Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Reality-TV: Was für Opfer!” (dastandard.at, Olja Alvir)
Hinter den Kulissen des österreichischen Reality-Fernsehens: “Bei besonders fürchterlichen, idiotischen und peinlichen Kommentaren und Szenen spürt man die Begeisterung und Erleichterung der Crew. Produktionsleiterin und Kameramann tauschen dann vielsagende Blicke aus: Das wird grandios! Nur noch richtig zusammenschneiden, spöttisch kommentieren, mit zweideutiger Musik unterlegen. ‘Ganz toll hast du das gemacht!’, lobt die Leiterin und Regisseurin dann K. und uns.”
2. “Politik für alle” (freitag.de, Jana Hensel)
Mit der neuen Pro7-Talkshow “Absolute Mehrheit” kündige sich – endlich – ein Epochenwechsel an, glaubt Jana Hensel. Zu oft werde über Politik in “einer Sprache geredet, die an Briefe vom Finanzamt erinnern”.
4. “Über Veränderungen im Rezensionsjournalismus der Tageszeitungen” (funkkorrespondenz.kim-info.de, René Martens)
“Medien werden, um es bewusst pauschal zu formulieren, immer wichtiger”, schreibt René Martens: “Politische Skandale und Krisen werden oft quasi automatisch ein Thema für den Medienjournalismus, weil es sich aufdrängt, auch zu analysieren, wie die Kollegen über diese Themen berichten, wie sie sich an Inszenierungen beteiligen, wie sie sich instrumentalisieren lassen.”
5. “Stray penises and politicos” (davidsimon.com, englisch)
Anlässlich der aktuellen Berichterstattung über David Petraeus erinnert sich David Simon daran, wie er aufhörte, als Journalist über das Sexualleben anderer zu schreiben: “I told myself that I wasn’t in journalism to chase something so ordinary, so adolescent as other people’s sexuality, that I wouldn’t play this game, that there were better reasons to be a reporter, and there were better things for readers to consume.”
Vor dem Spiel des FC Bayern München gegen Eintracht Frankfurt hatten die Bayern zwei Zelte aufgestellt, in denen die Gästefans laut “Bild” kontrolliert wurden “wie auf dem Flughafen”:
Drinnen wurden die Fans vom Bayern-Sicherheitsdienst auf verbotene Gegenstände wie Pyrotechnik kontrolliert. Bei einem Anfangs-Verdacht hätten sich Fans für weitere Kontrollen wohl komplett ausziehen müssen.
“Bild” zitierte Kritiker der Aktion, erklärte die Rechtslage (“Nur die Polizei darf Fans zum Entkleiden auffordern.”), ließ die Bayern aber auch zu Wort kommen:
Bayern-Sprecher Markus Hörwick verteidigt die Maßnahme: “30 bis 40 Anhänger wurden strenger kontrolliert, mussten maximal ihre Jacken ausziehen.” Dabei wurden laut Polizei 22 Messer und ein Pfeffer-Spray gefunden.
Ähnliche Angaben finden sich auch in anderen Medien.
Am vergangenen Samstag, beim Spiel des FC Bayern gegen Eintracht Frankfurt, von DFB vorab als “Spiel mit erhöhtem Sicherheitsrisiko eingestuft, wurden darin stichprobenartig Frankfurter Fans kontrolliert. Dabei wurden sichergestellt: 20 Messer, zwei Schlagstöcke, ein Schlagring, eine Sturmhaube und Pfefferspray, außerdem Kokain.
Der Sportinformationsdienst sid schrieb:
Bei den Kontrollen am Samstag seien unter anderem 20 Messer, zwei Schlagstöcke, ein Schlagring, eine Sturmhaube, Pfefferspray und Kokain sichergestellt worden.
Und die Deutsche Presse Agentur dpa vermeldete:
Die Maßnahmen rechtfertigte der Verein etwa damit, “verbotene Pyrotechnik und Gewalt im Stadion” verhindert haben zu wollen, um dadurch “die Sicherheit von rund 71 000 Zuschauern in der Allianz Arena zu gewährleisten”. Bei den Kontrollen seien unter anderem 20 Messer sichergestellt worden.
20 (oder 22) Messer wären eine ganze Menge, wenn sie bei der näheren Kontrolle von “30 bis 40 Anhängern” gefunden worden wären, wie man es aus dem “Bild”-Bericht herauslesen könnte. Oder bei der “stichprobenartigen” Kontrolle der Frankfurter Fans auf süddeutsche.de.
Stattdessen fand die Polizei die aufgezählten Gegenstände bei ihren Kontrollen im gesamten Stadionbereich, wie Sprecher von Polizei und FC Bayern gegenüber dem Eintracht-Blog der “Frankfurter Rundschau” heute bestätigten:
“Bild” hält sich ja gerne für das Zentralorgan einer vermeintlich vorherrschenden Stimmung (“ganz Deutschland …”). Wenn es um richtig ernste Themen geht, geht die Zeitung aber gerne noch einen Schritt weiter und betreibt ein bisschen Amtsanmaßung.
Als die deutsche Fußballnationalmannschaft nach dem Vorrunden-Aus bei der EM 2004 und zwei Jahre vor der WM im eigenen Land ohne Trainer und Perspektive dastand, druckte “Bild” einen symbolischen “Arbeitsvertrag zwischen dem Deutschen Fußball-Bund und Fußball-Lehrer Ottmar Hitzfeld” und forderte lautstark “Herr Hitzfeld, unterschreiben Sie diesen Vertrag!”. (Ottmar Hitzfeld erzählte Jahre später, er habe sich davon “sehr viel unter Druck gesetzt” gefühlt.)
Im März 2010, als sich das Ausmaß der griechischen Staatskrise in den Medien abzeichnete, schrieb die “Bild”-Redaktion einen Brief an den damaligen griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou. Überschrift: “Ihr griecht nix von uns!”
Und im vergangenen November druckte “Bild” einen “Stimmzettel” für eine “Volksabstimmung”, bei denen sich das “Volk” zwischen den Optionen “JA, schmeißt ihnen weiter die Kohle hinterher!” und “NEIN, keinen Cent mehr für die Pleite-Griechen, nehmt ihnen den Euro weg!” entscheiden sollte.
Heute nun ist der griechische Premier Antonis Samaras in Berlin, um sich mit Angela Merkel zu treffen. Bereits gestern hatte “Bild” ein Interview veröffentlicht, in dem der Griechen-Beauftragte Paul Ronzheimer (der sich bemüht, den Eindruck zu erwecken, ein fast freundschaftliches Verhältnis zu Samaras zu haben) dem Griechen-Premier das Versprechen abrang, Griechenland werde alle seine Schulden zurückzahlen. Doch das reichte der Zeitung offenbar nicht, sie hätte es gerne … schriftlich.
“Bild” hat dafür Kosten und Mühen gescheut und den Grafiker in pseudogriechischen Buchstaben eine “Garantie-Erklärung” zusammenkloppen lassen, die aussieht wie die Servietten in einem griechischen Lokal:
Besonders perfide natürlich Punkt 2, in dem “Bild” fordert:
Griechenland wird dazu alle notwendigen Schritte unternehmen, den Verkauf unbewohnter Inseln notfalls eingeschlossen.
Die Zeitung ist vom Verkauf griechischer Inseln geradezu besessen, ignoriert dabei aber regelmäßig, welchen Klang solche Forderungen aus Deutschland in einem Land haben, das im zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzung gelitten hat.
Im Eifer des Gefechts hat “Bild” auch noch vergessen, zu erwähnen, wem Samaras das eigentlich versprechen soll, aber im Zweifelsfall sind “Deutschland” und “Bild” ja eh synonym verwendbar.
Stattdessen schreibt “Bild”, das Interview mit Samaras habe “weltweit hohe Wellen” geschlagen. “New York Times” und “Washington Post” hätten seinen Satz “Ich verspreche, dass wir unsere Schulden zurückzahlen” zitiert.
Mehr noch:
Wütend dagegen das Medienecho in Griechenland.
Die Zeitung “Ta Nea” fragt: “Warum hat Samaras die Brandstifter von BILD empfangen?” Der größte Radiosender “Vima”: “Es war ein großer Fehler, den BILD-Reporter zu empfangen.”
Hintergrund: Die kritische Griechenland-Berichterstattung in BILD, die mehr Sparwillen und weniger Hilfe aus Steuergeldern für das südeuropäische Land einforderten, gefiel vielen Griechen nicht.
“Kritische Griechenland-Berichterstattung”.
So kann man es natürlich auch nennen, wenn eine Zeitung über Monate und Jahre von “Pleite-Griechen” schreibt, einseitig berichtet und so gegen ein ganzes Land aufhetzt (BILDblog berichtete ausgiebig). Oder wenn sie vom Ministerpräsidenten eines (theoretisch) souveränen Staates irgendwelche Garantien auf einer Papierserviette fordert.
PS: Die Kredite und Garantien für Griechenland und andere Länder haben den deutschen Steuerzahler bisher übrigens “keinen Euro” gekostet, wie der Direktor der Europäischen Zentralbank, Jörg Asmussen, erst diese Woche im Interview mit der “Frankfurter Rundschau” erklärt hatte.
Zuletzt bewies der Premier noch Humor. Als die BILD-Redakteure ihn auch um seine Unterschrift unter eine “Garantie-Erklärung” zur Rückzahlung aller griechischen Hilfs-Kredite bitten (BILD-Ausgabe von Freitag), lacht er herzlich. Samaras: “Ich habe doch schon im BILD-Interview versprochen, dass mein Land alle Kredite zurückzahlen wird …”
Da ist zunächst dieses Meisterwerk aus dem “Südkurier” vom Freitag, das wegen seiner rätselhaften Schönheit von Experten bereits mit der “Mona Lisa” verglichen wird:
Am Samstag kam diese Kreation aus der Tortendiagrammbäckerei der “Frankfurter Rundschau” hinzu:
In beiden Fällen sind alle Prozentwerte übrigens korrekt angegeben.*
Mit Dank an Simon und Patrick K. für die Schenkungen!
* Nachtrag/Korrektur, 14.03 Uhr: Während in der oberen Grafik alle Prozentwerte korrekt aus der Quelle (PDF) übertragen wurden, ist in der unteren auch noch ein Zahlenfehler drin: Statt 13 gaben nur 2 Prozent der Befragten an, keines der beiden Länder als Heimat zu empfinden (PDF).
Nachtrag, 22.45 Uhr: Dank diverser Leserhinweise können wir nun so etwas wie eine Auflösung bringen: In der oberen Grafik sind offenbar die dunkelblauen und die orangenen Balken vertauscht und in der unteren ist die Beschriftung (von der fehlerhaften 13 mal ab) jeweils im Uhrzeigersinn verrutscht.
Es gibt in Deutschland Menschen, die nennen Moslems öffentlich “Jammertürken”, “Muselaffen”, “Muselgeier”, “Talibanfurzer”, “windelpupsende Mamasöhnchen”, “Arschhochbeter”, “Ziegenschänder”, “Eselficker” oder schlicht “Gesoxe” – und verstecken sich selbst dabei hinter Fantasienamen wie “Kreuzritter”, “RadikalDemokrat” oder “Islamophobius”.*
Und es gibt Menschen, die bieten diesen Leuten ein Forum. Die Betreiber der Internetplattform “politically incorrect” (kurz PI) sind solche Menschen. Sie nennen sich “Islamkritiker”, sind aber Islam-/Moslemhasser – und Thilo Sarrazin ist ihr Gott einer ihrer Helden.
Warum auch? Schließlich geht es darin ja scheinbar nur um die kurdischstämmige Journalistin Mely Kiyak, die in einer ihrer häufig sehr streitbaren Kolumnen (erschienen in “Berliner Zeitung”, “Frankfurter Rundschau” sowie in den Online-Ausgaben beider Zeitungen) den Buchautor Thilo Sarrazin eine “lispelnde, stotternde, zuckende Menschen-Karikatur” genannt hatte – was (angesichts der Tatsache, dass Sarrazins rechte Gesichtshälfte seit einer Tumor-OP 2004 teilweise gelähmt ist), nun ja, womöglich nicht die beste Idee der Welt war. Jedenfalls nahmen beide Zeitungen die Kolumne kommentarlos aus ihrem Online-Angebot, und die “Berliner Zeitung” druckte am Freitag sogar eine “Klarstellung”, in der Kiyak ihre Wortwahl sehr bedauert.
Aus Kiyaks “Klarstellung”:
“[…] Meine Intention war zu keinem Zeitpunkt, ihn persönlich herabzusetzen. Thilo Sarrazin erscheint als Diskutant ungewöhnlich und erfordert aufgrund seiner Sprache, Gestik und Mimik Toleranz und Rücksichtnahme. Selbst verweigert er aber diese Rücksichtnahme und Toleranz hinsichtlich Erscheinungsbild, Lebensformen, Herkunft und Disposition Anderer. Mir ging es darum, auf seine eigenen – nicht körperlich bedingten – Unvollkommenheiten in seinem Auftritt hinzuweisen; wie ich jetzt finde, mit unzulässigen Mitteln. Wenn ich den physiologischen Hintergrund gekannt hätte, hätte ich das Bild nicht gewählt. Ich bedauere das sehr! […]”
So weit, so unschön und, ja, berichtenswert – auch, wenn man bei genauerer Lektüre der “Klarstellung” erkennt, dass Kiyak sich darin, anders als “Bild” in Überschrift und Text suggeriert, mit keinem Wort entschuldigt – schon gar nicht bei Sarrazin (siehe Kasten). Aber das nur nebenbei.
Denn Kiyak schrieb weiter:
In den letzten Tagen erreichte mich allerdings auch eine gesteuerte und organisierte Beschwerdewelle, die die Grenzen der Empörung weit überschritt und sich nur noch in blankem Hass äußerte.
Wie solche “Beschwerdewellen” aussehen, hat Kiyak (aber bei weitem nicht nur sie) bereits häufiger erleben müssen und darüber sogar schon öffentlich berichtet – auch über die Auslöser: Islamhasser-Seiten wie PI nämlich dokumentieren islamhasserkritische Texte gern mit der Nennung von E-Mail-Adressen und weiteren Kontaktmöglichkeiten der Kritiker – und überlassen den Rest der geneigten Leserschaft…
“Bild” jedenfalls fasst das, was Kiyak in der “Klarstellung” schildert, dennoch (Hervorhebung von uns) als “eine angeblich ‘gesteuerte und organisierte Beschwerdewelle'” zusammen – hat dann aber noch eine weitere Kiyak-Geschichte parat:
Kürzlich attackierte sie in einem anderen Zusammenhang sogar einen ihrer Leser. BILD liegt eine E-Mail vor, die Kiyak am 18. Mai an Markus L. (Name geändert) schickte. Der hatte ihr in höflicher Sprache einen Leserbrief auf eine ihrer Kolumnen geschrieben.
Mely Kiyak schrieb L. zurück: “(…) Und auch sonst schreiben Sie so dämliche Grütze, dass man es kaum fassen kann. Als Zeitung schämen wir uns in Grund und Boden, solch einen flachgewichsten Leser wie Sie zu haben!”
Doch der Halbsatz “BILD liegt eine E-Mail vor” ist lächerlich – und irreführend: Die E-Mail (inhaltlich eher eine Art Manifest islamophober Überfremdungsängste mit persönlichen Anwürfen gegen Kiyak als Reaktion auf eine ihrer islamkritikerkritischen Kolumnen) wurde bereits vor einer Woche ins Internet gestellt – veröffentlicht auf journalistenwatch.com, einer privaten Website des Bundes-Pressesprechers der rechtspopulistischen Partei Die Freiheit, die auf vielfältige Weise mit der eingangs erwähnten Islamhasser-Seite PI verbandelt ist. Und nicht nur das. Der E-Mail-Wechsel wurde vor dem “Bild”-Artikel auch auf PI (und vielen anderen, ähnlichen Websites) dokumentiert – zusammen mit zahllosen beleidigenden PI-Leserkommentaren und dem redaktionellen Hinweis: “[D]iese abartigen Ausfälle einer Mely Kiyak darf man einfach nicht unkommentiert stehen lassen. Hier der Kontakt zur Frankfurter Rundschau, die dieser moslemischen Furie eine regelmäßige Plattform bietet: (…)” Außerdem hat journalistenwatch.com sogar eine Pressemitteilung zum Thema verschickt – zufälligerweise unmittelbar vor der “Bild”-Veröffentlichung.
Dafür, dass der “Bild”-Artikel nun, so wie er veröffentlicht wurde, in der Islamhasser-Szene bejubelt wird, kann “Bild” nichts. Beifall von der falschen Seite ist leider nie völlig ausgeschlossen. Aber: Dass in dem “Bild”-Artikel selbst kein (distanziertes) Wort über das unappetitliche und menschenverachtende Umfeld steht, das Kiyaks Entgleisung hervorgerufen und überhaupt erst öffentlich gemacht hat, ja, dass “Bild” sogar den Hintergrund der ganzen Auseinandersetzung, also die kritische Berichterstattung über die Islamhasser-Szene, komplett ausblendet, kann kein Zufall sein!
Der “Bild”-Artikel über Kiyak beginnt mit den Worten:
Ich hatte das schon fast wiedervergessen, aber ich glaube, ich kenne die Antwort.
Seit zwei “Bild”-Artikel zur Affäre um den Bald-darauf-Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff für den Henri-Nannen-Preis nominiert wurden, ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob die Berichterstattung der Zeitung preiswürdig sei.
Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer schrieb in einem Gastbeitrag für die “Frankfurter Rundschau”:
Die Tatsache, dass dies alles auch nur die Chance hat, in die Nähe eines Henri-Nannen-Preises zu kommen, ist ein Alarmsignal. Nicht einmal Axel Springer hätte das zu träumen gewagt.
Heute hielt Gabor Steingart, Chefredakteur des “Handelsblatts”, in einem Newsletter dagegen. Das Internetportal “Meedia” zitiert ihn mit den Worten, die “Bild”-Geschichte werde “im Geschichtsbuch unserer Kinder stehen”.
Und Fakt ist zweierlei: Die Bild-Geschichte war sauber recherchiert. Und sie war, da das Staatsoberhaupt schließlich zurücktrat, die wirkungsmächtigste Enthüllung des Jahres 2011.
Eine Meinung, die “Bild” teilen dürfte: Am 18. Februar, einen Tag nach dem Rücktritt von Christian Wulff, schaute die Zeitung zurück und feierte sich ganzseitig für ihre Berichterstattung.
Die Onlinefassung dieses Artikels, die man heute bei Bild.de aufrufen kann, unterscheidet sich ein wenig von der ursprünglichen Version, die auch in der gedruckten “Bild” zu lesen war.
In der Chronologie der Enthüllungen kam damals noch der 8. Februar vor:
8. Februar 2012: Der Bericht, der letztendlich zum Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft und zum Rücktritt des Bundespräsidenten führt. BILD enthüllt: Der Filmproduzent David Groenewold hat 2007 für Wulff einen Luxusurlaub im “Hotel Stadt Hamburg” (HSH) auf Sylt gebucht und bezahlt.
Die Verbreitung dieser Behauptung ist “Bild” und Bild.de im April vom Landgericht verboten worden. Das Gericht bestätigte damit eine Einstweilige Verfügung vom 8. März. Der Grund: “Persönlichkeitsrechtsverletzung aufgrund einer unwahren Tatsachenbehauptung”.
Der Clou dabei: Groenewold bestreitet gar nicht, den Urlaub gebucht und (zunächst) bezahlt zu haben. Sein Anwalt hatte es sogar in einer E-Mail vom 24. Januar an den NDR mitgeteilt.
Im Urteil heißt es dazu:
Der Antragsteller hatte dieses Detail daher selbst “enthüllt”. Die BILD konnte danach insoweit nichts mehr “aufdecken”.
Der NDR selbst hatte daran am 8. Februar, dem Tag der neuerlichen “Enthüllung” durch “Bild”, in einer Pressemitteilung etwas trotzig zu erinnern versucht:
Nach der Berichterstattung der “Bild”-Zeitung über einen Aufenthalt des heutigen Bundespräsidenten Christian Wulff in einem Sylter Hotel hat der Anwalt Wulffs am Mittwoch (8.2.) betont, der Sachverhalt sei “längst bekannt” und auf einen Bericht des NDR verwiesen. Am 24. Januar hatte das NDR Fernsehen in der Sendung “Menschen und Schlagzeilen” über zwei Aufenthalte Wulffs auf Sylt berichtet, darunter der Urlaub im Jahr 2007 im Hotel Stadt Hamburg.
Man kann den Beitrag bei ndr.de ansehen, der Hinweis auf den Hotel-Aufenthalt kommt ganz am Ende.
Das Landgericht Berlin führt dazu in seinem Urteil aus:
Die Persönlichkeitsrechtsverletzung ist auch nicht belanglos, da es einen Unterschied macht, ob der Antragsteller, wenn auch auf Rechercheanfrage eines Redakteurs des NDR hin, bereitwillig Auskunft über den Sylt-Aufenthalt erteilt hat und dies der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde, oder ob die Geschichte erst durch eine Zeitung “enthüllt” werden musste, also nach dem Verständnis des Lesers ohne Zutun der Betroffenen. Dies gilt zumal in dem gegebenen Kontext, in dem Vorgänge, für die der Antragsteller [David Groenewold] verantwortlich sein soll, zum [sic!] einem abrupten Ende einer Bundespräsidenten-Karriere geführt haben.
“Bild” und Bild.de haben nach unseren Informationen Berufung gegen das Urteil eingelegt.
Nachtrag, 18 Uhr: ndr.de hat – schon vor der Veröffentlichung unseres Eintrags – einen eigenen Artikel zu der Entscheidung des Gerichts veröffentlicht, in dem auch die Urteile im Wortlaut verlinkt sind:
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Das waren freundliche Herren” (zeit.de, Evelyn Finger und Annabel Wahba)
Evelyn Finger und Annabel Wahba befragen Günter Wallraff, der zuletzt für das “Zeit Magazin” undercover unterwegs war, kritisch zu seiner Vergangenheit: “Es wird jetzt so getan, als hätte ich zwischen 1968 und 1971 ein nie verjährendes Kapitalverbrechen begangen. Die Akten werden immer wieder aufgewärmt, mit dem Ziel, meine Arbeit zu diskreditieren und mich menschlich als Drecksau erscheinen zu lassen.”
2. “Ich wollte es dem Herrn Kirch beweisen” (welt.de, Andrea Seibel)
Ein ausführliches Interview mit Friede Springer, der Witwe von Axel Springer: “Einmal meinte ich, ich sei ein Produkt von ihm, das ist missverständlich, es klingt, als hätte ich keinen eigenen Willen. Heute sage ich: Er hat mich ausgebildet, ich bin dank ihm gewachsen.”
3. “Wir stehen zur FR” (fr-online.de, Joachim Frank)
Barbara Hendricks, Generaltreuhänderin der SPD-Medienholding DDVG, die mit 40 Prozent an der “Frankfurter Rundschau” beteiligt ist, feiert ihren 60. Geburtstag: “Alle Welt erachtet den Einfluss privater Verleger auf ihre Zeitungen für völlig normal, hielte es aber gleichsam für Teufelswerk, wenn eine demokratisch verfasste Partei dies täte.”
4. “Die Fehler der anderen – von Hightech und Huren” (wissenschaftkommuniziert.wordpress.com, Reiner Korbmann)
Wurde der MP3-Player in München entwickelt, wie in der “Süddeutschen Zeitung” zu lesen ist? “Weder wurde der MP3-Player hier entwickelt, noch der Softwarestandard MP3. MP3 stammt – immerhin fast richtig – aus einem Fraunhofer-Institut, aber dem Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen.”
5. “Spannungen zwischen Piraten und Journalisten” (welt.de)
Journalisten am Bundesparteitag der Piratenpartei in Neumünster: “Für Empörung sorgte ein TV-Team, das als Requisit für seine Sendung ein Spielzeug-Piratenschiffchen mitgebracht hatte, auf dem unter anderem rechtsextreme Losungen angebracht waren.”
Als die französische Polizei am vergangenen Donnerstagvormittag die Wohnung des mutmaßlichen islamistischen Attentäters stürmte und ihn dabei erschoss, hatte die Erstürmung in der gedruckten “Bild” vom Donnerstag schon stattgefunden (BILDblog berichtete).
Aber “Bild” war dabei nicht allein: Die “Berliner Zeitung” und die (von der gleichen Redaktion belieferte) “Frankfurter Rundschau” erklärten beide auf ihren Titelseiten, die Polizei habe die Wohnung des Mannes gestürmt und den Mann “gestellt”, worunter man eigentlich landläufig versteht, dass jemand lebend gefasst wird.
Bei “Welt”, “Welt Kompakt” und “Rheinischer Post” war der Verdächtige (bzw. “Täter”) gar in der Titelschlagzeile “gestellt” worden:
Immerhin erwähnen alle drei Zeitungen im Artikel, dass die Konfrontation “am Abend” bzw. “bei Redaktionsschluss” noch angedauert habe.
Und tatsächlich zeigen sich da ja die Nachteile einer Printausgabe, die tatsächlich irgendwann gedruckt werden muss und bei solch unübersichtlichen Situationen, die quasi zeitgleich mit Druckprozess und Auslieferung stattfinden, überholt sein kann, wenn der Zeitungsbote sie in den Briefkasten des Lesers steckt. Im Internet hingegen können Artikel permanent an die aktuelle Situation angepasst werden — einige Online-Medien berichteten gar in einem “Live-Ticker” von der Erstürmung der Wohnung wie von einer Sportveranstaltung.
Anders macht es da die “Leipziger Volkszeitung”, die seit Mittwochabend unbeirrt im “Polizeiticker” auf ihrer Webseite verkündet:
Besonders bemerkenswert daran ist, dass diese Überschrift die einzige Leistung der “LVZ”-Redaktion ist: Der komplette Artikel, in dem von einer Festnahme des Mannes überhaupt keine Rede ist, stammt von der Deutschen Presseagentur (dpa). Die hatte ihn allerdings mit der durchaus zutreffenden Überschrift “Nervenkrieg in Toulouse: Serienmörder wollte wieder töten” veröffentlicht.
Mit Dank an Jan und die anderen Hinweisgeber.
Nachtrag, 18.10 Uhr: “LVZ Online” hat die Überschrift inzwischen auf “Nervenkrieg in Frankreich: Serienmörder wollte wieder töten” gekürzt.
Nachdem die meisten Journalisten inzwischen einigermaßen begriffen haben, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kein “EU-Gericht” ist, können wir uns dem nächsten Thema der Medienerziehung widmen: Hollywood.
Der “Walk of Fame” besteht aus mehr als 2.400 Terrazzo-Sternen, mit denen verdiente Persönlichkeiten der Unterhaltungsindustrie ausgezeichnet werden. Hand- und Fußabdrücke werden traditionell in der Umgebung des Kinos “Grauman’s Chinese Theatre” hinterlassen und haben – neben der vergleichbaren Ehre und der räumlichen Nähe – nichts mit dem “Walk of Fame” zu tun.
Das muss man nicht wissen, aber es ist vielleicht hilfreich, wenn man als Reporter über eines von beiden berichten soll.
Die Agentur AFP hat es trotzdem probiert:
Rund zweieinhalb Jahre nach seinem Tod hat US-Popstar Michael Jackson einen Stern auf dem berühmten Walk of Fame erhalten. Jacksons Kinder Paris, Prince und Blanket verewigten am Donnerstag bei der Zeremonie mit Schuhen und den berühmten perlenbesetzten Handschuhen ihres Vaters dessen Fuß- und Handabdrücke im Zement auf dem Hollywood Boulevard im kalifornischen Los Angeles.
Ja, die zwei Sätze mit “Stern” und “Fuß- und Handabdrücke im Zement” stehen da direkt hintereinander. Nein, das scheint bei AFP niemand gewundert zu haben.
Schon am 6. Januar hatte die Agentur verkündet:
PARIS, PRINCE und BLANKET, Michael Jacksons Kinder, wollen dafür sorgen, dass ihr Vater rund zweieinhalb Jahre nach seinem Tod einen Stern auf dem berühmten Walk of Fame erhält. Mit Hilfe von Schuhen und der berühmten Handschuhe des King of Pop werden sie bei der Zeremonie am 26. Januar dessen Fuß- und Handabdrücke im Zement auf dem Hollywood Boulevard verewigen, teilten die Organisatoren mit.
Jetzt schafft AFP es sogar, in einem Video noch einen Schritt weiter zu gehen:
Während Jacksons Kinder mit betonverschmierten Händen zu sehen sind, sagt der Off-Sprecher “ein Stern für Michael Jackson”.
Und zu den Bildern des noch feuchten Betons mit den frischen Abdrücken darin erklärt er ungerührt: “Der Stern von Michael Jackson liegt in der Nähe der Sterne von Hollywoodlegenden wie Marilyn Monroe, Humphrey Bogart und Bette Davis.” Man muss schon sehr ahnungslos sein, um so einen Clip zu veröffentlichen.
Bei “Welt Online” haben sie immerhin irgendwann gemerkt, dass das mit dem Stern ziemlicher Unsinn ist, faseln aber immer noch vom “Walk of Fame”. Einen klaren Schnitt hat “Spiegel Online” vollzogen und den AFP-Text durch eine treffende dpa-Meldung ersetzt.
Den Stern auf dem tatsächlichen “Walk of Fame” hat Michael Jackson übrigens schon 1984 bekommen.
Mit Dank an Basti, Simon P., Dennis M. und AW.
Nachtrag, 19.55 Uhr: So “klar” wie von uns behauptet war der Schnitt bei “Spiegel Online” leider doch nicht: Zwar ist die dort verwendete dpa-Meldung richtig, aber “Spiegel Online” hat auch einen fehlerhaften AFP-Absatz stehen lassen:
Der Stern des King of Pop befindet sich in Nachbarschaft zu den Sternen von Filmlegenden wie Marilyn Monroe, Humphrey Bogart und Bette Davis. (…)
AFP selbst hat unterdessen um 19.17 Uhr eine Berichtigung verschickt:
+++ Berichtigung: Durchgehend heißt es nun richtig, dass Jackson nicht mit einem Stern auf dem Walk of Fame, sondern mit Hand- und Fußabdrücken auf dem Hollywood Boulevard geehrt wurde. +++
2. Nachtrag, 28. Januar: AFP hat das Video bei YouTube entfernt. Dafür hat sich “Bild” heute auf den “Walk of Fame” verlaufen:
Wer professionell mit Informationen umgeht, sollte eigentlich aufhorchen, wenn er das Wort “Wunder” hört. Doch wer einfach nur faul Informationen hin- und herschiebt, für den ist das Wort “Wunder” ein willkommener Anlass zum Weghören, die universelle Erklärung für das Unwahrscheinliche, das Unlogische oder schlichtweg das Falsche.
Am Sonntag meldete die Nachrichtenagentur dpa um 10.16 Uhr:
Jüngste Microsoft-Mitarbeiterin in Pakistan gestorben
Sie galt als Computergenie und wurde mit gerade einmal neun Jahre die weltweit jüngste Mitarbeiterin des Softwaregiganten Microsoft. Nun starb die Pakistanerin Arfa Karim Randhawa mit nur 16 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes. (…)
Microsoft hatte das in Pakistan als Wunderkind gefeierte und mehrfach ausgezeichnete Mädchen 2004 zur offiziell zertifizierten Mitarbeiterin des Unternehmens gemacht. Damit war Arfa Karim die jüngste von hunderten Softwareentwicklern rund um den Globus.
Und prompt macht die Saga vom Wunderkind in Microsoft-Diensten die Runde:
Alleine: Die verstorbene Jugendliche war nie Mitarbeiterin von Microsoft. Sie hatte im Alter von neun Jahren die Prüfung zum “Microsoft Certified Professional” bestanden. Das Zertifikat wird an Entwickler verliehen, die in bestimmten Bereichen ihre Kenntnisse über Microsoft-Produkte vorweisen können.
Am Montagmorgen hat die dpa die Meldung korrigiert. Doch für viele Medien bleibt das ohne Belang — die 16jährige bleibt für sie die “jüngste Angestellte von Microsoft”.