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“Bild” zum Fall Sami A.: Populismus statt Aufklärung

Das Oberverwaltungsgericht Münster hat gestern entschieden: Sami A., vor gut einem Monat nach Tunesien abgeschoben, muss zurück nach Deutschland geholt werden.

In der “Bild”-Ausgabe von heute und bei Bild.de ist dazu ein Kommentar der gesamten Redaktion erschienen:

Ausriss Bild-Zeitung - Das meint Bild - Propaganda-Fest für Radikale

Darin heißt es unter anderem:

In über einem Jahr hat die Bundesregierung es nicht geschafft, einen Mechanismus zu schaffen, um Terroristen wie Sami A. rechtssicher in ihre Heimat zurückzuschicken.

Ein Land, das diejenigen, die es auslöschen und mit Terror überziehen wollen, jahrelang auf Kosten der Steuerzahler aushält, dann auf Kosten der Steuerzahler im Privatjet ausfliegt und dann auf Kosten der Steuerzahler im Privatjet wieder zurückholt, damit sie hier wieder — vom Steuerzahler bezahlt — ihr Unwesen treiben können, das gibt es nur ein einziges Mal auf der Welt. Und dieses Land heißt Deutschland.

Natürlich gelte im Rechtsstaat Deutschland das letzte Wort der Gerichte, natürlich müsse dieser Staat dem Urteil im Fall Sami A. folgen. Doch:

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Osama bin Ladens Leibwächter bald wieder deutschen Boden betreten und umgehend seinen Antrag auf Hartz IV stellen wird. Ein Propaganda-Fest für alle Radikalen im Land, das Merkel, ihr Innenminister Horst Seehofer und der zuständige Minister in NRW zu verantworten haben.

“Das Land, das Terroristen zurückholt” — diesen Wahlkampfslogan bekommt die AfD in Bayern von der Bundesregierung geschenkt. (…)

Wenn Sami A. zurückkehrt, kann man das durchaus als Sieg des Rechtsstaats bezeichnen. Aber auch als schreckliche Niederlage für die Handlungsfähigkeit unseres Staates. All die Versprechen, dass Deutschland Gefährder, Kriminelle, Vorbestrafte bald konsequent abschieben wird, kann kein Mensch mehr ernsthaft glauben.

Es gehört schon ein bisschen Aufwand und Wille dazu, den eigenen Leserinnen und Lesern Urteile von Gerichten, die viele Leute vielleicht nicht verstehen können oder wollen, zu erklären. Bei den “Bild”-Medien gibt es diesen Willen offenbar nicht. Stattdessen hohlen Populismus und falsche Fakten.

Die Redaktion erklärt den Vorgang zu einer “schrecklichen Niederlage für die Handlungsfähigkeit unseres Staates”. Dabei ist die Rückholung — ob sie nun wirklich stattfinden oder an der tunesischen Staatsanwaltschaft scheitern wird, die noch gegen Sami A. ermittelt — das genaue Gegenteil davon. Der Vorgang zeigt, dass der Rechtsstaat funktioniert, auch wenn ihn manch einer auszutricksen versucht. Er zeigt, dass Gerichte unabhängig entscheiden, auch wenn Politiker öffentlich Druck ausüben. Und er zeigt, dass der Rechtsstaat für alle gilt, auch für jene, die als Gefährder geführt werden, auch für jene, die die “Bild”-Redaktion als “Terroristen” bezeichnet, obwohl sie mindestens rechtlich gesehen keine sind.

Genau das müsste man den Leserinnen und Lesern erklären: Dass der Rechtsstaat für jeden gilt; dass jeder das gleiche Recht auf einen fairen Prozess hat, unabhängig von politischer Einstellung und Ideologie, und egal wie unliebsam die jeweilige Person sein mag.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass sich die Stärke eines Staates auch darin zeigt, wie er mit seinen Feinden umgeht: Ob er ihnen dieselben Rechte und Verfahren zugesteht wie allen anderen; dass es dabei unerheblich sein muss, wer die politische Macht gerade innehat.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass es im Interesse jeder Bürgerin und jedes Bürgers ist, dass das genau so bleibt; dass es für jeden nur Vorteile hat, wenn Gerichte unabhängig und nur auf Grundlage des Gesetzes entscheiden; dass Behörden und Ministerien sich nicht einfach über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzen können; und dass es zu solchen Entscheidungen wie der des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster kommt, wenn sie es doch tun.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass die Entscheidung des OVG nicht bedeutet, dass Sami A. in Zukunft nicht abgeschoben werden kann; dass es darum auch gar nicht ging; dass sein Asylantrag weiter als abgelehnt gilt, dass aber auch weiterhin ein Abschiebeverbot besteht; dass es in der Entscheidung des OVG auch nicht darum ging, ob Sami A. gefährlich ist oder nicht, ob er Leibwächter Osama bin Ladens war oder nicht, ob er Terrorist ist oder nicht oder ob ihm im Falle einer Abschiebung Folter droht; dass es um die Fragen ging, ob die Abschiebung rechtswidrig war, ob Behörden einem Gericht Informationen vorenthalten und ob sie sich über eine Gerichtsentscheidung hinweggesetzt haben.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass bisher eine Abschiebung unter anderem auch daran gescheitert ist, dass es noch immer keine offizielle Zusicherung aus Tunesien gibt, dass Sami A. dort nicht gefoltert wird; dass die einzige Aussage in diese Richtung vom tunesischen Minister für Menschenrechte stammt, erschienen in “Bild”; dass das dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen verständlicherweise nicht als Zusicherung reichte.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass Sami A. kein verurteilter Terrorist ist; dass Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen ihn wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung eingestellt wurden, weil die Ergebnisse dieser Ermittlungen nicht für eine Anklageerhebung reichten.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass nicht endgültig bewiesen ist, dass Sami A. Leibwächter Osama bin Ladens war; dass dieser Vorwurf vor allem auf der Aussage eines anderen Mannes beruht, bei dem Ermittler schon früh Zweifel hatten, ob seine Geschichte in allen Punkten stimmt.

Vielleicht interessieren sich die “Bild”-Leute auch deswegen nicht für eine solche Aufklärung der eigenen Leserschaft, weil sie mit ihrer Berichterstattung der vergangenen Monate Beteiligte sind. Mit dem Druck, den ihre Schlagzeilen auf Politiker und Behörden ausübten, sorgten auch sie dafür, dass der Fall Sami A. für alle so groß wurde, dass derart überstürzt gehandelt wurde.

Statt aufzuklären, schreiben die “Bild”-Medien dann Sätze wie diesen:

“Das Land, das Terroristen zurückholt” — diesen Wahlkampfslogan bekommt die AfD in Bayern von der Bundesregierung geschenkt.

Genau genommen ist es natürlich nicht die Bundesregierung, die der AfD den Wahlkampfslogan mit dem falschen “Terroristen” schenkt, sondern “Bild”. Und es sind die “Bild”-Mitarbeiter, die das alles als “Propaganda-Fest für Radikale” bezeichnen.

Welche “Radikalen” meinen sie damit? Jene, die die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster für ihre Stimmungsmache als “schreckliche Niederlage für die Handlungsfähigkeit unseres Staates” auslegen? Das macht die Redaktion ja schon selbst.

Mit Dank an Johannes K. und Thomas für die Hinweise!

Wie “Bild” mit einer Vorverurteilung den Rechtsstaat in Verruf bringt

Es gibt ihn noch. Ernst Elitz, vor eineinhalb Jahren von “Bild”-Chef Julian Reichelt als Ombudsmann eingesetzt, als Anwalt für die Leserinnen und Leser, ist noch immer im Amt. Nach wie vor scheint er sich eher als Anwalt der Redaktion zu sehen und verteidigt die “Bild”-Medien gegen kritische Zuschriften aus der Leserschaft, aber manchmal findet selbst Elitz, dass “Bild” und/oder Bild.de was falsch gemacht haben. Vor gut zwei Wochen schrieb er:

Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch der Hinweis des Lesers Alexander Neu.

Die Sendung “Hart aber fair” hatte eine offizielle Kriminalstatistik über “tatverdächtige” Ausländer präsentiert. Der Leser kritisiert zu Recht, dass im BILD-Bericht über die Sendung der Eindruck erweckt wurde, es handle sich um eine Statistik bereits verurteilter Täter. Das war sie nicht!

Nicht jeder, der unter Verdacht steht, ist schon ein überführter Krimineller. Gerade bei einem politisch so brisanten Thema muss korrektes Zitieren erstes Gebot sein.

Hört, hört!

Es ist aber schon etwas niedlich, dass jemand in “Bild” und bei Bild.de ernsthaft mahnt, man solle Tatverdächtige nicht als überführte Kriminelle darstellen; in den zwei Medien, die seit jeher wie keine anderen Tatverdächtige als überführte Kriminelle darstellen.

Das aktuellste Beispiel dieser redaktionellen Leidenschaft: Sami A.

Über den Tunesier wurde in den vergangenen Wochen viel geschrieben und diskutiert. Bei Bild.de unter anderem mit dieser Schlagzeile aus dem Juli:

Screenshot Bild.de - Abschiebe-Skandal! Juristisches Tauziehen um Ex-Leibwächter von Osama bin Laden - Kommt Terrorist Sami A. jetzt zurück nach Deutschland?
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Das Problem dabei: Sami A. ist kein Terrorist. Jedenfalls wurde er nie als Mitglied einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Oder wie Ombudsmann Elitz sagen würde:

Nicht jeder, der unter Verdacht steht, ist schon ein überführter Krimineller. Gerade bei einem politisch so brisanten Thema muss korrektes Zitieren erstes Gebot sein.

Die Berichterstattung der “Bild”-Redaktion zum Fall von Sami A., die man wohlwollend als schlampig und ungenau bezeichnen kann und weniger wohlwollend als böswillig falsch, ist gleich doppelt problematisch: Sie erklärt einen Mann zum Terroristen, der rechtlich gesehen keiner ist. Und vielleicht noch schlimmer: Sie hinterlässt bei der Leserschaft den falschen Eindruck, dass der Staat überlegt, einen verurteilten Terroristen nach Deutschland zurückzuholen. Die daraus resultierende (unberechtigte) Verachtung für Behörden und Gerichte kann man in den Facebook-Kommentaren zum “Terrorist”-Artikel bestens beobachten:

Bitte bitte nicht! Ein Terrorisrt und Mörder oll zurückgeholt werden! Seit ihr jetzt alle komplett durchgeknallt oder habt ihr schlechte Drogen erwischt!

Je mehr Verbrechen du als Migrant begehst und je mehr einer weltweit gejagt wird, desto mehr klammert sich dieser Staat an seine Terroristen.

Jeden Tag kann man sehen warum man Heute die AFD eigentlich schon wählen muss: Alle anderen Parteien hofieren Verbrecher und Terroristen.

Wie kommen andere Länder nur auf die Idee, Deutschland würde Terroristen willkommen heißen. Kann ich ja so gaaaar nicht nachvollziehen.

Das Theater signalisiert allen Terroristen auf der Welt — in D kannst du sicher und vollversorgt auf Kosten Anderer, deinen wohl verdienten Terror Lebensabend geniessen….

Überall wird Terrorismus bekämpft und in Deutschland holt man ihn sich rein….Ganz sauber im Oberstübchen sind wohl hier viele Amtsinhaber nicht mehr.

Jetzt kämpft das Gericht in Gelsenkirchen darum, das der arme Traumatisierte Terrorist sofort wieder an die Sozialtöpfe nach Deutschland zurückkehren kann. Dieser Irrsinn ist nicht mehr zu verstehen.

Natürlich versteht man als nur halbinformierter “Bild”-Leser die Welt und vor allem deutsche Behörden und Gerichte und die Regierung nicht mehr, wenn scheinbar ein Terrorist “jetzt zurück nach Deutschland” kommen soll, und kommentiert bei Facebook wütend drauf los. Dass diese Empörung auf falschen Tatsachen beruht, ist auch “Bild” zu verdanken.

Sami A. kommt 1997 als Student nach Deutschland. 2006 stellt er einen Asylantrag, der 2007 abgelehnt wird. 2010 entscheidet ein Verwaltungsgericht, dass Sami A. nicht abgeschoben werden darf, weil ihm in Tunesien unter anderem Folter drohe. 2014 widerruft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dieses Abschiebungsverbot, weil in Tunesien ein Regimewechsel stattgefunden hat. 2016 entscheidet ein Verwaltungsgericht erneut, dass Sami A. nicht abgeschoben werden darf, da ihm in Tunesien noch immer “mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung” drohe. Ein Oberverwaltungsgericht bestätigt diese Entscheidung 2017. Am 13. Juli dieses Jahres wird Sami A. doch nach Tunesien abgeschoben, obwohl einen Tag zuvor ein Verwaltungsgericht erneut entschied, dass er dorthin nicht abgeschoben werden darf. Der Mann kam in Tunesien direkt ins Gefängnis. Nun wird diskutiert, ob Sami A. nach Deutschland zurückgeholt werden muss. Bei “Spiegel Online” gibt es eine detaillierte Chronologie.

Mittendrin in diesem Hin und Her, ab März 2006, gibt es Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Sami A. wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Er soll um die Jahrtausendwende mehrere Monate im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan gewesen sein und dort eine militärische Ausbildung der Terrororganisation al-Qaida durchlaufen haben. Anschließend soll er zum Mitglied der Leibgarde Osama bin Ladens aufgestiegen sein. Sami A. bestreitet all das. Das Verfahren gegen ihn wird im Jahr 2007 eingestellt, da die Ermittlungsergebnisse nicht für eine Anklageerhebung reichen.

Sami A. ist also kein verurteilter Terrorist. Ihm wurde auch nie von einer Staatsanwaltschaft oder einem Gericht nachgewiesen, Leibwächter Osama bin Ladens gewesen zu sein. Er ist laut Behörden ein islamistischer Gefährder.

Einen Mann, gegen den wegen Mordes ermittelt wird, kann man auch nicht einfach Mörder nennen, wenn die Ermittlungen mangels Beweisen eingestellt werden. Wer es trotzdem macht, hat nichts übrig für den Rechtsstaat und das Prinzip der Unschuldsvermutung. Und wer es so penetrant macht wie die “Bild”-Redaktion, gibt diese Justizverachtung an die eigene Leserschaft weiter.

Nur ein paar Beispiele:

Screenshot Bild.de - Ex-Leibwächter von Osama bin Laden abgeschoben!
Ausriss Bild-Zeitung - Gericht entscheidet zwölf Stunden nach Abschiebung - Bin Ladens Leibwächter muss zurück nach Deutschland!
Ausriss Bild-Zeitung - Schon wieder grobe Fehler beim Abschieben - Nach Bin Ladens Leibwächter soll erneut ein Asylbewerber nach Deutschland zurückgeholt werden
Screenshot Bild.de - Bin-Laden-Leibwächter Sami A. nach Tunesien gebracht. Jetzt soll er zurück
Ausriss Bild-Zeitung - Abschiebung von Bin Ladens Leibwächter - Wer hat Schuld am Chaos?
Screenshot Bild.de - Abschiebung des Bin-Laden-Leibwächters - Dieser Anwalt will Sami A. nach Deutschland zurückbringen
Screenshot Bild.de - Sami A. ist das Sinnbild für den Abschiebe-Irrsinn - Kein Fall mehr für deutsche Gerichte - Bin Ladens Ex-Leibwächter wurde endlich abgeschoben - Anwältin des Terror-Gefährders: Er muss mit Visum zurück

“Bild” veröffentlichte auch eine Art Interview mit Sami A. “Bild”-Reporter Paul Ronzheimer hatte dem Anwalt des Tunesiers Fragen mitgegeben. Sami A. antwortete unter anderen:

“Ich war nie Leibwächter von Osama bin Laden, das ist völlig frei erfunden. Ich war in Saudi-Arabien, Pakistan und Iran in meinem Leben, aber nie in Afghanistan. Auch hier in Tunesien wissen alle, dass diese Vorwürfe einfach nicht stimmen.”

Dass es doch so war, dass die “Bild”-Berichterstattung der vergangenen Wochen und Monate also nicht in einem wichtigen Punkt falsch war — dazu liefern “Bild” und Ronzheimer nicht einen Beweis.

Ende Juli gab es dann gleich zwei größere Überraschungen: Sami A. wurde in Tunesien aus der Haft entlassen, und Bild.de schrieb auf einmal:

Screenshot Bild.de - Breaking News - Mutmaßlicher von Osama bin Laden: Sami A. in Tunesien vorläufig wieder frei

Das Wort “mutmaßlicher” war aber wohl doch nur ein Ausrutscher. Kurz darauf ging es bei “Bild” und Bild.de mit der gewohnten Missachtung der Unschuldsvermutung weiter.

Leeres Gauland, Protestkündigung bei “Vice”, Ahnungslose “Freizeitwoche”

1. Wie Thomas Walde den AfD-Chef ins Straucheln brachte
(dwdl.de, Alexander Krei)
Im Sommerinterview sprach ZDF-Journalist Thomas Walde mit AfD-Chef Alexander Gauland, und der zeigte sich erstaunlich ahnungslos, wenn es um Dinge abseits der Flüchtlingsthematik ging. Digitalisierung? Renten? Wohnungsnot? Klimawandel? Zu all diesen Themen glänzte der 77-jährige Parteiführer mit Nichtwissen.
Weiterer Lesetipp: Wie die AfD mit kritischen Fragen umgeht: Die Alternative auf Antworten. “taz”-Autor Frederik Schindler weist dort auf eine Analyse des Datenjournalismus-Projekts “Einfacher Dienst” hin: In den neun Sommerinterviews, die vor Gauland ausgestrahlt wurden, sei es in mehr als 61 von insgesamt 267 Minuten über die Themen Flucht, Asyl und Migration gegangen, während für Europa knapp zwölf Minuten und für Bildung gerade einmal 18 Sekunden übrig geblieben seien.

2. Abgänge aus Protest: “Vice Österreich” muss neue Redaktion suchen
(derstandard.de, Oliver Mark)
Bei “Vice” Österreich haben alle acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Kündigung eingereicht. Einer der Gründe: Die “Entmachtung der Landes-Chefredaktionen”. Auf Facebook haben sich Noch-Chefredakteur Markus Lust und Noch-Vizechefredakteurin Hanna Herbst mit Stellungnahmen von ihren Leserinnen und Lesern verabschiedet.

3. “Ich fühle mich angestachelt”
(sueddeutsche.de, Hans Hoff)
Der aus China ausgewiesene Journalistik-Student David Missal ist wieder zurück in Deutschland. Missal ist wahrscheinlich ein Videobeitrag über Menschenrechtsanwälte zum Verhängnis geworden, den er im Rahmen seines Studiums an einer chinesischen Universität gedreht hat. Hans Hoff hat den 24-jährigen Studenten direkt vom Flughafen abgeholt und mit ihm gesprochen. Es entsteht das Bild eines mutigen, wenn auch etwas naiven jungen Mannes.
Weiterer aktueller Lesetipp: Kritik von allen Seiten für Googles chinesische “Zensurmaschine” (netzpolitik.org, Simon Rebinger).

4. Darum sollten Sie RSS nutzen
(sueddeutsche.de, Simon Hurtz)
Der Digital-Experte der “SZ” Simon Hurtz kann sich ein Leben ohne RSS nicht vorstellen. Die Technik ermöglicht es, unzählige Nachrichtenquellen gleichzeitig zu verfolgen. Dies gelinge mittels RSS und RSS-Reader weit besser als zum Beispiel über Portale oder Soziale Netzwerke: “Facebook ist wie eine Kantine: Indem Sie bestimmten Seiten folgen und Ihre Freunde selbst auswählen, können Sie zumindest die Grundzutaten Ihres Medienmenüs selbst bestimmen. Sie haben die Wahl zwischen Fleisch, Vegetarisch und Salat. Manchmal schmeckt es, manchmal ist es versalzen. Wer RSS-Reader nutzt, kocht selbst: Er weiß genau, was in den Topf kommt, und kann jeden Tag neu entscheiden, worauf er Lust hat.”

5. Wohnwagen, Inzucht
(freitag.de, Peter Kuras)
Im amerikanischen “Rust Belt”, der ehemals mächtigen Industrieregion im Nordosten der USA, steht es nicht gut um die Medienversorgung. Viele lokale Zeitungen haben dicht gemacht, Tausende Journalisten wurden entlassen. Regionale Radio- und Fernsehsender wurden oft von Großkonzernen geschluckt und fungieren jetzt als Abspielstationen mit wenig Regionalbezug. Das Onlinemagazin “Belt” stemmt sich dem journalistischen Abwärtstrend entgegen und schreibt gegen die Klischeebilder der Region an.

6. „Freizeitwoche“ findet keine Belege für Bullock-Interviews, aber Penis-Facials
(uebermedien.de, Mats Schönauer)
Über viele Jahre veröffentlichte die “Freizeitwoche” Interviews mit der US-Schauspielerin Sandra Bullock. Interviews, die es anscheinend nie gegeben hat. Das behauptet jedenfalls der Hollywood-Star, der die “Freizeitwoche” in Deutschland verklagt hat. Im Prozess geht es auch darum, ob die Redaktion hätte merken müssen, dass es sich um gefälschte Interviews handelte. Dafür spricht so einiges, aber die Verantwortlichen weisen alle Vorwürfe weit von sich. Wenn es sich um gefälschte Interviews handeln sollte, so die treuherzige Argumentation, sei man vom Autor hintergangen worden. Und dies jahrelang … Am 7. September soll das Gericht seine Entscheidung verkünden.

Die Verbindungen von “Compact” zu Rechtspopulisten und Rechtsradikalen

Eine der obskursten Behauptungen, die die “Compact”-Redaktion immer wieder verteidigt: Ihr Magazin stehe politisch nicht weit rechts. Sie verlinkt in ihrer Selbstbeschreibung auf eine eigens dafür vorgesehene FAQ, in der die Redaktion versucht zu erklären, sie sei weder rechtspopulistisch noch rechtsradikal. Zuletzt empörte sie sich im Mai darüber, in die Sonderausstellung “Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945” des NS-Dokumentationszentrums München als Exponat aufgenommen worden zu sein. Geht es nach “Compact”, ist diese Verortung in der rechten Ecke eine bösartige Verleumdung.

Die Münchner Kuratoren nannten das Cover der Oktober-Ausgabe von 2016 “rassistisch”. Hier im BILDblog hatten wir ausführlich über das Heft berichtet. Unter anderem riss die “Compact”-Redaktion darin Bilder aus einer Aufklärungsbroschüre aus dem Zusammenhang und behauptete fälschlicherweise, es handele sich um eine an Geflüchtete gerichtete Anleitung für Vergewaltigungen. Derartige Hetze ist wahrlich keine Ausnahme bei “Compact”.

Neben der inhaltlichen Analyse lässt sich die weit rechte Ausrichtung des Blatts noch auf anderem Wege nachweisen: über personelle Verbindungen. Das Magazin “gilt als AfD- und Pegida-nah”, hieß es unter dem Cover in der Ausstellung in München. “Compact” entgegnete:

Der Kommentar der Kuartoren (sic) lautet lediglich: “Rassistisches Cover des rechtspopulistisches (sic) und verschwörungstheoretischen Magazins ‘COMPACT’, 2016”. Darunter noch der Hinweis, dass es AfD- und “Pegida”-nah gelte. Die üblichen Zuschreibungen also. Nichts weiter. Was für eine erbärmliche Recherche für eine geschichtswissenschaftliche Ausstellung.

Tatsächlich ist die Formulierung “gilt als”, die die Kuratoren gewählt haben, nicht ganz angebracht. Sie ist unnötig vage und defensiv. Mit etwas mehr Platz als nur drei Zeilen Museumstext lässt sie sich aber konkretisieren: “Compact” ist definitiv AfD- und “Pegida”-nah. Das Magazin pflegt enge Verbindungen zu Rechtspopulisten und Rechtsradikalen.

AfD-Mitarbeiterinnen mit Nebenjob

Zu sehen ist das zum Beispiel in der Sendung “Die Woche Compact”, die bei Youtube läuft. Das etwa 20-minütige Format ist eine Werbesendung für “Compact”, die mit einer Studio-Optik und Video-Einspielern zu Themen aus dem Heft wie eine Nachrichtensendung gestaltet ist. Eine von drei Moderatorinnen ist Lisa Lehmann:

Screenshot eines Compact-Videos - Moderatorin laut Bauchbinde: Lisa Lehmann

Dass Lehmann auch stellvertretende Vorsitzende der Jungen Alternative Sachsen-Anhalt ist, könnte Zuschauer interessieren. Sie ist außerdem die Lebensgefährtin von André Poggenburg, Mitbegründer der völkischen AfD-Gruppierung “Der Flügel”, und Tochter von Mario Lehmann, AfD-Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt. Dass Poggenburg seine Partnerin als Auszubildende in die Landtagsfraktion holte, hielten selbst Parteikollegen für Vetternwirtschaft.

Lisa Lehmann ist nicht die einzige AfD-Frau mit direkter Verbindung zu “Compact”, deren Parteizugehörigkeit das Magazin nicht transparent macht. Einzelne Folgen von “Die Woche Compact” moderierte Linn Kuppitz, die sich auf Twitter selbstironisch “Frontfrau” der AfD-Landesliste Nordrhein-Westfalen für die Bundestagswahl 2017 nennt. Sie trat, hinter 22 Männern, auf dem vorletzten Listenplatz an und arbeitet als Büroleiterin des AfD-Bundestagsabgeordneten Johannes Huber.

Screenshot eines Compact-Videos - Moderatorin laut Bauchbinde: Linn Kuppitz

Und dann ist da noch die Frau, die in den meisten “Compact”-Videos als Moderatorin auftritt, Katrin Nolte. Auch sie ist mit einem AfD-Politiker liiert, Jan Nolte, Vorsitzender der Jungen Alternative Hessen. Seit der Wahl 2017 sitzt er als Abgeordneter im Bundestag. Und auch seine Frau hat einen Platz in Berlin gefunden, als Mitarbeiterin von Noltes Fraktionskollegen Martin Hohmann.

Screenshot eines Compact-Videos - Moderatorin laut Bauchbinde: Katrin Nolte

Somit arbeiten alle drei “Compact”-Moderatorinnen für die AfD. Sie sind selbst AfD-Politikerinnen, mit AfD-Politikern familiär verbandelt oder beides gleichzeitig. Mehr Nähe zur Partei geht kaum. “Compact” aber nennt die Videos “unabhängige Nachrichten”. 57.000 Youtube-User haben den Kanal, in dem die Sendung läuft, abonniert.

Die AfD hat sich mit “Compact” bestens arrangiert — und umgekehrt.

“Compact” betreibt gewissermaßen Content-Marketing für AfD-Inhalte und nutzt selbst wiederum Parteiveranstaltungen als Werbefläche für sich. Etwa die von der AfD getragene “Merkel muss weg”-Demonstration Ende Mai in Berlin. Stolz kündigte “Compact”-Chefredakteur Jürgen Elsässer vorher an, dass die von seinem Blatt im April zur “Schönen des Monats” gekürte Marie-Thérèse Kaiser eine Rede halten werde. Auch sie ist AfD-Mitglied. Die Demo selbst begleitete Elsässer schließlich mit seinen Moderatorinnen und weiteren Sympathisantinnen in “Compact”-T-Shirts, unter ihnen die AfD-Politikerinnen Jessica Bießmann und Jeannette Auricht. Er nannte sie die “Compact-Frauenbrigade”.

Screenshot Compact-Online - Einsatz für die COMPACT-Frauenbrigade mit „Sieg für Deutschland“-Shirt: Jessica Bießmann und Jeannette Auricht, AfD-Abgeordnete in Berlin

Bei einem von der AfD Falkensee organisierten Public Viewing des WM-Spiels Deutschland gegen Mexiko präsentierte “VIP-Gast” Elsässer sein Magazin. Im Februar sprach er beim politischen Aschermittwoch der AfD ein Grußwort, bevor André Poggenburg dort Türken als “Kümmelhändler” und “Kameltreiber” beleidigte.

Am Abend der Bundestagswahl hatte “Compact” eine Liveübertragung von der Party der AfD organisiert. Wohlgemerkt: Elsässer berichtete ausschließlich von der AfD-Wahlparty. Die Partei war dann auch das zentrale Thema der über drei Stunden langen Sendung. Elsässer sprach mit verschiedenen AfD-Politikerinnen und -Politikern sowie Vertretern des Vereins “Ein Prozent”, den Elsässer persönlich unterstützt und der die AfD auch mit Gruppen rechts von ihr vernetzt. Bei der Übertragungen ebenfalls dabei war Michael Stürzenberger, den “Compact” als Journalisten und “Pegida”-Redner bezeichnete:

Screenshot Compact-Video - Bauchbinde: Michael Stürzenberger, Journalist

Stürzenberger ist Autor des islamfeindlichen Blogs “Politically Incorrect”. Für seine Hetze bei “Pegida”-Veranstaltungen wurde er in Deutschland und in Österreich verurteilt. Auch bei den mitunter rechtsextremen “Hooligans gegen Salafisten” war er zugange. Im bayerischen Verfassungsschutzbericht wird Stürzenberger namentlich erwähnt (PDF, ab Seite 189).

“Compact”-Veranstaltungen als Plattform für Rechtspopulisten

Bei einem solchen Umfeld ist es kein Wunder, dass der völkisch-nationalistische Flügel der AfD die jährlichen “Compact”-Konferenzen gerne als Forum nutzt. Ohne befürchten zu müssen, kritisiert zu werden, konnten dort in den vergangenen Jahren Alexander Gauland (2014), André Poggenburg (2015, 2016) und Björn Höcke (2017) Reden halten. Hinterher werden diese unkommentiert in “Compact” abgedruckt. So lassen sich ohne aufwändige journalistische Arbeit billig Heftseiten füllen.

Aktive Führungsfiguren anderer deutscher Parteien, die in Landtagen oder im Bundestag sitzen, treten bei “Compact”-Konferenzen nicht auf, allenfalls dürfen sich ehemalige Mitglieder als Dissidenten gerieren. Stattdessen lädt “Compact” Vertreter europäischer rechtspopulistischer Parteien ein: Oskar Freysinger von der Schweizer SVP (2014, 2016) beispielsweise oder Susanne Winter, deren Auftritt bei der “Compact”-Konferenz 2015 wohl ihr letzter als Mitglied der FPÖ war. Am Wochenende darauf hieß sie öffentlich einen antisemitischen Facebook-Kommentar, der von Europa bedrohenden “Geldjuden” sprach, mit den Worten “schön, dass Sie mir die Worte aus dem Mund nehmen” gut. Daraufhin wurde sie aus der Partei ausgeschlossen. Heute ist Winter Mitglied der europäischen Neonazi-Partei “Allianz für Frieden und Freiheit”, an der unter anderem die NPD beteiligt ist.

“Pegida”-Gründer Lutz Bachmann sprach 2016 und 2017 auf “Compact”-Konferenzen. Martin Sellner, einer der Köpfe der rechtsextremen “Identitären Bewegung Österreich”, tritt seit 2015 jährlich auf, zudem schreibt er regelmäßig für “Compact” die Kolumne “Sellners Revolution”. Bevor er für die “IBÖ” aktiv wurde, war Sellner Teil der österreichischen Neonazi-Szene. Er leugnet das alles nicht, tut es aber als Jugendsünde ab. Der deutsche und der österreichische Verfassungsschutz (PDF, ab Seite 52) beobachten die “Identitäre Bewegung”.

AfD-Mitglieder als Moderatorinnen. AfD-Politikerinnen als “Compact-Frauenbrigade”. Auftritte des Chefredakteurs bei AfD-Veranstaltungen. Anti-Islam-Hetzer als Studiogäste. Gastredner, die heute in Neonazi-Parteien aktiv sind. Ein Mitglied der “Identitären Bewegung” als Kolumnist. Aber rechtspopulistisch oder rechtsradikal wollen sie bei “Compact” nicht sein.

“Bild” und Rassismus, Ausgebamft, Seehofers Framing zum (Ab)Würgen

1. “Bild” weiß: Rassismus in Deutschland kein Problem
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
In den letzten Tagen ging es in den Medien oftmals um Diskriminierung: Unter dem Hashtag #metwo berichteten unzählige Migranten und Migrantenkinder von ihren negativen Alltagserfahrungen. Boris Rosenkranz hat sich angeschaut, auf welche Weise “Bild” die Debatte aufgenommen hat und konstatiert: “”Bild” wehrt sich nicht gegen den Rassismus, sondern gegen den Vorwurf, dass es Rassismus gebe.”
Weiterer Lesehinweis: In seinem Beitrag Was Özil empfand, haben viele erlebt schreibt “SZ”-Autor Jan Bielicki über herkunfts- und religionsbezogene Diskriminierung als Massenphänomen. Studien würden zeigen: Die Benachteiligung sei keineswegs nur gefühlt.
Und ein weiterer Lesetipp: “Was sich unter dem Hashtag #MeTwo an Rassismuserfahrungen ansammelt, darf nicht ignoriert werden — auch wenn die “Bild” mit aller Wucht gegen Einfühlung und Menschlichkeit ankämpft”: Diese Geschichten werden unser Land verändern (spiegel.de, Georg Diez)
Und zu guter Letzt: Auf Facebook stellt sich Michel Abdollahi der “Bild”-Redaktion entgegen: “Wenn jemand als Sprachrohr der AfD jeden Tag spaltet und hetzt, dann seid ihr das. Ihr seid das prominenteste Gesicht des Rassismus in diesem Land. Ihr könnt außer Hetze und Lüge nichts anderes. Wir lassen uns nicht mehr ausgrenzen. Wir lassen uns nicht mehr einschüchtern. Wir lassen uns nicht länger von alten, weißen Männern erzählen, wann was Rassismus ist und wann nicht.”

2. Ausgebamft
(taz.de, Gareth Joswig)
Mitte April berichteten verschiedene Medien von einem angeblichen Skandal beim Bremer Bamf (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Der Vorwurf: In mindestens 1200 Fällen soll die ehemalige Leiterin Ulrike B. in Zusammenarbeit mit drei Anwälten unrechtmäßig Asyl erteilt haben. Nach Bekanntwerden der “Affäre” wurde die Bremer Außenstelle geschlossen. Auf Veranlassung des Innenministeriums überprüfen Ermittler nun die dort ausgestellten positiven Asylbescheide seit dem Jahr 2000. Mit ernüchterndem (Zwischen-)Ergebnis: Von den in Rede stehenden 1200 Fällen sind bisher gerade mal 17 übrig geblieben. Wer also weiterhin von einem Skandal sprechen will, sollte damit den Skandal hinter dem “Skandal” meinen.
Weiterer Lesehinweis: Eine ausgezeichnete Aufarbeitung mit juristischer Expertise und zudem ständig aktualisiert: Der eigentliche BAMF-Skandal — erst der Rufmord, dann die Recherche? (beck.de, Henning Ernst Müller)

3. “New York Times”-Verleger warnt Trump
(spiegel.de)
“New York Times”-Herausgeber A.G. Sulzberger hat sich mit US-Präsident Trump getroffen. Das Gespräch sollte auf Wunsch des Weißen Hauses vertraulich bleiben, doch diesen Wunsch konnte Trump seinen Mitarbeitern fast erwartungsgemäß nicht erfüllen und twitterte munter drauf los. Daraufhin sah sich auch der “NYT”-Herausgeber nicht mehr an die zugesagte Verschwiegenheit gebunden und berichtete vom Gespräch.
Hier gibt es Sulzbergers Stellungnahme im Wortlaut: Statement of A.G. Sulzberger, Publisher, The New York Times, in Response to President Trump’s Tweet About Their Meeting (nytco.com, New York Times)

4. Wer von “Sprachpolizei” spricht, will die Debatte abwürgen
(sueddeutsche.de, Luise Checchin)
In einer losen Serie analysiert die “SZ” das Framing politisch oder gesellschaftlich relevanter Begriffe. In der aktuellen Folge geht es um das Wort “Sprachpolizei”, mit dem Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) den Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle belegt hat. Luise Checchin befindet: “Mit seiner pauschalen Kritik am Verfassungsgerichtspräsidenten schürt Seehofer das Misstrauen in den Rechtsstaat. Und macht genau das, was er Voßkuhle vorwirft.”

5. Braucht die DSGVO ein Medienprivileg auch für Blogger, Fotografen und Pressesprecher?
(telemedicus.info, Simon Assion)
Der Deutsche Anwaltsverein empfiehlt, das Bundesdatenschutzgesetz um eine Regelung zu ergänzen, die sich auf Blogger, Podcaster, Youtuber, Twitter-Nutzer, Fotografen, Künstler, Pressesprecher und Politiker bezieht. Telemedicus-Autor und Jurist Simon Assion erklärt die Hintergründe des empfohlenen “Medienprivilegs”. (Besonders für Nicht-Juristen nicht zum schnellen Drüberfliegen geeignet, da einige Details.)
Weiterer Hinweis: Bei “Legal Tribune Online” kannst Du im DSGVO-Quiz zeigen, wie gut Du Dich mit dem neuen Datenschutzrecht auskennst.

6. Weniger Deutsche in Dresden
(twitter.com/emtiu, Michael Büker)
Michael Büker kommentiert eine Meldung der “Dresdner Neuesten Nachrichten”: “Wenn Du aus einer statistisch bedeutungslosen Schwankung von 0,15% so eine Schlagzeile baust, um Deine Leserschaft zu begeistern, bist Du wohl Journalist in Sachsen.”

Tichys Fehlblick, Geh sterben!, 100.000 erfundene Rehkitze

1. Wie „Tichys Einblick“ fast einen Skandal beim ZDF-“Politbarometer” aufdeckte
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Ein Stamm-Autor des rechten Online-Magazins “Tichys Einblick” meint einen Skandal um das ZDF-Politbarometer aufgedeckt zu haben, doch der eigentliche Skandal ist, dass es keiner ist. Oder um Stefan Niggemeier zu zitieren: “Es handelt sich dabei, freundlich formuliert, um ein Missverständnis.”
Weiterer Lesehinweis: Der Ex-CDU-Politiker Friedrich Merz lehnt die Annahme des Ludwig-Erhard-Preises ab (turi2.de). Er wolle nicht mit dem Stiftungsvorsitzenden Roland Tichy auf einer Bühne stehen. Nach der Absage von Merz seien die Journalisten Rainer Hank, Ursula Weidenfeld, Ulric Papendick und Nikolaus Piper aus der Jury des Preises zurückgetreten, denen nach der Absage von Merz anscheinend aufgefallen ist, für wen sie da in der Jury sitzen.

2. Beliebt, bedroht, beschossen – Leben mit Morddrohungen
(ennolenze.de)
Enno Lenze ist Verleger, Autor und Journalist, aber auch Museumsdirektor und politischer Aktivist. Und er zahlt für sein Engagement einen hohen Preis: Derzeit hätten 581 Personen angekündigt, ihn töten zu wollen. (“Wie sie die Reihenfolge festlegen wollen, ist mir unklar — aber wäre für mich dann ja auch das gleiche.”) In einem Blogbeitrag beschreibt Lenze, was das für ihn im Alltag bedeutet, ob in Berlin oder in Kriegsgebieten wie der Autonomen Region Kurdistan.

3. Twitter sperrt meinen Account für zwölf Stunden
(internet-law.de, Thomas Stadler)
Rechtsanwalt Thomas Stadler ist wegen eines Tweets zu Horst Seehofer (“Geh endlich sterben, menschenverachtender Zyniker”, verbunden mit einem Link) mit einer zwölfstündigen Twitter-Sperre belegt worden. Zu Unrecht wie er findet: “Mein Tweet bewegt sich äußerungsrechtlich ganz klar im zulässigen Bereich. Mit dem Tweet habe ich Seehofer keinesfalls den Tod gewünscht. Es handelt sich vielmehr um eine drastische Aufforderung endlich zu verschwinden, ähnlich einer Formulierung wie “Fahr zur Hölle”. Der Tweet setzt sich mit kontroversen politischen Aussagen des Innenminsters auseinander und stellt somit eine Kritik an öffentlichen Äußerungen eines Spitzenpolitikers dar.” Stadler hat seinen Beitrag mittlerweile zweimal aktualisiert und um Bemerkungen zu Debattenkultur und Meinungsfreiheit ergänzt.

4. David Berger: Ein Theologe im Kampf gegen „Islamisierung” und „Nanny-Medien”
(correctiv.org, Caroline Schmüser)
Der Blog “Philosophia Perennis” ist ein Leitmedium der rechten Szene und in Kreisen der sogenannten “alternativen Medien”. Im Mai habe es die Seite auf Platz 18 der Seiten mit den meisten Social-Media-Interaktionen geschafft, noch vor n-tv.de, taz.de oder Tagesspiegel.de. Die Plattform fällt besonders durch spekulative Berichterstattung, Falschmeldungen und AfD-Nähe auf. Hinter der Seite steckt David Berger, ein katholischer Theologe, der gewissermaßen zum Islamhasser konvertiert ist. “Correctiv” hat die Hintergründe um Person und Seite recherchiert.

5. Drei Pressemitteilungen und eine Abschiebung
(keienborg.de)
Der Jurist Marcel Keienborg ist Spezialist für Asyl- und Aufenthaltsrecht und hat deshalb besonders aufmerksam registriert, dass vergangene Woche ein Tunesier abgeschoben wurde, obwohl ein Gericht die Abschiebung untersagt hatte. In einem Blogbeitrag widmet er sich den Pressemitteilungen, die zu diesem Thema vom Verwaltungsgericht veröffentlich wurden. Der Vorgang sei in jeder Beziehung ungeheuerlich: “Wenn Behörden sich nicht mehr verpflichtet fühlen, Gerichten gegenüber vollständige und wahre Angaben zu machen, was eben auch eine gewisse Sorgfalt bei der Lektüre der eigenen Akten voraussetzt, ist letztlich die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle der Behörden insgesamt in Frage gestellt.”

6. Unser Hospitant ist Landwirt. Und er hat sich gefragt, ob eigentlich die immer wieder genannte Zahl stimmt, dass jedes Jahr 100 000 Bambis gekillt werden.
(twitter.com/vierzueinser, Jonas Jansen)
Erik Hecht ist für die “FAZ” der Frage nachgegangen, woher die jährlich in den Medien auftauchende Zahl von 100.000 von Mähdreschern getöteten Rehkitzen stammt. Die Antwort ist verblüffend: Die “Deutsche Wildtier Stiftung” habe sie nach eigenen Angaben irgendwann mal erfunden. Der Wert sei viel zu hoch. Die Hälfte sei wohl wahrscheinlicher, “wenn überhaupt”.

Angstmacher Seehofer, Wahlumfrage, Das Quaken der toten Ente

1. “Seehofer befeuert Misstrauen und Ängste”
(donaukurier.de, Klaus Meier)
Innenminister Horst Seehofer hat in einem Interview behauptet, es gäbe immer mehr Falschmeldungen. Die meisten Fake News würden seiner Ansicht nach in Deutschland produziert werden. Dem widerspricht der Eichstätter Journalismus-Professor Klaus Meier: “Horst Seehofer befeuert das Misstrauen und die Ängste von etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen in Deutschland, die der Propaganda der Rechten aufsitzen und denken, sie würden permanent manipuliert. Das ist für eine informierte und diskursive Öffentlichkeit nicht hilfreich, ohne die die Demokratie nicht atmen kann.”
Weiterer Lesehinweis: Auch der Vorsitzende des “Deutschen Journalisten Verbands” ist über die Aussagen Seehofers empört: “Ausgerechnet der Minister, der kraft seines Amtes die Grundwerte der Verfassung schützen soll, stellt die Pressefreiheit auf den Kopf, indem er uns Journalisten vorsätzliche Falschmeldungen unterstellt — unglaublich!” (djv.de, Hendrik Zörner)

2. „Heute“ und die Tiefen des „guten Boulevards“
(kobuk.at, Hans Kirchmeyr)
Das österreichische Gratisblatt “Heute” machte mit der Aufsehen erregenden Meldung auf, nach der eine 91-jährige “Oma” von einem Flüchtling vergewaltigt worden sei. Dabei handelte es sich jedoch um eine Falschmeldung, wie das Blatt in einem Anhang eingestehen musste. Hans Kirchmeyer lobt das Blatt für seine transparente Dokumentation, es sei jedoch ein erheblicher Schaden angerichtet worden: “Kaum ein Leser kehrt zurück und liest die kleine Korrektur ganz am Ende des Artikels. Und in den “sozialen” Medien quakt die Ente untot weiter.”

3. Muss man bei der WM zu viele bittere Pillen schlucken, Frau Freitag?
(planet-interview.de, Jakob Buhre)
“Planet Interview”-Macher Jakob Buhre hat sich mit der Vorsitzenden des Sportausschusses Dagmar Freitag (SPD) unterhalten. In dem Gespräch geht es u.a. über die laufende WM, den Zwang, die FIFA zu finanzieren, die Verbindung von Coca-Cola und Sport und den Umgang des DFB mit der Trikot-Affäre.
Weiterer Lesehinweis, ebenfalls bei “Planet Interview”: das Gespräch mit Markus Harm, dem Sportpolitik- und FIFA-Experten des ZDF: Die Fußball-WM ist ein Corporate Event, es geht fast nur noch um Geld.

4. CSU bundesweit bei 18 Prozent?
(faktenfinder.tagesschau.de, Konstantin Kumpfmüller)
Würde die CSU bei bundesweiten Neuwahlen wirklich bei 18 Prozent liegen, wie “Bild” unter Berufung auf eine Umfrage des INSA-Instituts berichtete? Daran bestehen Zweifel, auch weil die Fragestellung problematisch ist. Heiko Gothe vom Meinungsforschungsinstitut Infratest kritisiert die Frage nicht nur wegen ihres Framings, sondern auch ganz grundsätzlich: “Mit der Abfrage von Parteien, die bisher im jeweiligen Wahlgebiet gar nicht wählbar sind und mit denen die befragten Personen gar keine Erfahrung haben, wird der hypothetische Charakter massiv gesteigert und die Befragten letztlich überfordert.”
Weiterer Lesehinweis: Keine eindeutige Mehrheit für CSU-Politik – Spiegel online interpretiert das aber anders (stefan-fries.com)

5. 18 Wege, über die dich Facebook trackt und verfolgt
(basicthinking.de, Christian Erxleben)
Vielen ist bekannt, dass Facebook seine Nutzer trackt, analysiert und verfolgt. Wie ausgeklügelt Facebooks Tracking-Verhalten funktioniert, zeigt ein 225-seitiges PDF-Dokument mit Antworten an den US-Kongress. Danach gebe es 18 Methoden und Verhaltensweisen, über die das Netzwerk seine Nutzer ausspäht. Das reicht von technischen Daten, wie dem Batteriestand des Geräts und den installierten Plugins, bis hin zu Mausbewegungen und Einkäufen.

6. “Guten Tag, bin ich da in der Sportredaktion?”
(spiegel.de)
Als ZDF-Redakteurin Claudia Neumann im deutschen Fernsehen ein WM-Spiel kommentierte, gab es wütende Reaktionen in den sozialen Medien. Einige (männliche) Zuschauer können es anscheinend nicht ertragen, wenn eine Frau als Sportreporterin arbeitet. Das ZDF berichtete von “Hass, Häme und Beleidigungen”. Ein Einzelfall? “Spiegel Online” hat Sportjournalistinnen nach ihren Erfahrungen gefragt. Und die erzählen u.a. von Vorhaltungen, Vorurteilen und blöden Kommentaren.

7. Leserbrief an den FAZ-Herausgeber Holger Steltzner
(facebook.com, Lorenz Meyer)
Außerhalb der 6-vor-9-Zählweise, weil aus der Feder des Kurators: Ein Leserbrief an den “FAZ”-Herausgeber Holger Steltzner wegen dessen Behauptungen zur Asyl- und Flüchtlingspolitik. “Ich ärgere mich gerade über Ihren Beitrag, weil er verzerrt, mit Unwahrheiten operiert und das gesellschaftliche Klima vergiftet.”

Dunkle Mächte, Flüchtlingsforschung gegen Mythen, 78-Millionen-Klage

1. Die dunkle Macht, die beim „Stern“ Regie führt
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Das Titelbild der aktuellen Ausgabe des „Stern“ über das angeblich „zerrissene Land“ („Der Mordfall Susanna F. und das Ende von Merkels Flüchtlingspolitik“) hat in der vergangenen Woche viel Kritik ausgelöst. Stefan Niggemeier hat sich die dazugehörige Geschichte durchgelesen, und sagen wir es mal so: Das Ganze wird nicht unbedingt besser.

2. Flüchtlingsforschung gegen Mythen 6
(fluechtlingsforschung.net, Ulrike Krause)
Beim „Netzwerk Flüchtlingsforschung“ werden regelmäßig Behauptungen aus der Flüchtlingsdebatte auf den Prüfstand gestellt, ob Talkshow-Äußerungen, Tweets oder Stammtischparolen. Das Besondere an dieser Form des Faktenchecks: Es sind keine Journalisten, sondern Experten und Expertinnen aus der Wissenschaft, die dort Stellung beziehen. Auch in der sechsten Ausgabe kümmert sich das Wissenschaftlerteam unter der Redaktion von Prof. Dr. Ulrike Krause um typische Aussagen der letzten Zeit, wie der Forderung nach der Beendigung des „Asyltourismus“.

3. Mitarbeiter empören sich über Fox-Berichterstattung
(zeit.de)
Die tendenziöse Berichterstattung des Senders „Fox News“ über Donald Trump und seine Migrationspolitik stößt immer mehr Leute ab, darunter auch dem Sender eigentlich verbundene Personen. So verkündete „Modern Family”-Produzent Steve Levitan seinen Abschied. Auch der Schauspieler und Kreative Seth MacFarlane (u.a. Schöpfer der Zeichentrick-Serien “Family Guy”, “American Dad” und “The Cleveland Show”) ließ auf Twitter seiner Empörung freien Lauf: Er schäme sich, für das Unternehmen zu arbeiten.

4. “Lasst uns jeden Morgen vors Werkstor ziehen”
(kontextwochenzeitung.de, Josef-Otto Freudenreich)
Es gab einmal einen Betriebsrat, der den längsten Journalistenstreik der Nachkriegsgeschichte angeführt hat (96 Tage). Das war 2011 beim “Schwarzwälder Boten”. Der Mann heißt Thomas Ducks und war bis jetzt Betriebsrats-Vorsitzender der Medienholding Süd (u.a. „Süddeutsche Zeitung“). Doch nun schmeißt Ducks hin, weil er die “extreme seelische Belastung” nicht mehr erträgt.

5. Kläger fordert 78 Millionen Euro von “Süddeutscher Zeitung”
(deutschlandfunk.de, Michael Borgers im Gespräch mit Sebastian Wellendorf)
Stolze 78 Millionen Euro Schadenersatz verlangt ein Unternehmer von der “Süddeutschen Zeitung”. Der Vorwurf: Ein Bericht der Zeitung habe dazu geführt, dass ein millionenschweres Geschäft geplatzt sei. Der Leiter der „SZ“-Wirtschaftsredaktion Marc Beise warnt vor “amerikanischen Verhältnissen”. Wenn in dieser Form solch ein ungeheurer Druck auf Medien aufgebaut würde, sei das der Anfang vom Ende der Pressefreiheit.

6. Versucht’s doch mal mit Mohammed – TITANIC-Sommerhit
(youtube.com)
Die Satirezeitschrift „Titanic“ bekommt aus einer bestimmten Richtung seit Jahrzehnten immer die gleichen Vorwürfe zu hören. Da es schade wäre, wenn nicht mehr Menschen davon erfahren würden, haben die „Titanic“-Popstars aus den beliebtesten Blasphemie-Stereotypen einen Song gebastelt.

Fünf Jahre “Bild plus”: Geld machen mit getöteten Menschen

Auf der “Bild”-Titelseite gab es am Dienstag Torte:

Ausriss Bild-Zeitung - Bild-Plus feiert Geburtstag und 400.000 Abos - Die besten Geschichten, die besten Videos, der beste Service: Vor fünf Jahren, im Juni 2013, startete Bild das digitale Premium-Angebot Bild-Plus. Jetzt wurde pünktlich zum Geburtstag die Marke von 400.000 Abonnenten geknackt. Bild-Plus ist damit das erfolgreichste digitale Bezahlangebot für News, Sport und Unterhaltung in ganz Europa.

Nun gibt es beim “digitalen Premium-Angebot BILDplus” aber nicht nur “die besten Geschichten, die besten Videos, den besten Service”. “Bild plus” steht auch für ekliges Geldmachen.

Ein paar Beispiele aus den vergangenen Jahren …

Nach dem Tod einer 19-Jährigen im Januar 2015 schlagzeilte Bild.de:

Screenshot Bild.de - Familiendrama in Darmstadt - L. musste sterben, weil sie ihren Freund liebte

Den eher seltenen Namen haben wir unkenntlich gemacht. Das Gesicht die Bild.de-Redaktion — allerdings nicht aufgrund einer ethischen Überzeugung oder aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen. Bild.de versuchte lediglich, mit dem Foto einer Verstorbenen Kohle zu verdienen. Denn hinter der Paywall konnten alle Leserinnen und Leser, die ein Abo hatten, die Frau ohne Unkenntlichmachung sehen. “Bild plus” ist auch das Versprechen: Wer zahlt, kann Opfer in aller Ausführlichkeit anglotzen.

Und nur nebenbei: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Bild.de die Erlaubnis der Eltern hatte, das Foto der 19-Jährigen zu zeigen. Oder dass die Redaktion sie überhaupt gefragt hatte — denn beide Elternteile saßen zur Zeit der Veröffentlichung schon länger in Untersuchungshaft.

Eine andere “Bild plus”-Geschichte: Als eine Frau im Oktober 2016 schon mehrere Tage verschwunden war, und bereits eine Mordkommission ermittelte, schrieb Bild.de auf der Startseite:

Screenshot Bild.de - Ihr Verschwinden wirft weiter Fragen auf - Doros letzte SMS

Das Gesicht der Frau haben wir verpixelt, das unscharfe Handydisplay kommt von Bild.de. Die Redaktion wollte nämlich mit “Doros letzter SMS” Geld verdienen: Nur wer zahlt, darf alles sehen — in diesem Fall war es die letzte Kurznachricht einer möglicherweise verstorbenen Person (Bild.de: “Wurde sie getötet und verscharrt?”), mit der das “Bild”-Team versuchte, Abos zu verkaufen.

Ein weiteres Beispiel: Im März dieses Jahres berichtete Bild.de über einen schrecklichen Fall, bei dem eine 17-Jährige lebensgefährlich mit einem Messer verletzt wurde:

Screenshot Bild.de - Screenshot Bild.de - Scharia-Gericht im Kinderzimmer - Bruder rammt seiner Schwester Messer in die Brust - Schwer verletzt - Familie dreht Video von der Tat - Mit Video

Der Hinweis “MIT VIDEO” war tatsächlich so gemeint, wie man direkt befürchtet. Bild.de zeigte die Aufnahmen, die die Familie gemacht hatte. Für Leserinnen und Leser ohne “Bild plus”-Abo erschien folgender Teaser:

Mit BILDplus lesen Sie das grausame Protokoll einer Familie ohne Gnade, verhaftet in einem vorsintflutlichen Weltbild. Außerdem dazu, das Video der schrecklichen Tat — von der Familie gefilmt.

Unter welches Qualitätsmerkmal des “Premium-Angebots” “Bild plus” fällt das wohl? “Die besten Geschichten”? “Die besten Videos”? “Der beste Service”? Auf jeden Fall ist das billigster, menschenverachtender Sensationsjournalismus.

Die Bild.de-Mitarbeiter haben das Video übrigens gelöscht, nachdem sich die zuständige Staatsanwaltschaft bei ihnen gemeldet hatte.

Und noch ein Beispiel: Nach dem Terroranschlag in Manchester im Mai 2017, bei dem 22 Menschen getötet wurden, ein Großteil von ihnen Kinder und Jugendliche, brachte Bild.de einen Artikel über die 18-jährige Georgina. Titel: “Ausgelöscht!”. Der Beitrag bestand fast ausschließlich aus Postings des Mädchens in verschiedenen sozialen Netzwerken. Um ihn lesen zu können, brauchte man ein “Bild plus”-Abo.

Auch das ist “Bild plus”: Geld verdienen mit dem Tod junger Menschen.

Manchmal ist auch einfach die Paywall an sich problematisch, weil die Bild.de-Redaktion ganz entscheidende Informationen erst dahinter verrät.

Im März vergangenes Jahres beispielsweise wollte Bild.de wohl sowas wie Aufklärung betreiben und stellte dafür “Fragen, die sich keiner zu stellen traut”:

Screenshot Bild.de - Tag des Down-Syndroms - Bild fragt Fragen, die sich keiner zu stellen traut - Darf man Mongo zu Ihnen sagen

Die Antwort schon mal jetzt: Nein, darf man nicht. Das ist eine üble Beleidigung.

Das erfuhren auch die Bild.de-Leserinnen und -Leser — blöderweise aber nur jene paarhunderttausend mit “Bild plus”-Abo. Für die anderen Millionen Besucher der Seite hatte die Redaktion an prominenter Stelle ein Schimpfwort reproduziert, ohne die Auflösung zu liefern, dass dessen Verwendung überhaupt nicht in Ordnung ist.

Ein ähnliches Problem bei diesem Bild.de-Artikel aus dem Januar 2018:

Screenshot Bild.de - Nach 1300 Unterrichtsstunden - 4 von 5 Flüchtlingen bestehen Deutschtest nicht

Nur für “Bild plus”-Kunden gab es die Info, dass gar nicht “4 von 5 Flüchtlingen” bei ihrem Deutsch-Test durchfallen, sondern dass vier von fünf Flüchtlingen, die als Analphabeten in einen Sprachkurs kamen, nicht das Sprachniveau B1 erreichen. Das war gleich ein doppelter Unterschied: Es ging weder um alle Flüchtlinge noch um die Frage “bestehen oder nicht bestehen?”, sondern darum, ein gewisses Niveau beim Bestehen zu erreichen. Alle, die kein “Bild plus”-Abo hatten und nur die Überschrift sehen konnten, wurden von Bild.de falsch informiert.

Oder von gestern:

Screenshot Bild.de - Asyl-Streit mit Seehofer - Merkel ganz allein! Nur drei Unions-Abgeordnete stellen sich hinter die Kanzlerin

Nur mit einem “Bild plus”-Abo kann man herausfinden, dass an der “Bild”-Umfrage zum Thema “Zurückweisung von Flüchtlingen”, auf der der Artikel fußt, längst nicht alle 246 Unions-Abgeordneten im Bundestag teilgenommen haben, sondern nur 69 von ihnen. “Merkel ganz allein” also nur im Sinne von “Merkel ganz allein in Bezug auf 69 von 246 Unions-Abgeordneten”. Für Bild.de-Besucher ohne “Bild plus”-Abo wird das nicht klar.

Das waren jetzt nur ein paar Beispiele aus der Geschichte von “Bild plus”. Es gibt noch viele mehr. Es kommen ständig neue dazu. Und das seit fünf Jahren. Glückwunsch!

“Bild” lässt Angela Merkel allein dastehen

In der heutigen “Bild”-Ausgabe kann man wunderbar sehen, wie die Redaktion Informationen weglässt, verbiegt und zuspitzt, um an eine knallige Titelzeile und eine verkaufsträchtige Geschichte zu kommen. Und zwar an diese hier:

Ausriss Bild-Zeitung - Asyl-Streit mit Seehofer - Merkel ganz allein! Nur drei Unions-Abgeordnete stellen sich hinter die Kanzlerin

BILD fragte alle Unions-Abgeordneten des Bundestags, ob sie FÜR oder GEGEN eine Zurückweisung von [in anderen EU-Ländern] bereits registrierten Flüchtlingen [an den deutschen Grenzen] sind. Alarmierend für die Kanzlerin: Von den 246 Bundestagsabgeordneten der Unionsfraktion stellten sich lediglich Sybille Benning, Antje Tillmann und Kees de Vries (alle CDU) hinter die Haltung der Kanzlerin!

Das wäre ohne Frage ein ziemlicher Knaller und ein deutlicher Rückschlag für Angela Merkel — wenn es denn so einfach und eindeutig wäre.

Erstmal: Es ist schon bemerkenswert, wie “Bild” eine inhaltlichen Frage (für/gegen Zurückweisung) stellt und sie im Nachhinein zu einer Personalfrage (für/gegen Merkel) umdefiniert. Vor allem aber hat die Redaktion auf ihrer Titelseite eine wichtige Information weggelassen: Längst nicht alle der 246 Abgeordneten von CDU und CSU haben auf die “Bild”-Anfrage reagiert. Gerade mal 69 von ihnen schickten eine Antwort. Nur weil jemand auf die Frage “A oder B” nicht mit “B” antwortet, sondern gar nichts sagt, heißt das nicht, dass er oder sie nicht hinter der Person steht, die Variante “B” vorgeschlagen hat. Es kann sein, dass er oder sie nicht hinter dieser Person steht. Aber so eindeutig, wie “Bild” es suggeriert, ist es keineswegs.

Korrekt müsste die Titelzeile also lauten:

Merkel fast ganz allein unter denen, die uns geantwortet haben! Nur drei von 69 Unions-Abgeordneten, die auf unsere Anfrage reagiert haben, stellen sich hinter die Kanzlerin

Im Blatt erwähnt “Bild” den mauen Rücklauf zur eigenen Aktion immerhin:

Ausriss Bild-Zeitung - Übersicht der Doppelseite mit dem Artikel zur Bild-Anfrage

Na, nicht direkt gefunden? Hier hat die Redaktion den Hinweis versteckt:

Ausriss Bild-Zeitung - Übersicht der Doppelseite mit dem Artikel zur Bild-Anfrage, dieses Mal mit Hervorhebung des Hinweises

Obwohl BILD gestern bei allen Abgeordneten-Büros telefonisch oder schriftlich nachfragte, wollten oder konnten bis 19.45 Uhr nur 69 Abgeordnete offen sagen, welche Haltung sie unterstützen.

Während man bei “Bild” umblättern und mit etwas Suchen herausfinden kann, dass die Titelzeile nicht automatisch bedeutet, dass 243 Unions-Abgeordnete gegen die Position der Kanzlerin sind (wobei die Print-Redaktion natürlich genau weiß, was für eine mächtige Wirkung eine derartige Schlagzeile hat — Auflösung hin oder her), ist es bei Bild.de noch schwieriger, sich ordentlich zu informieren. Denn die Auflösung steckt dort hinter der Paywall:

Screenshot Bild.de - Asyl-Streit mit Seehofer - Merkel ganz allein! Nur drei Unions-Abgeordnete stellen sich hinter die Kanzlerin

Die vielen Bild.de-Leserinnen und -Leser ohne “Bild plus”-Abo erfahren also nicht, dass nur ein Teil der Unions-Abgeordneten sich überhaupt geäußert hat.

Wie verzerrend es ist, aus drei von 69 “nur drei Unions-Abgeordnete” zu machen, wird klar, wenn man sich die jeweiligen Antworten der einzelnen Abgeordneten anschaut, die die “Bild”-Medien mitliefern. Aus dem Büro von Angela Merkel etwa gab es keine Antwort:

Ausriss aus der Bild-Zeitung, der zeigt, dass das Büro von Angela Merkel nicht geantwortet hat

Nach “Bild”-Logik würde das bedeuten, dass nicht mal Angela Merkel hinter Angela Merkel steht.

Mit Dank an Jochen Z., Marvin und @Facesworld für die Hinweise!

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