber die Online-Aktivitäten ihrer User samt deren Bewegungsmustern überwachen, speichern, auswerten und verkaufen dürfen, will ein Netzaktivist zurückschlagen und bittet um Spenden: “Ich plane, die Internet History aller Abgeordneten und Manager sowie deren Familien zu kaufen, und sie einfach durchsuchbar auf searchinternethistory.com [bereitzustellen]. Alles, von ihren medizinischen über ihre pornographischen bis zu ihren finanziellen [Daten], und über ihre Seitensprünge. Alles, was sie sich angesehen haben, wonach sie gesucht haben, oder was sie im Internet aufgerufen haben, wird jetzt für jedermann verfügbar sein, um es zu durchleuchten.”

Sehen alle gleich aus (15)

Fotos, auf denen zwei Personen zu sehen sind, sind für Bild.de-Mitarbeiter immer doppelt gefährlich, weil sie dann gleich doppelt danebenliegen können. Wäre schließlich zweifach doof, wenn das Portal — mal als theoretisches Beispiel — ein Foto von Mick Jagger und Paul McCartney veröffentlicht, und in der Bildunterschrift steht dann: “Treffen zweier Musikgiganten: Florian Silbereisen und DJ Ötzi”.

Deswegen erst einmal ein großes Lob von uns: Toll, liebe Bild.de-Promierspäher, dass ihr Spielerberater Mino Raiola auf diesem Foto auf Anhieb erkannt habt.

Berater Raiola (r.) hat auch den bisher teuersten Fußballer der Welt, Paul Pogba, unter Vertrag

Und selbst die Info, dass Mino Raiola der Berater von Fußballprofi Paul Pogba ist, stimmt. Links im Bild ist aber gar nicht der französische Nationalspieler Pogba zu sehen — es handelt sich um den Italiener Mario Balotelli, der ebenfalls zu Raiolas Klienten zählt.

Das hätten die Mitarbeiter von Bild.de auch herausfinden können, wenn sie sich 15 Sekunden Mühe gegeben und sich die Fotobeschreibung der Agentur “Getty Images” angeschaut hätten. Denn dort steht:

Agent Mino Raiola and Mario balotelli are seen on March 5, 2013 in Milan, Italy.

Mit Dank an Andi F. für den Hinweis!

Nachtrag, 15:12 Uhr: Manche Leser haben uns darauf hingewiesen, dass die Bild.de-Redaktion in der Bildunterschrift gar nicht explizit — etwa durch ein “(l.)” — schreibt, dass sie den abgebildeten Mario Balotelli für Paul Pogba hält. Wir sind hingegen der Meinung, dass bei einem Foto, das nur zwei Personen zeigt und bei dem durch “(r.)” bereits klar ist, wer wer ist, das “(l.)” aufgrund des Ausschlussprinzips nicht zwingend nötig ist.

In der Zwischenzeit hat Bild.de die Bildunterschrift geändert. Nun wird klar, dass auf dem Foto Balotelli zu sehen ist. Dafür hat das Portal, entgegen unserer Annahme, ein “(l.)” verwendet:

Berater Raiola (r.) hat auch Stars wie Mario Balotelli (l.) oder den teuersten Fußballer der Welt, Paul Pogba, unter Vertrag

ZDF  

ZDF zeigt Hinrichtung von Menschen

Wer am vergangenen Dienstag “Frontal 21” geguckt oder gegen 21:07 Uhr zufällig ins ZDF gezappt hat, konnte sehen, wie zwei Frauen hingerichtet wurden. In einem Beitrag des Fernsehmagazins über die Türkei ging es unter anderem um die “Grauen Wölfe”, die Mitglieder der rechtsextremen “Milliyetçi Hareket Partisi”. Die Sprecherin des ZDF-Beitrags sagte:

Diese Bilder aus den Kurdengebieten verbreiten die Grauen Wölfe über die sozialen Medien selbst.

Menschenrechtsverletzungen. Wie auch in diesem Handy-Video. Experten halten diese Aufnahmen für authentisch: Männer in der Uniform türkischer Soldaten richten zwei kurdische Kämpferinnen hin. “Tamam, okay, das reicht”, sagt der Soldat und geht.

Dazu zeigte “Frontal 21” erst Fotos von verletzten oder getöteten Menschen, neben denen Personen in Uniformen stehen. Die Gesichter der Opfer hatte die Redaktion unkenntlich gemacht. Das ist alles noch im Rahmen. Dann folgte aber das 18 Sekunden lange “Handy-Video”, “Quelle: Twitter”. Man kann sehen, wie eine Frau in ein Erdloch geworfen wird, drei Männer in Uniformen schießen mit ihren Maschinengewehren in das Loch. Gleichzeitig, im Vordergrund der Video-Aufnahmen, schießt ein weiterer Mann in Uniform einer auf dem Boden knienden Frau mit seinem Maschinengewehr in den Kopf.

Diese menschenverachtenden Aufnahmen sind zum Glück nicht gestochen scharf. Es handelt sich eben um etwas wackelige Handy-Aufnahmen. Sie reichen aber aus, um genug zu erkennen: das Zerfetzen des Kopfes, das Zusammensacken des Körpers, das Blut auf dem Boden. Immerhin sind die Gesichter der Frauen nicht zu sehen, auch wenn die “Frontal 21”-Redaktion nichts verpixelt hat. Sie hat das Video, das die “Grauen Wölfe” vermutlich zu Propaganda-Zwecken bei Twitter verbreiten, eins zu eins übernommen.

Jeder, also auch Kinder und Jugendliche, können sich diese ziemlich würdelosen Aufnahmen aktuell rund um die Uhr in der ZDF-Mediathek angucken. Es gibt keine Zugangsbeschränkung.

(Wir haben uns bewusst dazu entschieden, weder den Beitrag in der ZDF-Mediathek zu verlinken noch Screenshots des Videos zu veröffentlichen.)

Mit Dank an @Schmier_Fink für den Hinweis!

Nachtrag, 16:57 Uhr: Das ZDF hat reagiert — die gesamte “Frontal 21”-Sendung ist nun erst ab 22 Uhr in der Mediathek abrufbar. *

*Nachtrag, 18:58 Uhr: Die “Frontal 21”-Redaktion hat die Folge vom vergangenen Dienstag kurzzeitig aus der Mediathek genommen, um die kritisierte Stelle zu bearbeiten. Nun sind die Opfer der Hinrichtung komplett unkenntlich gemacht. Der Beitrag ist in der Mediathek wieder abrufbar. In einer Stellungnahme hat das Team auf die Kritik an dem Türkei-Beitrag reagiert:

“Frontal 21” berichtete in der Sendung am Dienstag, 21. März 2017, über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. In dem Beitrag “Türken gegen Erdogan — Machtkampf auf deutschen Straßen” war zu sehen, wie Männer in türkischen Uniformen zwei mutmaßliche kurdische Kämpferinnen erschießen. Die Redaktion “Frontal 21” hatte sich entschieden, die 18-sekündigen Aufnahmen zu zeigen, um das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen zu veranschaulichen und zu verdeutlichen, mit welcher Brutalität in der Türkei der Kampf gegen Kurden geführt wird. Die Identität der Opfer war auf dem Video nicht erkennbar. Nach Ausstrahlung des Beitrags wurde das Video mit folgendem Warnhinweis in die ZDFmediathek eingestellt: “Achtung: Dieser Beitrag enthält Bilder, die Zuschauer schockieren könnten, da sie eine Erschießungsszene zeigen.” Zuschauer äußerten sich aber dennoch kritisch. Die Redaktion “Frontal 21” nimmt diese Kritik ernst und hat sich entschlossen, die Aufnahmen der Opfer zusätzlich unkenntlich zu machen. Die Redaktion bedauert, wenn die gezeigten Bilder Zuschauer verstört haben.

Verschlimmbesserung, Treppenlift-Spiegel, US-Comedy-Boom

1. Der Pressekodex öffnet sich für die „Lügenpresse“-Verschwörer
(udostiehl.wordpress.com)
Der Deutsche Presserat hat den sogenannten Pressekodex überarbeitet. Konkret ging es um die vieldiskutierte Richtlinie 12.1, welche die Berichterstattung über Straftaten und die Erwähnung von ethnischen, religiösen und anderen Zugehörigkeiten der mutmaßlichen Täter behandelt. Udo Stiehl vergleicht die Formulierungen der neuen mit der alten Richtlinie. Mit der Änderung bzw. Aufweichung dieser Richtlinie wollte man wohl dem von Lügenpresse-Rufern und Besorgtbürgern oft geäußerten Vorwurf begegnen, die Presse verschweige bewusst Angaben zur Herkunft von Tätern. Stiehls Resümee: “Die Richtlinie 12.1 ist in ihrer neuen Form unkonkreter und öffnet damit genau jenen Provokateuren neue Möglichkeiten, die Presseberichterstattung ohnehin gezielt diskreditieren wollen.”

2. Berichterstattung über dubiose Anbieter: Kanzlei droht Journalisten
(test.de)
Die Stiftung Warentest berichtet immer wieder über schwarze Schafe im Finanzbereich. Um Anleger vor dubiosen Angeboten zu schützen, muss natürlich der Name des Anbieters genannt werden. Die Kanzlei Höcker Rechtsanwälte aus Köln wolle das oft verbieten. Sie versuche Journalisten einzuschüchtern, indem sie bereits vor einer Veröffentlichung mit rechtlichen Schritten gegen die Berichterstattung drohe. Das sei ein Angriff auf die Pressefreiheit, so die Stiftung. Zwei konkrete Beispiele machen deutlich, wie seitens der Kanzlei mit Warnschreiben und unverhohlenen Drohungen operiert wird.

3. Facebook führt Anfechtungstool für Falschmeldungen ein
(zeit.de, Jan Aleksander Karon)
Vorerst nur in den USA führt Facebook ein Anfechtungstool für Falschmeldungen ein: Ein rotes Warndreieck soll darauf hinweisen, dass ein Beitrag unter Fake-News-Verdacht steht. Wer einen derartigen Artikel auf Facebook teilen will, bekommt einen Warnhinweis und weitere Informationen eingeblendet.

4. Fast ohne Treppenlift
(taz.de, René Martens)
René Martens hat sich den neuen “Spiegel Classic” angeschaut, den „Spiegel“-Spin-off für die Generation 50+. Große Begeisterungsstürme hat ihm das Heft nicht abgerungen: “Das Magazin für sehr erwachsene Erwachsene liefert zwar Eins-a-Qualitätsjournalismus, wirkt aber allzu gediegen, um nicht zu sagen: verschnarcht. Ironie? Witz? Schwer auszumachen. Spiegel Classic mutet so berechenbar an wie der Set eines Ü50-Party-DJs.”

5. Twitter-Transparenzbericht: Frankreich und Türkei stellen die meisten Löschanfragen
(netzpolitik.org, Markus Reuter)
Im Twitter-Transparenzbericht für das zweite Halbjahr 2016 ist die Türkei weltweit führend, was die Anzahl der Löschversuche angeht. Weltweit seien 13 Prozent mehr Löschanfragen gestellt worden als im Vorhalbjahr. Die meisten dieser Ersuchen seien keine Folgen von Gerichtsurteilen, sondern Anfragen von Regierungsstellen und Polizeien. 88 Anfragen hätten sich gegen verifizierte Journalisten oder Medien, fast 90 Prozent dieser Anfragen seien aus der Türkei gekommen.

6. Die besten Witze kommen aus Washington
(faz.net, Christiane Heil)
Christiane Heil berichtet aus Los Angeles über den Aufschwung der amerikanischen Comedians seit Trumps Machtübernahme im Weißen Haus. Die Comedy-Show „Saturday Night Live“ (SNL) hatte unlängst die höchsten Einschaltquoten der letzten 20 Jahre. Der sogenannte „Trump bump“ treibe aber auch auf die Einschaltquoten anderer Sendungen in die Höhe.

7. Offener Brief anlässlich des “Bild”-Beitrags “Darf man Sie Mongo nennen?”
(facebook.com, Lorenz Meyer)
Als siebter und damit zusätzlicher Link ein Hinweis auf den offenen Brief von 6-vor-9-Kurator Lorenz Meyer (also von mir) an die “Bild”-Redaktion. Diese hatte am Tag des Down-Syndroms geschlagzeilt: “Darf man Sie Mongo nennen?”, überschrieben mit “Bild fragt Fragen, die sich keiner zu stellen traut”.
Der Beginn meiner Botschaft an die Kollegen: “Ich könnte es mir natürlich leicht machen und Euch im Gegenzug fragen, ob ich Euch “Arschlöcher” nennen darf? Aber ich will mir mal die Mühe machen und Euch erklären, was an Eurer Schlagzeile falsch und schlecht ist.”

Dunz-Festspiele, Kolonialhumor, Storchenklage

1. Vom Erfolg, dem US-Präsidenten eine Frage gestellt zu haben
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Die deutsche “dpa”-Journalistin Kristina Dunz hat dem amerikanischen Präsidenten beim Merkelbesuch eine kritische Frage gestellt und wurde dafür von ihrem “dpa”-Vorgesetzten und weiteren Medien vielfach und ausgiebig gefeiert. Stefan Niggemeier von “Übermedien” kann mit den “Dunz-Festspielen” aus vielerlei Gründen wenig anfangen.

2. Stellungnahme zur Karikatur in der FAZ zum Thema „Erdogan möchte eine Rede halten“
(isdonline.de)
Das Karikaturistenduo Greser & Lenz hat auf “faz.net” ein Bild veröffentlicht, das bei vielen Menschen für Entsetzen gesorgt hat, die darin Rassismus sehen (Erdogan im Kannibalen-Kochtopf. Sprechblasentext: “Massa Osman wolle halte eine Rede”). Nun hat der Verein “Initiative Schwarze Menschen in Deutschland” eine Stellungnahme abgegeben und verlangt eine Entschuldigung.

3. Fischer, Frauen und die taz: Thomas Fischer zur Geschichte eines gescheiterten Interviews
(meedia.de, Thomas Fischer)
Gestern haben wir hier den offenen Brief der “taz”-Redakteurin Simone Schmollack an den BGH-Richter und “Zeit Online”-Kolumnisten Thomas Fischer verlinkt. Schmollack hatte sich den Frust über ein nicht autorisiertes Interview mit Fischer von der Seele geschrieben. Nun antwortet Fischer beziehungsweise schlägt zurück.

4. Klage gegen Buch über AfD: Von Storch schießt scharf gegen “Spiegel”-Journalistin Amann
(kress.de, Bülend Ürük)
Nach Informationen von “kress” will die AfD-Europaabgeordnete Beatrix von Storch einen Verkaufsstopp des Buches “AfD – Angst für Deutschland” der “Spiegel”-Journalistin Melanie Amann bewirken. Streitpunkt sei eine Textstelle, die ein Zitat von Beatrix von Storch aus der Debatte um einen Schießbefehl auf Frauen an der Grenze aufgreift. Der Verlag will sich hinter seine Autorin stellen: “Wir werden mit allen rechtlichen Mitteln gegen diesen Versuch, den Verkauf des Buches zu stoppen vorgehen.”

5. Klagewelle gegen die ARD
(rnd-news.de, Ulrike Simon)
Zwischen den Verlagen und Öffentlich-Rechtlichen wird immer wieder hart darüber gestritten, wer was darf. Die Verlage sehen in den Webangeboten der Öffentlich-Rechtlichen eine Bedrohung: Die Fernsehanstalten mögen sich auf Video und Audio beschränken. Texte und Fotos seien Sache der Verlage! Nun wollen die Verlage gegen den “rbb” vorgehen, auf dessen Internetpräsenz sie angeblich zu viel Text entdeckt hätten. Ulrike Simon erklärt den Konflikt und rätselt, wen es als nächstes trifft.

6. Ende der Tonspur
(sueddeutsche.de, Marc Hairapetian)
Eines der ältesten und größten deutschen Synchronunternehmen, die “Berliner Synchron”, zieht auf einen modernen Campus um. Anschließend werden die historischen Studios abgerissen. Anlass an den fast romantischen Charme des alten Gebäudes und seine besonderen Geschichte zu erinnern.

Satire-Sprachrohr, Vergoldete Kamera, Kimperator-Notizen

1. Erdogan bezeichnet Deniz Yücel als Terror-Helfer
(faz.net)
Die jüngsten Äußerungen des türkischen Präsidenten Erdogan über den inhaftierten “Welt”-Journalist Deniz Yücel lassen Schlimmes befürchten. Jedenfalls ist die Hoffnung auf eine baldige Freilassung Yücels erstmal in weite Ferne gerückt. Yücel sei ein Terror-Helfer und werde vor Gericht gestellt: „Gott sei Dank ist er festgenommen worden.“

2. Entschieden für die Kekse
(taz.de, Morgane Llanque)
Seit 2015 moderiert Trevor Noah die amerikanische “Daily Show”, eine erfolgreiche Satiresendung. Anlässlich des Erscheinens von Noahs Biographie erklärt “taz”-Autorin Morgane Llanque, warum die Sendung auch als eine Art Sprachrohr der Linken betrachtet werden kann: “Das Format ist das Vorbild der „heute-show“, doch die deutschen Komiker wie Oliver Welke oder auch Jan Böhmermann sind gegen die US-amerikanische Politsatire bloß leicht verdauliche Kopien. Die Originale sind nicht nur wesentlich scharfzüngiger und investigativer, sie beeinflussen auch in viel größerem Maße die politische Meinung der US-amerikanischen Linken. Fast mehr als die nicht satirischen Medien, sagen kritische Stimmen. Bei einer Befragung im Jahr 2010 gaben immerhin 10 Prozent der „Daily Show“-Zuschauer an, sie sähen die Sendung wegen der Nachrichten.”

3. Wenn das öffentliche Interesse schwerer wiegt
(faz.net, Reiner Burger)
Staatliche oder kommunale (bzw. teilstaatliche/teilkommunale) Unternehmen lassen Journalisten bei Rechercheanfragen gerne mal abblitzen und verweigern die Antwort. Damit ist nun Schluss wie der BGH in der Causa “Gelsenwasser” befand: „Dem vom Kläger verfolgten Informationsinteresse kommt ein größeres Gewicht als dem Interesse der Beklagten und der betroffenen Dienstleistungsunternehmen an der Geheimhaltung der Vertragskonditionen zu. Im Hinblick auf die sachgerechte Verwendung öffentlicher Mittel und die politischen Aktivitäten eines kommunal beherrschten Unternehmens besteht ein gewichtiges öffentliches Informationsinteresse.”

4. „Goldene Kamera“ ist Hamburg und dem ZDF einen Preis wert
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Nach der letzten Übertragung der Fremdschäm- und Peinlichkeitsgala “Die Goldene Kamera” (samt Ryan-Gosling-Prank) haben Sie gedacht, es könne nicht schlimmer werden? Dann lesen Sie, was Boris Rosenkranz herausgefunden hat: Die veranstaltende Funke-Mediengruppe kassiert von der Stadt Hamburg je ausgestrahlter Werbe-Revue 150.000 Euro, entnommen aus den Mitteln der Kulturtaxe.

5. Speed Watching ist das neue Binge Watching
(sueddeutsche.de, Julian Dörr)
Fernsehserien können regelrecht süchtig machen und so konsumieren manche Fans ihre Lieblingsserien per Bingewatching und schlingen ihre Serie gleich staffelweise herunter. Nun sollen sich Hardcore-Seriengucker in den USA auf “Speedwatching” verlegt haben und spielen die Videos zum Beispiel in der 1,25-fachen Geschwindigkeit ab. Julian Dörr merkt dazu kritisch an: “Serienschauen stand einmal für Entschleunigung, für die Verlangsamung des Alltags. Wider das neoliberale Effizienzdenken. Für die Ausschweifung und das Laissez-faire. Verschwende deine Zeit. Wer ewig lange Serien schaut, der ist nicht produktiv. Steckte in der Völlerei des “Binge Watching” noch der rebellische Akt der Maß-, Ziel- und Regellosigkeit, ist der “Speed Watcher” nichts anderes als ein systemkonformer Selbstoptimierer.”

6. Why is Kim Jong-un always surrounded by people taking notes?
(bbc.com, englisch)
Die nordkoreanische Nachrichtenagentur “KCNA” hat Dutzende von Fotos von Diktator Kim Jong-un an den unterschiedlichsten Orten herausgegeben, die allesamt etwas gemeinsam haben: Der Kimperator ist umgeben von Offiziellen und Generälen, die eifrig in ihre (identischen) Notizbücher schreiben. Wieso, weshalb, warum?

“6 vor 9”-Sonderausgabe: #FreeDeniz

1. “Hallo Welt!” – Deniz Yücel meldet sich mit einem Brief
(welt.de)
“Hallo Welt, nach 13 Tagen in Polizeihaft bin ich nun im Gefängnis Istanbul-Metris. Es mag sich merkwürdig anhören, aber mir kommt es so vor, als hätte ich ein kleines Stück meiner Freiheit zurückgewonnen: Tageslicht! Frische Luft! Richtiges Essen! Tee und Nescáfe! Rauchen! Zeitungen! Ein echtes Bett!”, schreibt Deniz Yücel. Kurz vor seiner Verlegung in ein neues Gefängnis konnte der Journalist handschriftlich ein paar Worte an Freunde und Kollegen aufschreiben und seinen Anwälten mitgeben. Die haben Yücels Notizen an die “Welt”-Redaktion weitergeleitet.

2. Facebookseite: #FreeDeniz
(facebook.com)
Eine gute Möglichkeit, sich für die Freilassung Deniz Yücels einzusetzen und sich über die laufende Entwicklung zu informieren: die mit vielen Bildern der Autokorsos und Aktionen und mit Links gefüllte Facebookseite #FreeDeniz.
Und hier noch mal die auch schon von uns verlinkte Seite “Freiheit für Deniz!” mit dem Link zur Petition.

3. Wie geht es im Fall Deniz Yücel weiter?
(sueddeutsche.de, L. Al-Serori, S. Braun, E. Gamperl, M. Matzner & M. Schulte von Drach)
Zwei Wochen befand sich Deniz Yücel in polizeilichem Gewahrsam, und einige hofften, dass er nach Ablauf dieser Frist freikommen würde. Leider kam es anders: Yücel kam in Untersuchungshaft. Ein Autorenteam von süddeutsche.de geht den Fragen nach, wie es dazu kommen konnte und was die Bundesregierung tun kann.

4. Erdoğans Fanal
(taz.de, Georg Löwisch)
Der Chefredakteur der “taz” sieht im Fall des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel alle Journalisten in der Pflicht: “Deniz Yücel im Kopf zu haben, heißt auch, seinen Mut im Kopf zu haben. Und die Solidarität, die seine Verhaftung gerade hervorbringt. Wenn ein Journalist angegriffen wird, schweben alle in Gefahr. Wenn sie einen einsperren, müssen alle dagegen aufstehen.”

5. Autofahren für Deniz Yücel
(sueddeutsche.de, Charlotte Haunhorst & Antonie Rietzschel)
In Berlin und anderen deutschen Großstädten gingen zahlreiche Menschen aus Solidarität mit Deniz Yücel auf die Straße. In Berlin sogar an verschiedenen Orten zeitgleich: Auf dem Platz gegenüber der türkischen Botschaft hätten sich ungefähr 200 Menschen versammelt, um gegen die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten zu demonstrieren. Fast zeitgleich rollte ein Autokorso mit 100 bis 150 Autos für Yücel durch Berlin-Mitte.

6. Was der Fall Deniz Yücel mit der Datenhehlerei und der EU-Anti-Terror-Richtlinie zu tun hat
(netzpolitik.org, Markus Reuter)
“Netzpolitik”-Redakteur Markus Reuter schreibt: “Wir fordern die Freilassung von Deniz Yücel und aller anderen inhaftierten Journalisten in der Türkei. Gleichzeitig möchten wir an Einschränkungen der Pressefreiheit in Deutschland und der EU erinnern, mit denen sich — bei veränderter politischer Lage — ähnliche Vorwürfe konstruieren lassen könnten.” Zur Erinnerung und Mahnung stellt Reuter die Gesetze, Richtlinien und Pläne vor, welche die Pressefreiheit hierzulande bedrohen.

Wer das Urteil hat, braucht für den Spott von Bild.de nicht zu sorgen

Ein ehemaliger Mitarbeiter der “Tafel” in Herford wurde vergangene Woche zu neun Monaten Haft auf Bewährung und 150 Stunden Sozialarbeit verurteilt. In seiner Position als Kassenwart hatte er in 38 Fällen Gelder des Vereins veruntreut. Von den insgesamt knapp 3400 Euro hatte der 28-Jährige, der auch in der Lokalpolitik aktiv ist, weiblichen Internetbekanntschaften Geschenke gemacht: Anzüge aus Lackleder, Unterwäsche, Duftöle.

Bild.de berichtete gestern am späten Abend über die Verhandlung (auf einen Link verzichten wir bewusst). Und schon in die Überschrift gossen die Redakteure den ersten Eimer Spott, der im Axel-Springer-Hochhaus links neben dem Tisch eines jeden Mitarbeiters immer bereitsteht:


(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Abgesehen davon, dass es in der Verhandlung um das Geld eines Vereins ging, der Menschen kostenlos mit Lebensmitteln versorgt, hat der Fall nichts mit Essen zu tun. Dass es sich bei dem Verurteilten um einen “dicken Politiker” handelt, musste bei Bild.de offenbar trotzdem unbedingt mit rein.

Für den ersten Absatz seines Artikels hat sich der Autor dann den Eimer Spott seines Büronachbarn geliehen, damit er sich über den “Gutmenschen” auf der Anklagebank lustig machen konnte:

Er wollte armen Menschen helfen, doch dann geriet der junge Politiker und Gutmensch im Internet in die Fänge der Lust. Der Trip ins Reich der Erotik brachte ihn um den Verstand und schließlich auf die Anklagebank.

In Absatz zwei kommt der Text noch einmal zurück aufs Aussehen des Mannes — der Autor schätzt dort dessen Gewicht.

Das alles ist deswegen besonders grässlich, weil Bild.de sich keine große Mühe gibt, den Verurteilten zu anonymisieren. Zwar kürzt das Portal den Nachnamen ab, dafür zeigt es aber sowohl auf der Startseite als auch im Artikel ein Foto von ihm ohne irgendeine Verpixelung. Die Bild.de-Mitarbeiter machen ihn bundesweit zum Gespött.

Natürlich kann man über die Verhandlung berichten. Die Richterin sagte auch völlig zu Recht, dass es “besonders verwerflich” sei, “dass Sie Geld nahmen, das für bedürftige Menschen bestimmt war.” Außerdem handelt es sich um eine Person, die in der Politik aktiv ist. Aber muss man diese Person nach einem Urteil, ob man es nun für gerecht hält oder nicht, noch derart mit einem Artikel vorführen?

Die regionalen Medien — “Westfalen-Blatt”, “Neue Osnabrücker Zeitung”, “Neue Westfälische” — respektierten übrigens die Persönlichkeitsrechte des Mannes und zeigten entweder verpixelte oder gar keine Fotos von ihm.

Bestürzende Sturzgeburt

Michael Martens hat in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” die Inhaftierung des “Welt”-Korrespondenten Deniz Yücel kommentiert. Aber er kann das unmöglich ernst gemeint haben. Vermutlich ist beim Schreiben etwas schiefgelaufen. Vielleicht war es ja so.

Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)

Michael Martens hatte am Wochenende eine schlaflose Nacht. Der “FAZ”-Südosteuropa-Korrespondent hatte gehört, dass sich sein Kollege Deniz Yücel in Istanbul in Polizei-Gewahrsam befindet. Yücel hat zwei Pässe. Er ist nicht der erste Journalist mit einem türkischen Ausweis, dem so etwas passiert, aber der erste mit einem deutschen. Martens fragte sich: Hätte man das irgendwie verhindern können?

Zwei Stunden lag er schon da und grübelte. Aber noch war ihm das alles nicht so klar. Er wälzte sich von der einen Matratzenseite zur anderen, zum hundertsten Mal schon, doch es wollte weder Schlaf kommen noch eine Antwort. Und dann wälzte er sich wieder, nur dieses Mal ein kleines Stückchen zu weit.

Rumms!

Martens rutschte ab, versuchte noch, sich im Fallen am Bettlaken festzuhalten, aber das Laken glitt ihm aus der Hand. Er knallte mit dem Hinterkopf gegen den Nachttisch und war kurz bewusstlos. Als er wieder zu sich kam, hatte er eine Idee.

Ja. Eigentlich war doch alles ganz klar, dachte sich Martens: Vor einem halben Jahrhundert hatten die Deutschen sich die Türken ins Land geholt. Als die dann endlich ein paar Sätze verstanden, sagte man ihnen, was zu tun ist. Das erledigten sie. Und das wurde über die Jahre so beibehalten.

Nun sind wir allerdings inzwischen sehr gut mit Gemüseläden versorgt und müssen den Kindern und Enkeln der Türken daher in anderen Branchen Beschäftigungen zuweisen. Und da lässt man sie doch am besten das machen, wovon sie ihrem Namen nach wohl am meisten verstehen dürften. Irgendwas mit Türkei eben.

So war es wohl zu erklären, dass dieser Yücel jetzt in Istanbul einsaß.

All jene, die gegen jeden guten Rat Journalisten werden müssen, bekommen einen Korrespondenten-Job am Bosporus, denn was soll man sonst mit ihnen machen? Sie über Innenpolitik schreiben lassen? Das wäre ja wohl absurd — bei dem Nachnamen.

Aber sie in die Türkei zu schicken, ist natürlich auch nicht viel besser, denn da liefert man sie dem Despoten ans Messer, der sie dann umgehend einbuchtet, wie man nun wieder einmal gesehen hat.

Und das ist doch die Erklärung, wurde es Martens auf einmal ganz klar: Wer trägt also die Schuld? Natürlich. Die Verlage.

Wenn die sich bei der Zuordnung ihrer Korrespondenten zu den frei werdenden Stellen auch nur ein Minimum an Gedanken machen würden, säße dieser Yücel jetzt nicht im Gefängnis — und er selbst nicht hier in Griechenland.

Immer noch leicht benommen, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Der verdammte Nachtschrank, fluchte er, aber immerhin hatte es aufgehört zu bluten, und der Schmerz ließ langsam nach.

Martens prüfte noch einmal, ob seine These so auch stimmte: Haben denn wirklich so viele Türkei-Korrespondenten deutscher Medien türkische Wurzeln?

Na egal. Es war jedenfalls schon öfter vorgekommen, dass Deutsch-Türken auf Deutsch über die Türkei geschrieben hatten. Und bei Deniz Yücel war es offenbar noch schlimmer. Das sei “einer, der die Türkei liebt”, hatte er gelesen.

Als Journalist. Das muss man sich mal vorstellen.

Dass er selbst das liebte, worüber er schrieb, war bei ihm in all den Jahren nur ein einziges Mal vorgekommen. Aber welche Hollywood-Schauspielerin würde sich schon mit einem Journalisten abgeben? So war das nun mal. Und jetzt saß er auch noch in Griechenland fest.

Der Text floss ihm nur so aus den Fingern.

Natürlich darf man die Türkei, Deutschland, Nordkorea oder Hintertupfingen “lieben” — aber ist es gut, ein Land zu lieben, über das man berichtet?

… formulierte er und las den Satz laut. Er gefiel ihm — besonders die Passage mit “Nordkorea oder Hintertupfingen”.

Als er den letzten Satz geschrieben hatte, ging Martens den Text noch einmal durch und war im Großen und Ganzen zufrieden. Er fand noch kleine Fehler, aber nichts, was den Eindruck getrübt hätte. Der Kopf tat schon gar nicht mehr weh. Aber an dieser einen Stelle blieb er doch immer wieder hängen. Und plötzlich war ihm etwas unwohl. Irgendwas stimmte da nicht.

Klang ja schon ein bisschen so, als wären türkischstämmige Journalisten hierzulande so etwas wie willenloses Verfügungsvieh. Dabei war es, wenn auch unwahrscheinlich, doch immerhin theoretisch möglich, dass es bei anderen Verlagen nicht ganz so war wie bei dem, der ihn nach Griechenland geschickt hatte. Wäre ja möglich, dass Yücel freiwillig in die Türkei gegangen war, dachte er, konnte es sich dann aber doch nicht vorstellen und verwarf den Gedanken wieder.

Er überlegte hin und her, und letztlich überwogen die Zweifel. Er hatte die E-Mail an die Redaktion zwar schon geschrieben, aber beschloss, den Text doch nicht abzusenden. Es war ein gutes Gefühl. Es war die richtige Entscheidung.

Als Martens von seinem Schreibtischstuhl aufstand, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen, blieb er mit dem linken Fuß am Ladekabel seines Laptops hängen. Das Kabel zog den Computer in Zeitlupe vom Tisch. Martens schlug mit der flachen Hand zu, um das sich der Tischkante nähernde Gerät zu stoppen.

Es gelang ihm so gerade. In dieser Pose, das Ladekabel am ausgestreckten Bein und die Tastatur unter dem ausgestreckten Arm, sah er seine E-Mail im Ordner Postausgang verschwinden.

In Panik schlug er ein weiteres Mal zu, um die Verbindung vielleicht doch noch zu kappen. Doch der Postausgang war schon leer, die E-Mail in Frankfurt angekommen. Der Bildschirm wurde schwarz. Der Computer ließ sich nicht mehr einschalten. Er versuchte es noch drei- oder viermal. Dann gab er auf.

Was für ein Ärger. Ein Telefon existierte nicht in diesem malerischen Drecksnest, wo er seine Wochenenden verbrachte. Zurück in Athen würde er erst am Sonntag sein. Dann könnte er die Redaktion anrufen. Aber dann war der Text längst erschienen. Statt des Biers aus dem Kühlschrank holte Martens die Flasche Metaxa aus dem Regal. Er setzte sich ans Fenster, schaute aufs Meer und schlief eine Stunde später ein.

Zurück in Athen, fand Martens in seinem Postfach eine E-Mail. Ein Kollege aus Frankfurt hatte geschrieben. Interessanter Text. Sei unter den Kollegen kontrovers diskutiert worden. Die Herausgeber seien allerdings durchweg sehr angetan. Besonders von diesem einen Satz:

Natürlich darf man die Türkei, Deutschland, Nordkorea oder Hintertupfingen “lieben” — aber ist es gut, ein Land zu lieben, über das man berichtet?

“Nordkorea oder Hintertupfingen” — tolle Formulierung, schrieb der Kollege. Die Herausgeber würden sich auch noch bei ihm melden.

Moment. Bei ihm melden?, dachte Martens. Warum das? In all den Jahren war das nicht ein einziges Mal vorgekommen. Wobei. Doch. Ein einziges Mal schon. Als er in der Konferenz ein bisschen die Fassung verloren und über die Kollegen aus dem Sport hergezogen hatte — denn wenn er eins wirklich hasst, dann ist es ja Sport. Das hatte er so auch gesagt. Und jetzt klingelte tatsächlich das Telefon. Waren das die Herausgeber?

Das waren sie. Guten Tag. Was wollten sie ihm sagen? Nein, umstrukturiert hatten sie. Wie schön. Aber warum erzählten sie das ihm? Roman aus dem Sport ins Literatur-Ressort? Wegen des Vornamens? Wer kommt denn auf so was? Ach so. Anregung aus dem Kommentar. Na dann. Und die freie Stelle im Sport? Was wird aus der? Ach, da suchen Sie wen? Jemanden, der garantiert nicht im Verdacht steht, den Sport zu lieben? Haha. Ja, das ist gut. Da werde er sich mal umhören, sagte Martens.

Aber dann hörte er: Sie dachten an ihn. Das Gespräch damals in der Konferenz. Da hätten sie sich erinnert. Und jetzt brauchten sie eben jemanden, der diese Aufgabe übernimmt. Vor allem eben Spielberichte über den Hamburger Sportverein schreiben. Darum ging es. Das hatte Roman ja bislang gemacht.

“Hamburg?”, fragte Martens.

“Genau, Hamburg”, hörte er am Telefon.

Martens war erleichtert. Hamburg kannte er gut. Da war er ja geboren. Das erwähnte er nebenbei. Die Herausgeber verstanden gleich: Damit kam er für die Stelle wohl nicht in Frage. Da hatte er also wirklich noch einmal Glück gehabt.

(Nur zur Sicherheit: Abgesehen von den Tatsachen, dass sich Deniz Yücel in Istanbul in Polizeigewahrsam befindet, Michael Martens den Kommentar geschrieben, und die “FAS” ihn gedruckt hat, ist all das hier erfunden.)

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