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“Schon wieder!”

Weil es gleich erstmal etwas anders aussehen könnte, das Wichtigste vorweg: Der Afghane Mansor S. hat kein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat die Ermittlungen gegen ihn eingestellt.

Am 14. August dieses Jahres ließ die “Bild”-Titelseite wenig Spielraum für Interpretationen:

Ausriss Bild-Titelseite - Schon wieder! Mansor S. ist seit fünf Jahren ausreisepflichtig - Schon neunmal verurteilt - Jetzt wegen Vergewaltigung einer 14-Jährigen verhaftet

Auf Seite 3 derselben Ausgabe ging es groß weiter. Über dem Text von Markus Arndt, Thomas Knoop, Thomas Röthemeier sowie deren Kollegin Nadja Aswad titelte “Bild”:

Ausriss Bild-Zeitung - Polizei sicher - Abgelehnter Asylbewerber vergewaltigte Mädchen (14)

Während die “Bild”-Redaktion immerhin noch die leichte (und leicht übersehbare) Abschwächung “Polizei sicher” vor die riesige Überschrift setzte, war bei Bild.de das Urteil längst gefällt:

Screenshot Bild.de - Der Täter (30) zog sie in einen Hauseingang - 14-Jährige in der Hamburger City vergewaltigt

Als sich die 14-Jährige entfernte, folgte er ihr, verwickelte sie immer wieder in Gespräche — und zog sie dann im Bereich von “Saturn” an der Mönckebergstraße in einen Hauseingang.

Obwohl sich das Mädchen heftig wehrte, vergewaltigte der Mann es!

Keine Zweifel, keine Unschuldsvermutung. Keine weiteren Untersuchungen nötig.

Und wenn sie bei “Bild” einmal beschlossen haben, dass eine Vergewaltigung stattgefunden hat, gehen sie sehr schnell über zur nächsten Stufe, dem Fordern von politischen Konsequenzen:

Screenshot Bild.de - Nach Vergewaltigung einer 14-Jährigen - Abschieben statt Strafprozess! Warum muss bloß immer erst etwas Schlimmes passieren, bevor gehandelt wird?

Außerdem lassen sie auch Politiker Konsequenzen fordern:

Screenshot Bild.de - Langes Vorstrafen-Register - Politiker fordern jetzt mehr Härte von der Justiz!

Die Staatsanwaltschaft Hamburg zeigte sich von all dem “Bild”-Lärm unbeeindruckt und machte einfach ihre Arbeit: Sie befragte das vermeintliche Opfer zweimal, das sich dabei in Widersprüchen verhedderte. Das Mädchen sagte zum Beispiel, dass sie wegen ihrer High Heels nicht habe wegrennen können; auf Überwachungskameras war sie allerdings nur in Turnschuhen zu sehen. Die Staatsanwaltschaft stieß auf weitere Aufnahmen, die sich nicht mit den Vorwürfen deckten. Daher wurde Mansor S. bereits am 17. August aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Staatsanwaltschaft teilte uns damals mit, dass nur noch ein hinreichender Tatverdacht bestehe und kein dringender mehr.

Auch darüber berichtete “Bild”. Allerdings in einem etwas anderen Ausmaß: Auf der Titelseite vom 18. August war nichts zu dem Thema zu finden. Auch nicht auf Seite 3. Dafür eine kleine Meldung auf Seite 7, zwischen einem angeblichen “ARZT-MÖRDER” aus Somalia, einem angeblichen Leibwächter von Osama bin Laden und angeblichen islamistischen Gefährdern:

Ausriss Bild-Zeitung - Kein dringender Tatverdacht mehr - Afghane (30) nach Vergewaltigungsvorwurf wieder frei

Nur mal zum Vergleich — oben “Bild” am 14. August über die Festnahme von Mansor S., unten “Bild” am 18. August über die Entlassung von Mansor S. aus der U-Haft:

Collage mit den Bild-Seiten zum Fall vom 14. August und vom 18. August

Gestern berichtete das “Hamburger Abendblatt” (Artikel hinter der Paywall), dass die Hamburger Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen Mansor S. komplett eingestellt habe:

“Dem Beschuldigten konnte kein strafbares Handeln nachgewiesen werden”, sagt Carsten Rinio, Sprecher der Hamburger Staatsanwaltschaft. Es bestünden vielmehr “massive und durchgreifende Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin”.

Der Anwalt von Mansor S. sagt, dass sein Mandant die Folgen der Anschuldigungen und der Berichterstattung deutlich spüre: Die Familie habe sich von ihm abgewendet, von seinen Mitbewohnern im Flüchtlingsheim sei er als “Kinderschänder” beschimpft und vertrieben worden. Mansor S. habe daraufhin als Obdachloser auf der Straße gelebt. Gegen das Mädchen, das die Vergewaltigung erfunden hat, wolle der Afghane nicht vorgehen, so dessen Anwalt. Erstens wolle sein Mandant “das Ganze nicht erneut aufrollen”, und zweitens habe die 14-Jährige, die aus schwierigen Verhältnissen stamme, “in ihrem Leben schon genug durchgemacht”.

In den “Bild”-Medien ist von der Einstellung der Ermittlungen gegen den Mann, den die “Bild”-Medien längst verurteilt haben, bisher kein Wort zu lesen.

Mit Dank an @ma_ma_sz für den Hinweis!

Nachtrag, 30. November: Wir haben eine gute Woche abgewartet und noch mal nachgeschaut, ob bei “Bild” und Bild.de Korrekturen erschienen sind.

Bild  

“Die ‘Bild’-Zeitung ist heute wieder ein Kampagnen- und Kampfblatt”

Michael Spreng war mal Redakteur bei “Bild”, auch in leitender Funktion, später dann viele Jahre Chefredakteur von “Bild am Sonntag”, kurz darauf Wahlkampfmanager von Edmund Stoiber (CSU) und Medienberater von Jürgen Rüttgers (CDU). Kurzum: Michael Spreng steht nun wirklich nicht im Verdacht, ein linker Irrer zu sein.

Gestern saß er in der Sendung von Markus Lanz und sprach dort auch über die “Bild”-Zeitung von heute, die “Bild”-Zeitung unter Julian Reichelt (ab Minute 27:36). “Ziemlich furchterregend” finde er sie, sagt Spreng. “Bild” sei wieder zum “Kampagnen- und Kampfblatt” geworden.

Diese Bewertung finden wir so bemerkenswert, dass wir Sprengs Aussagen hier protokollieren wollen:

Heute, muss ich sagen, haben natürlich auch Massenblätter eine hohe Verantwortung. Und da muss ich sagen, finde ich zurzeit, Herr Wallraff wird mir wahrscheinlich zustimmen, die “Bild”-Zeitung ziemlich furchterregend.

Günter Wallraff, der ebenfalls in der Runde bei Lanz saß, antwortet …

Ja, wieder geworden.

… und Spreng führt fort:

Weil die “Bild”-Zeitung jede kriminelle Tat eines Ausländers oder Asylanten zur Schlagzeile macht. Wenn ein Deutscher einen Syrer ersticht, sind das ein paar Zeilen auf Seite 5. Und wenn mal kein Ausländer kriminell ist, dann kommen Aufmacher und Kampagnen gegen die lasche Justiz, gegen den unfähigen Staat, gegen die faulen oder untätigen Politiker oder unfähigen Politiker. Und diese seit vielen Monaten andauernde Kampagne wirkt auf Dauer, sie zersetzt den liberalen freiheitlichen Staat. Und das ist das Schlimme heute an der “Bild”-Zeitung.

Sie hatte zwischendurch eine Phase, in der zweiten Hälfte von Kai Diekmann, dem damaligen Chefredakteur, da hat sie sich geöffnet, da wurde sie für ihre Verhältnisse geradezu liberal.

Auf Markus Lanz’ Frage “Was ist dann passiert?” antwortet Spreng:

Es hat ja der Chefredakteur gewechselt. Jetzt ist da ein neuer Chefredakteur, der das offenbar völlig anders sieht. Ich finde, die “Bild”-Zeitung ist heute wieder ein Kampagnen- und Kampfblatt. Und das hat Auswirkungen nicht nur auf ihre Leser, sie hat ja immer noch, trotz aller Verluste, ein paar Millionen Leser, sondern damit auch auf die Politik. Denn die Politiker sagen: Was die “Bild”-Zeitung schreibt, ist Volkes Meinung. Wir müssen uns an Volkes Meinung orientieren. Und damit verändert es auch die Politik. Und das macht mir wirklich große Sorgen. Dass also diese Veränderung unserer Gesellschaft, diese Verschiebung nach rechts, dass die auch dadurch gefördert wird.

Es kann doch nicht sein, dass bei “Bild” unter dem neuen Chefredakteur praktisch eine Gruppe von Kriegern sitzt, die glaubt, sie sitzen gemeinsam im Schützengraben und müssten von dort aus einen Feldzug gegen Frau Merkel und gegen den liberalen Rechtsstaat führen. Das ist auf Dauer zersetzend. Und mir tun die anständigen “Bild”-Redakteure leid, muss ich wirklich sagen.

Nach einem nur mittelmäßig geglückten Witz von Markus Lanz sagt Spreng noch:

Ab und zu kommen dann Alibi-Geschichten über ein paar erfolgreiche Flüchtlinge oder über die schlimmen Zustände in einem Flüchtlingslager auf Lesbos. Aber das sind Alibi-Geschichten. Ich verstehe das auch nicht: Wir haben uns im Journalismus schon weiterentwickelt. Die Zeit der großen ideologischen Schlachten und der Missionare, wie sie auch zur Zeit der Ostpolitik noch war, diese große Zeit der ideologischen und auch fanatisierten Schlachten ist vorbei. Und das ist so eine Rückentwicklung. Ich habe manchmal das Gefühl, wir fallen in eine Zeit zurück, die wir eigentlich zivilisatorisch schon überwunden haben.

Repräsentativ daneben, Maaßens “Korrekturbitten”, “Bild” zahlt

1. Repräsentativ daneben?
(taz.de, Michael Höfele)
Michael Höfele hat sich in der “taz” mit den Umfragen von “Civey” beschäftigt, die mittlerweile von fast allen großen Medienhäusern verwendet werden. Das Problem: Die “Civey”-Zahlen würden oft extrem von denen der “etablierten” Institute abweichen. Was auch an der Methodik liege, die von der Konkurrenz als unzureichend und nicht-repräsentativ kritisiert wird. Anders sehe es nur bei der “Sonntagsfrage” aus: Hier lägen die “Civey”-Zahlen zwar fast immer beim Durchschnitt der anderen Institute — aber dafür gebe es Indizien, dass “Civey” bei den anderen Instituten abschreibe.

2. “Bild” muss Kachelmann erneut Schmerzensgeld zahlen
(ndr.de, Robert Bongen)
Nach “Zapp”-Informationen muss der Axel-Springer-Konzern dem Wettermoderator Jörg Kachelmann wegen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten nun endgültig insgesamt 530.000 Euro zahlen. Der Bundesgerichtshof habe eine Beschwerde des Unternehmens zurückgewiesen, damit sei das Urteil nun rechtskräftig. Kachelmann kommentiert das Urteil mit der von ihm gewohnten Deutlichkeit: “Der Schmuddelverlag zahlt das zwar alles aus der Portokasse, dennoch ist das Urteil wichtig, weil deutlich wird, dass sich Bild entgegen deren Eigenwahrnehmung nicht außerhalb der Zuständigkeit der deutschen Justiz befindet.”

3. “Korrekturbitten”: Verfassungsschutz-Chef Maaßen hat sich bei diesen sieben Redaktionen beschwert
(netzpolitik.org, Constanze Kurz)
Auch nach Hans-Georg Maaßens Versetzung auf den Posten eines Seehofer-Sonderberaters bleiben Fragen offen, zum Beispiel nach dem Umgang des Geheimdienstchefs mit der Presse. Maaßen hatte mehrere Redaktionen per Anwalt mit “Korrekturschreiben” überzogen. Der grüne Abgeordnete von Notz hat beim Innenministerium nach den Gründen gefragt.

4. Der BAMF-Skandal ist ein Presse-Skandal
(medium.com, Lorenz Matzat)
Lorenz Matzat beschäftigt sich mit dem sogenannten BAMF-Skandal, von dem nach genauerer Betrachtung wenig übrig blieb: “Heute wissen wir, dass es keinen BAMF-Skandal gab. Stattdessen haben wir es mit einem Presseskandal zu tun. Fahrlässig wurde Verdachtsberichterstattung betrieben. Der Skandal ist, dass es eine Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den begangenen Fehlern und seinen Folgen nicht gibt. Unserem Metier mangelt es an Orten dafür.”

5. “Sensationsgeilheit”, “Gefährdung der Demokratie”: Journalismus-Professor rechnet mit Döpfners BDZV-Rede ab
(meedia.de, Klaus Meier)
Springer-Chef Mathias Döpfner hat als Präsident des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger auf dem BDZV-Kongress eine, nun ja, bemerkenswerte Rede gehalten: Zeitungen würden zu wenig und zu wenig prominent über die Straftaten von Asylbewerbern, Flüchtlingen und anderen Ausländern berichten. Dem widerspricht nun Journalismus-Professor Klaus Meier in einem offenen Brief an Döpfner: “Noch größer zu berichten, wie Sie es fordern, wäre Sensationsgeilheit und würde unser vertrauensvolles Zusammenleben und damit die Demokratie im Kern gefährden.”

6. Medien als Spielzeuge von Milliardären
(medienwoche.ch, Adrian Lobe)
Es ist fast ein wenig lustig: Ausgerechnet die Milliardäre aus der Internet- und Technologie-Branche, die für die Print-Krise mitverantwortlich sind, betätigen sich als Mäzene und übernehmen traditionsreiche Zeitungen und Nachrichtenmagazine. Nach “Washington Post”, “Los Angeles Times” und “South China Morning Post” jüngst das renommierte “Time Magazine”. Adrian Lobe geht den Strategien und Interessen der neuen Verleger nach.

Bundesschweigedienst, Erfolgreiche Schnapsidee, Selle mit der Kelle

1. BND will der Presse nichts mehr sagen müssen
(tagesspiegel.de, Jost Müller-Neuhof)
Im Rechtsstreit mit dem “Tagesspiegel” fordert der Bundesnachrichtendienst (BND) eine Freistellung vom Presse-Auskunftsanspruch per “Bereichsausnahme”. Dies ist eine Wende gegenüber der Linie des früheren BND-Chefs Schindler und wird von Vertretern der SPD und Opposition abgelehnt. Auch der Deutsche Journalisten-Verband hat sich dahingehend geäußert: “Der Bundesnachrichtendienst steht nicht außerhalb des Gesetzes. Deshalb ist er auskunftspflichtig gegenüber Journalisten, wenn sie sich mit Recherchefragen an den BND wenden”, so der Vorsitzende Frank Überall.

2. Trash Talk bei Maischberger
(riffreporter.de, Anja Krieger)
Die Wissenschaftsjournalistin Anja Krieger hat sich über die vergangene Maischberger-Sendung zum “Plastikfluch” geärgert. Krieger ist selbst Expertin für Umweltthemen, ihr “Deutschlandfunk”-Feature Die Entmüllung der Meere wurde mit einem Wissenschaftspreis ausgezeichnet. Unter “Plastisphere” podcastet sie zum Thema. Entsprechend informiert, ist ihr Einiges aufgefallen.

3. Innenminister dreht am Windrad
(twitter.com/Westpol)
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) hat in der WDR-Sendung “Westpol” behauptet, dass für Windräder bei Aachen mehr Bäume gerodet würden als im gesamten Hambacher Forst. Die Redaktion hat diese Behauptung überprüft. Spoiler: Reul lag daneben.

4. Eine kriminell irreführende Abschiebestatistik in der “Krone”
(kobuk.at, Hans Kirchmeyr)
Die österreichische “Kronen Zeitung” führt ihre Leserinnen und Leser mit fast korrekten Fakten gezielt in die Irre, wie Hans Kirchmeyr bei “Kobuk” ausführt. In einem Artikel wurde der Eindruck erweckt, dass über 8.000 Asylbewerber abgeschoben worden seien. Laut Innenministerium habe es sich jedoch um 2.909 Personen gehandelt, zuzüglich 1.754 Dublin-Überstellungen in andere EU-Länder. Der Rest seien, anders als in der “Kronen”-Überschrift suggeriert, freiwillige Ausreisen gewesen.

5. Von der “Schnapsidee” zum internationalen Vorbild
(deutschlandfunk.de, Claudia van Laak, Audio, 6:13 Minuten)
“Zeit Online” hat zusammen mit Medienpartnern die Aktion “Deutschland spricht” ins Leben gerufen, bei der sich Tausende Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten für ein persönliches Gespräch getroffen haben. Eine Aktion, die von Medien aus anderen Ländern wegen des großen Erfolgs aufgegriffen wird.

6. Live aus dem Hambacher Forst: Anett Selle
(twitter.com/anettselle)
Zum Schluss noch eine Empfehlung für die Journalistin Anett Selle, die man dieser Tage bei ihren Live-Streams aus dem Hambacher Forst bei der Recherche begleiten kann (was gestern so aussah). Die unerschrockene Journalistin, die wegen ihrer unkonventionellen Handyhalterung kurze Zeit auch “Selle mit der Kelle” genannt wurde, belässt es nicht bei den live gestreamten Vor-Ort-Berichten, sondern schreibt ihre Eindrücke anschließend für die “taz” auf. Sehens- und lesenswert, auch weil deutlich wird, welche Potenziale zeitgemäßer Journalismus bietet.

“Bild” bringt Geflüchtete mit Clan-Kriminalität in Zusammenhang

Bei ihrem Versuch, Geflüchtete mit negativen Geschichten und Schlagzeilen in Verbindung zu bringen, entfaltet die “Bild”-Redaktion ihre ganze kreative Energie. Erst gestern wieder, in diesem Artikel:

Screenshot Bild.de - Bild fordert - Endlich null Toleranz gegenüber arabischer Clan-Kriminalität!

“BILD FORDERT” scheint die nächste Stufe zu sein nach “Das meint BILD”, dem Kommentar der gesamten Redaktion, den Julian Reichelt eingeführt und den Julian Reichelt für gut befunden hat. “BILD FORDERT” jedenfalls erstmal auf einer falschen faktischen Grundlage:

Die Clan-Kriminalität in der deutschen Hauptstadt und im ganzen Land ist außer Kontrolle.

Mehrere Hunderttausend (!) Menschen werden ihr zugerechnet. Sie hat sich zum Staat im Staat entwickelt.

Die Redaktion hat das ganz ähnlich schon mal behauptet:

Ausriss Bild-Zeitung - Ermittlungen des BKA - 200.000 kriminelle Clan-Mitglieder in Deutschland

Doch weder “mehrere Hunderttausend (!)” noch “200.000” stimmt. Stefan Niggemeier hat das bereits vor einem Monat drüben bei “Übermedien” ge- und erklärt. Und auch Martin Klingst erläuterte in der “Zeit” vom 9. August: Das Bundeskriminalamt schätzt nicht, dass 200.000 Clan-Mitglieder kriminell sind, sondern dass die Clans, die in Deutschland immer wieder kriminell auffällig sind, insgesamt etwa 200.000 Familienmitglieder haben. Ein Teil davon ist kriminell, ein anderer Teil nicht. “FORDERT” “Bild” etwa auch die Rückkehr zur Sippenhaft?

Apropos “Kennste einen, kennste alle” — “Bild” und Bild.de schrieben gestern weiter:

Die Entstehung der arabischen, organisierten Kriminalität in Deutschland war das Ergebnis von Flucht und Zuwanderung aufgrund eines Krieges in einem arabischen Land (Libanon).

Viele Politiker sehen solche Szenen [von Clan-Mitgliedern, die die Gesetze nicht achten,] einige wenige Male im Jahr, wenn sie — wie jetzt — in der Zeitung gedruckt sind.

Aber für viele Menschen in deutschen Großstädten gehören sie zum Stadtbild. Natürlich macht das Angst.

Natürlich schmälert das den Glauben an den Rechtsstaat und daran, dass wir weitere Hunderttausende Menschen, die bei uns Zuflucht gefunden haben, erfolgreich integrieren werden.

Krieg in einem arabisches Land, Flucht, Kriminelle in Deutschland. Das ist die dünne wie toxische Logik, die die “Bild”-Medien verbreiten: Wenn die Personen der Gruppe A als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen und hier kriminell geworden sind — wieso sollen dann die Personen der Gruppe B nicht auch kriminell werden? Die sind doch schließlich auch als Flüchtlinge gekommen.

Dazu passt dann auch die bemerkenswerte Verkürzung bei der Entstehungsgeschichte der Clan-Kriminalität: Als wäre zwischen der Flucht vor dem libanesischen Bürgerkrieg, der von 1975 bis 1990 dauerte, und dem Schutzgeldeintreiben, dem Drogengeschäft, dem Menschenhandel einiger Großfamilien Jahre und Jahrzehnte später nichts weiter passiert; als wäre das eine (Clan-Kriminalität) die unausweichliche Folge des anderen (Flucht).

Um die “Bild”-Redaktion zu zitieren: “Natürlich macht das Angst.”

Gefährliche Zeiten, Hambacher Vietnamkrieg, Kulturimperialismus

1. Was bleibt, wenn der Medientross weiterzieht
(deutschlandfunkkultur.de, Vera Linß & Marcus Richter, Audio, 7:56 Minuten)
Der Journalist Bastian Wierzioch lebt in Leipzig und berichtet seit den 90er-Jahren für Medien wie den MDR über Rechtsextremismus in Sachsen. Im Gespräch mit dem “Deutschlandfunk” blickt er zurück auf die vergangenen Jahre und sieht eine be­sorg­nis­er­re­gende Entwicklung: Die Arbeit sei zunehmend gefährlicher geworden.
Weitere Tipps: “taz”-Reporter Martin Kaul hat gestern eine Stunde live aus Köthen von einer “Trauerveranstaltung” gestreamt, die sich als volksverhetzende Neonazi-Kundgebung entpuppte. Zum Ende seiner Aufnahme erlebt man, wie er ins Visier einiger aufgeheizter “Lügenpresse”-Rufer gerät und körperlich angegangen wird. Im Tumult bricht der Stream ab. Wie Kaul auf Twitter berichtet, konnte er von der Polizei gerade noch reitzeitig rausgeholt werden. Am späteren Abend meldete er sich noch einmal auf Twitter mit einem Video. So traurig das Geschehen — dieser besonnene und mutige Journalismus ist ein Lichtblick.
Wie Martin Kaul war auch “BuzzFeedNews”-Redakteur Marcus Engert in Köthen. Dort wurde er von Teilnehmern der Kundgebung erkannt und körperlich angegangen, bis er sich mit zerrissenem T-Shirt in Sicherheit bringen konnte. Zusammen mit Pascale Mueller hat er die Vorgänge und die Rede des rechtsradikalen Thügida-Chefs David Köckert (“Menschen wie Wölfe zerfetzen”) bei “BuzzFeedNews” dokumentiert.

2. Die “Bild” gibt Tipps, um Alltagsrassismus zu bekämpfen
(vice.com, Rebecca Baden)
Wenn ausgerechnet in der “Bild”-Zeitung eine Redakteurin den Lesern und Leserinnen Tipps gibt, wie man Alltagsrassismus bekämpfen kann, ist das einerseits löblich, aber andererseits auch fast ein wenig lustig: Wie kaum eine andere Zeitung macht “Bild” Stimmung gegen Asylpolitik und Asylsuchende. Rebecca Baden kommentiert diesen interessanten Ethik-Spagat.

3. Vielleicht doch kein Vietnamkrieg im Hambacher Forst
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Wie die “Rheinische Post” berichtet, wurden im Hambacher Forst “Tunnelsysteme” entdeckt, die an die Anlagen im Vietnamkrieg erinnern sollen. Eine neue Eskalationsstufe in der Konfrontation zwischen Umweltschützern und dem Energiekonzern RWE, der den Wald dem Kohleabbau opfern will? Nein, denn die Tunnel existieren anscheinend nur in der Vorstellungswelt der “Rheinischen Post”.

4. Von Spaß und Schande
(fr.de, Claus-Jürgen Göpfert)
Nach 48 Jahren als Verleger musste Karl Dietrich “KD” Wolff Insolvenz-Antrag stellen. Claus-Jürgen Göpfert hat ihn besucht und einen Bericht von dort mitgebracht, der einen dicht ans Geschehen holt: “Der Träger des Kurt-Wolff-Preises blickt ins Leere. Dann sagt er einen Satz: “Es ist bitter.” Pause. Dann wieder einen Satz: “Und es erschöpft auch.” Und dann erzählt er doch. Wie die Hoffnung auf einen stillen Teilhaber für den Verlag sich zerschlug. Wie er “von einer Stiftung zur anderen gelaufen” ist in der Hoffnung, unterstützt zu werden. Die Kafka-Ausgabe ist bis Band 16 gekommen — 25 sollten es sein. Und dann bricht es aus dem Verleger heraus: “Es ist eine Schande, dass die Kafka-Ausgabe nicht öffentlich gefördert wurde — eigentlich müsste sich der Bundespräsident da engagieren.”
Weiterer Lesetipp zum aktuellen Verlagsgeschehen: In Ein rätselhafter Vorgang (faz.net) schreibt Julia Encke über den Rauswurf der verlegerischen Geschäftsführerin des Rowohlt-Verlags, Barbara Laugwitz, durch den Holtzbrinck-Konzern.

5. “Das ist kultureller Imperialismus”
(zeit.de, Carolin Ströbele)
Streamingdienste wie Netflix und Amazon Prime sind für den Fernsehmarkt Bereicherung und Bedrohung zugleich. Großbritannien hat bereits längere Erfahrungen mit den beiden weltweit agierenden Medienkonzernen, dort kam es zu gravierenden Auswirkungen auf die heimische Branche. “Zeit Online” hat mit dem britischen Regisseur Peter Kosminsky gesprochen. Es geht um das Abwerben von Talenten durch Netflix, die rasant steigenden Kosten für TV-Serien und die Zukunft der BBC.

6. Immer in Bewegung: Das Fernsehen kann nicht stillstehen
(dwdl.de, Hans Hoff)
Fernsehmoderatoren müssen sich heutzutage in Bewegung befinden. Selbst wenn im ZDF der Wetterbericht beginnt, müssen die Moderatorinnen und Moderatoren zunächst ein paar Schritte gehen, bevor sie vor der Wettertafel stehen. Hans Hoff beschäftigt sich in seiner Kolumne mit diesen zwanghaften telemedialen Wanderbewegungen. Eine Kolumne, die er im Gehen geschrieben habe: “Leider spiegelt sich dieser dynamische Schaffensprozess in keiner Weise im fertigen Produkt, weshalb wieder nur der Inhalt als Maßstab jeglicher Bewertung in Frage kommt. Da haben es die beim Fernsehen doch besser. Neid.”

Rechte-Verlagerung, Verwischte Grenzen, Hashtag-Debatten

1. Rechte Propaganda-Plattform sucht Asyl in Sachsen
(tagesspiegel.de, Matthias Meisner)
Das rechte Internetportal “JouWatch” hat seinen Sitz von Thüringen nach Sachsen verlegt. Einer der Gründe: Das Finanzamt Jena wollte anscheinend die Gemeinnützigkeit prüfen, eine Aberkennung hätte sich negativ auf den Betrieb der Plattform auswirken können. In Sachsen erhofft man sich wohl ein angenehmeres Klima.

2. Verwischte Grenzen
(deutschlandfunk.de, Stefan Fries, Audio, 8:21 Minuten)
Der ehemalige Mitherausgeber und Chefredakteur des “Focus” ist auch mit 81 Jahren noch recht fleißig: In seinem alten Blatt schreibt Helmut Markwort jede Woche das “Tagebuch”. Gleichzeitig kandidiert er bei den bayerischen Landtagswahlen für die FDP. Das Verlagshaus Burda sieht darin keinen Interessenkonflikt. Der Erlanger Medienethiker Prof. Schicha empfiehlt Markwort zumindest eine Schreibpause.

3. BGH – ZDF muss formulierte Erklärung eines polnischen Gerichts nicht veröffentlichen
(wbs-law.de)
In einer ZDF-Doku aus dem Jahr 2013 über die Befreiung verschiedener Konzentrationslager wurden die Lager Majdanek und Auschwitz als “polnische Vernichtungslager” bezeichnet. Nachdem die Formulierung von der polnischen Botschaft beanstandet wurde, änderte das ZDF den Text seinerzeit in “deutsche Vernichtungslager auf polnischem Gebiet”, veröffentlichte eine Korrekturnachricht und bat bei einem ehemaligen Häftling um Entschuldigung, der sich deswegen beschwert hatte. Dies ging dem ehemaligen KZ-Häftling jedoch nicht weit genug. Er wollte mit Hilfe eines polnischen Gerichts das ZDF dazu zwingen, eine vorformulierte Erklärung zu veröffentlichen. Wozu das ZDF jedoch nicht verpflichtet ist, wie jetzt der Bundesgerichtshof entschied. Dies würde gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie gegen die Medienfreiheit verstoßen.

4. Im Zeichen des Hashtags
(sueddeutsche.de, Carolin Werthmann)
Eine im Auftrag des Hamburger Hans-Bredow-Instituts durchgeführte Studie hat untersucht, inwieweit das Stimmungsbild auf Twitter dem der Bevölkerung ohne Twitter-Account entspricht. Das Ergebnis ist relativ ernüchternd: Twitterdiskurse würden nicht repräsentieren, was die Allgemeinheit im Netz bewegt, und schon gar nicht, was Menschen ohne Internetzugang beschäftige. “SZ”-Autorin Carolin Werthmann: “Dennoch können die Hashtag-Debatten eine andere Funktion erfüllen: Indem sie extreme Standpunkte aufzeigen, sind sie ein Seismograf für radikale Trends und Positionen.”

5. Journalist erhält Strafbefehl wegen Veröffentlichung von Zyto-Akte
(deutsche-apotheker-zeitung.de, Hinnerk Feldwisch-Drentrup)
Im Prozess um den Bottroper Zyto-Apotheker soll ein Journalist Teile einer Strafakte ins Internet gestellt haben. Dies könnte für ihn unangenehme Folgen haben: Die Staatsanwaltschaft hat Strafbefehl gegen ihn beantragt, den das Amtsgericht Essen nun erlassen hat. Wissenschaftsjournalist Hinnerk Feldwisch-Drentrup erklärt den Fall, bei dem es auch um Prozesstaktik geht. Heikel sei zudem, dass der Journalist mehrfach kritisch über die Staatsanwaltschaft berichtet hatte, die gegen ihn ermittelte.

6. Her mit meinen Daten!
(spiegel.de, Markus Böhm & Angela Gruber & Judith Horchert)
Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) räumt Nutzern umfassende Auskunftsrechte gegenüber Websitebetreibern ein. Beim “Spiegel” haben zwei Redakteurinnen und ein Redakteur die Probe aufs Exempel gemacht und Facebook, Netflix sowie Onlinehändler angeschrieben. Man ahnt, dass es sich um viele Daten handeln wird, aber ist dennoch überrascht: Allein die Antwort von Netflix auf die Datenabfrage umfasste 450 PDF-Seiten.
 Überrascht ist man jedoch auch von des “Spiegels” eigenem Umgang mit Daten.
(Und ja, auch hier im BILDblog gibt es noch Werbetracker, aber damit ist dank Euch bald Schluss.)

Von “Bild” vermittelter Eindruck vom “Bamf-Skandal” “täuscht offenbar”

Der Bamf-Skandal hat Deutschland wochenlang in Atem gehalten: Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird gepfuscht, vielen Flüchtlingen wird der Schutzstatus in Deutschland gewährt, obwohl er ihnen nicht zusteht? So lauteten die Schlagzeilen.

Jetzt stellt sich heraus: Dieser Eindruck täuscht offenbar

Das schreibt Bild.de heute:

Screenshot Bild.de - Nur wenige Flüchtlinge haben Bleiberecht erschlichen - Wende im Bamf-Skandal

Die Redaktion bezieht sich dabei auf einen Artikel der “Süddeutschen Zeitung”, die berichtet, dass von den etwa 43.000 abgeschlossenen Prüfverfahren im ersten Halbjahr 2018 lediglich 307 dazu führten, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) “den Geflüchteten den bereits gewährten Schutzstatus wieder entzog.” Also: Nur in 0,7 Prozent der untersuchten Fälle musste das Bamf eine positive Entscheidung revidieren. Bei den anderen 99,3 Prozent war der positive Bescheid korrekt.

Dass der “Bamf-Skandal” Deutschland “wochenlang in Atem gehalten” habe, wie Bild.de es heute schreibt, ist eine interessante Zusammenfassung. Eigentlich müsste es heißen: Die Angelegenheit hat Teile Deutschlands wochenlang wutschnaubend von Behördenversagen, unfassbarem Betrug und mafiösen Strukturen beim Bamf schreien lassen — alles, ohne Prüfungen wie die nun abgeschlossene abzuwarten. Ganz vorn dabei bei dieser Empörung: die “Bild”-Medien.

Heinz Buschkowsky, der frühere Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, durfte in “Bild” und bei Bild.de beispielsweise davon schwadronieren, dass es sich bei den Bamf-Missständen um “organisierte Kriminalität” handele. Die “Bild”-Chefreporter Peter Tiede und Hans-Jörg Vehlewald fragten in “Bild”: “Leben wir eigentlich in einer BAMFNANEN-Republik?” Und dann gab es noch, neben vielen weiteren Artikeln, diese “Bild”-Titelgeschichte:

Ausriss Bild-Zeitung -Seit 2000 - Asyl-Behörde ließ 46 Islamisten ins Land!

Im Blatt klang das alles ähnlich beunruhigend:

Ausriss Bild-Zeitung -Asylbehörde Bamf ließ 46 Islamisten ins Land! Ein Ermittler zu Bild: Die Liste wird noch länger werden

Oben bedrohliche ISIS-Kämpfer, unten die düstere Prophezeiung, dazu die Schlagzeile auf Seite 1 mit Ausrufezeichen. Und im Text:

Im dramatischen Asyl-Chaos in der Bremer BAMF-Außenstelle kommt nun auch noch heraus: Seit dem Jahr 2000 haben in der Skandal-Behörde mindestens 115 “nachrichtendienstlich relevante Personen” einen Schutzstatus in Deutschland erhalten!

Darunter sollen auch 46 Islamisten sein, bei denen nicht ausgeschlossen werden könne, dass es sich um “terroristische Gefährder” handele.

Jaja, das kann “nicht ausgeschlossen werden” — wenn man im Sinne einer knalligen und verkaufsträchtigen Titelgeschichte die Prüfung des Verfassungsschutzes nicht abwarten möchte. Dort hat man nämlich 18.000 Personen, die von der Bremer Bamf-Außenstelle seit dem Jahr 2000 Asyl erteilt bekommen haben, überprüft. Ergebnis: ein Gefährder, wie das WDR-Magazin “Monitor” berichtet.

Tatsächlich tauche in einer Antwort des Bundesinnenministeriums auch die Zahl 46 auf. Allerdings handele es sich dabei um sogenannte “Kontakt- und Umfeldpersonen”, die bei der Prüfung aufgefallen seien. Das können auch völlig unbescholtene Geschwister, Eltern, Geschäftspartner, sogar Nachbarn sein.

“Bild” zum Fall Sami A.: Populismus statt Aufklärung

Das Oberverwaltungsgericht Münster hat gestern entschieden: Sami A., vor gut einem Monat nach Tunesien abgeschoben, muss zurück nach Deutschland geholt werden.

In der “Bild”-Ausgabe von heute und bei Bild.de ist dazu ein Kommentar der gesamten Redaktion erschienen:

Ausriss Bild-Zeitung - Das meint Bild - Propaganda-Fest für Radikale

Darin heißt es unter anderem:

In über einem Jahr hat die Bundesregierung es nicht geschafft, einen Mechanismus zu schaffen, um Terroristen wie Sami A. rechtssicher in ihre Heimat zurückzuschicken.

Ein Land, das diejenigen, die es auslöschen und mit Terror überziehen wollen, jahrelang auf Kosten der Steuerzahler aushält, dann auf Kosten der Steuerzahler im Privatjet ausfliegt und dann auf Kosten der Steuerzahler im Privatjet wieder zurückholt, damit sie hier wieder — vom Steuerzahler bezahlt — ihr Unwesen treiben können, das gibt es nur ein einziges Mal auf der Welt. Und dieses Land heißt Deutschland.

Natürlich gelte im Rechtsstaat Deutschland das letzte Wort der Gerichte, natürlich müsse dieser Staat dem Urteil im Fall Sami A. folgen. Doch:

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Osama bin Ladens Leibwächter bald wieder deutschen Boden betreten und umgehend seinen Antrag auf Hartz IV stellen wird. Ein Propaganda-Fest für alle Radikalen im Land, das Merkel, ihr Innenminister Horst Seehofer und der zuständige Minister in NRW zu verantworten haben.

“Das Land, das Terroristen zurückholt” — diesen Wahlkampfslogan bekommt die AfD in Bayern von der Bundesregierung geschenkt. (…)

Wenn Sami A. zurückkehrt, kann man das durchaus als Sieg des Rechtsstaats bezeichnen. Aber auch als schreckliche Niederlage für die Handlungsfähigkeit unseres Staates. All die Versprechen, dass Deutschland Gefährder, Kriminelle, Vorbestrafte bald konsequent abschieben wird, kann kein Mensch mehr ernsthaft glauben.

Es gehört schon ein bisschen Aufwand und Wille dazu, den eigenen Leserinnen und Lesern Urteile von Gerichten, die viele Leute vielleicht nicht verstehen können oder wollen, zu erklären. Bei den “Bild”-Medien gibt es diesen Willen offenbar nicht. Stattdessen hohlen Populismus und falsche Fakten.

Die Redaktion erklärt den Vorgang zu einer “schrecklichen Niederlage für die Handlungsfähigkeit unseres Staates”. Dabei ist die Rückholung — ob sie nun wirklich stattfinden oder an der tunesischen Staatsanwaltschaft scheitern wird, die noch gegen Sami A. ermittelt — das genaue Gegenteil davon. Der Vorgang zeigt, dass der Rechtsstaat funktioniert, auch wenn ihn manch einer auszutricksen versucht. Er zeigt, dass Gerichte unabhängig entscheiden, auch wenn Politiker öffentlich Druck ausüben. Und er zeigt, dass der Rechtsstaat für alle gilt, auch für jene, die als Gefährder geführt werden, auch für jene, die die “Bild”-Redaktion als “Terroristen” bezeichnet, obwohl sie mindestens rechtlich gesehen keine sind.

Genau das müsste man den Leserinnen und Lesern erklären: Dass der Rechtsstaat für jeden gilt; dass jeder das gleiche Recht auf einen fairen Prozess hat, unabhängig von politischer Einstellung und Ideologie, und egal wie unliebsam die jeweilige Person sein mag.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass sich die Stärke eines Staates auch darin zeigt, wie er mit seinen Feinden umgeht: Ob er ihnen dieselben Rechte und Verfahren zugesteht wie allen anderen; dass es dabei unerheblich sein muss, wer die politische Macht gerade innehat.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass es im Interesse jeder Bürgerin und jedes Bürgers ist, dass das genau so bleibt; dass es für jeden nur Vorteile hat, wenn Gerichte unabhängig und nur auf Grundlage des Gesetzes entscheiden; dass Behörden und Ministerien sich nicht einfach über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzen können; und dass es zu solchen Entscheidungen wie der des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster kommt, wenn sie es doch tun.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass die Entscheidung des OVG nicht bedeutet, dass Sami A. in Zukunft nicht abgeschoben werden kann; dass es darum auch gar nicht ging; dass sein Asylantrag weiter als abgelehnt gilt, dass aber auch weiterhin ein Abschiebeverbot besteht; dass es in der Entscheidung des OVG auch nicht darum ging, ob Sami A. gefährlich ist oder nicht, ob er Leibwächter Osama bin Ladens war oder nicht, ob er Terrorist ist oder nicht oder ob ihm im Falle einer Abschiebung Folter droht; dass es um die Fragen ging, ob die Abschiebung rechtswidrig war, ob Behörden einem Gericht Informationen vorenthalten und ob sie sich über eine Gerichtsentscheidung hinweggesetzt haben.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass bisher eine Abschiebung unter anderem auch daran gescheitert ist, dass es noch immer keine offizielle Zusicherung aus Tunesien gibt, dass Sami A. dort nicht gefoltert wird; dass die einzige Aussage in diese Richtung vom tunesischen Minister für Menschenrechte stammt, erschienen in “Bild”; dass das dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen verständlicherweise nicht als Zusicherung reichte.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass Sami A. kein verurteilter Terrorist ist; dass Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen ihn wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung eingestellt wurden, weil die Ergebnisse dieser Ermittlungen nicht für eine Anklageerhebung reichten.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass nicht endgültig bewiesen ist, dass Sami A. Leibwächter Osama bin Ladens war; dass dieser Vorwurf vor allem auf der Aussage eines anderen Mannes beruht, bei dem Ermittler schon früh Zweifel hatten, ob seine Geschichte in allen Punkten stimmt.

Vielleicht interessieren sich die “Bild”-Leute auch deswegen nicht für eine solche Aufklärung der eigenen Leserschaft, weil sie mit ihrer Berichterstattung der vergangenen Monate Beteiligte sind. Mit dem Druck, den ihre Schlagzeilen auf Politiker und Behörden ausübten, sorgten auch sie dafür, dass der Fall Sami A. für alle so groß wurde, dass derart überstürzt gehandelt wurde.

Statt aufzuklären, schreiben die “Bild”-Medien dann Sätze wie diesen:

“Das Land, das Terroristen zurückholt” — diesen Wahlkampfslogan bekommt die AfD in Bayern von der Bundesregierung geschenkt.

Genau genommen ist es natürlich nicht die Bundesregierung, die der AfD den Wahlkampfslogan mit dem falschen “Terroristen” schenkt, sondern “Bild”. Und es sind die “Bild”-Mitarbeiter, die das alles als “Propaganda-Fest für Radikale” bezeichnen.

Welche “Radikalen” meinen sie damit? Jene, die die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster für ihre Stimmungsmache als “schreckliche Niederlage für die Handlungsfähigkeit unseres Staates” auslegen? Das macht die Redaktion ja schon selbst.

Mit Dank an Johannes K. und Thomas für die Hinweise!

Wie “Bild” mit einer Vorverurteilung den Rechtsstaat in Verruf bringt

Es gibt ihn noch. Ernst Elitz, vor eineinhalb Jahren von “Bild”-Chef Julian Reichelt als Ombudsmann eingesetzt, als Anwalt für die Leserinnen und Leser, ist noch immer im Amt. Nach wie vor scheint er sich eher als Anwalt der Redaktion zu sehen und verteidigt die “Bild”-Medien gegen kritische Zuschriften aus der Leserschaft, aber manchmal findet selbst Elitz, dass “Bild” und/oder Bild.de was falsch gemacht haben. Vor gut zwei Wochen schrieb er:

Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch der Hinweis des Lesers Alexander Neu.

Die Sendung “Hart aber fair” hatte eine offizielle Kriminalstatistik über “tatverdächtige” Ausländer präsentiert. Der Leser kritisiert zu Recht, dass im BILD-Bericht über die Sendung der Eindruck erweckt wurde, es handle sich um eine Statistik bereits verurteilter Täter. Das war sie nicht!

Nicht jeder, der unter Verdacht steht, ist schon ein überführter Krimineller. Gerade bei einem politisch so brisanten Thema muss korrektes Zitieren erstes Gebot sein.

Hört, hört!

Es ist aber schon etwas niedlich, dass jemand in “Bild” und bei Bild.de ernsthaft mahnt, man solle Tatverdächtige nicht als überführte Kriminelle darstellen; in den zwei Medien, die seit jeher wie keine anderen Tatverdächtige als überführte Kriminelle darstellen.

Das aktuellste Beispiel dieser redaktionellen Leidenschaft: Sami A.

Über den Tunesier wurde in den vergangenen Wochen viel geschrieben und diskutiert. Bei Bild.de unter anderem mit dieser Schlagzeile aus dem Juli:

Screenshot Bild.de - Abschiebe-Skandal! Juristisches Tauziehen um Ex-Leibwächter von Osama bin Laden - Kommt Terrorist Sami A. jetzt zurück nach Deutschland?
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Das Problem dabei: Sami A. ist kein Terrorist. Jedenfalls wurde er nie als Mitglied einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Oder wie Ombudsmann Elitz sagen würde:

Nicht jeder, der unter Verdacht steht, ist schon ein überführter Krimineller. Gerade bei einem politisch so brisanten Thema muss korrektes Zitieren erstes Gebot sein.

Die Berichterstattung der “Bild”-Redaktion zum Fall von Sami A., die man wohlwollend als schlampig und ungenau bezeichnen kann und weniger wohlwollend als böswillig falsch, ist gleich doppelt problematisch: Sie erklärt einen Mann zum Terroristen, der rechtlich gesehen keiner ist. Und vielleicht noch schlimmer: Sie hinterlässt bei der Leserschaft den falschen Eindruck, dass der Staat überlegt, einen verurteilten Terroristen nach Deutschland zurückzuholen. Die daraus resultierende (unberechtigte) Verachtung für Behörden und Gerichte kann man in den Facebook-Kommentaren zum “Terrorist”-Artikel bestens beobachten:

Bitte bitte nicht! Ein Terrorisrt und Mörder oll zurückgeholt werden! Seit ihr jetzt alle komplett durchgeknallt oder habt ihr schlechte Drogen erwischt!

Je mehr Verbrechen du als Migrant begehst und je mehr einer weltweit gejagt wird, desto mehr klammert sich dieser Staat an seine Terroristen.

Jeden Tag kann man sehen warum man Heute die AFD eigentlich schon wählen muss: Alle anderen Parteien hofieren Verbrecher und Terroristen.

Wie kommen andere Länder nur auf die Idee, Deutschland würde Terroristen willkommen heißen. Kann ich ja so gaaaar nicht nachvollziehen.

Das Theater signalisiert allen Terroristen auf der Welt — in D kannst du sicher und vollversorgt auf Kosten Anderer, deinen wohl verdienten Terror Lebensabend geniessen….

Überall wird Terrorismus bekämpft und in Deutschland holt man ihn sich rein….Ganz sauber im Oberstübchen sind wohl hier viele Amtsinhaber nicht mehr.

Jetzt kämpft das Gericht in Gelsenkirchen darum, das der arme Traumatisierte Terrorist sofort wieder an die Sozialtöpfe nach Deutschland zurückkehren kann. Dieser Irrsinn ist nicht mehr zu verstehen.

Natürlich versteht man als nur halbinformierter “Bild”-Leser die Welt und vor allem deutsche Behörden und Gerichte und die Regierung nicht mehr, wenn scheinbar ein Terrorist “jetzt zurück nach Deutschland” kommen soll, und kommentiert bei Facebook wütend drauf los. Dass diese Empörung auf falschen Tatsachen beruht, ist auch “Bild” zu verdanken.

Sami A. kommt 1997 als Student nach Deutschland. 2006 stellt er einen Asylantrag, der 2007 abgelehnt wird. 2010 entscheidet ein Verwaltungsgericht, dass Sami A. nicht abgeschoben werden darf, weil ihm in Tunesien unter anderem Folter drohe. 2014 widerruft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dieses Abschiebungsverbot, weil in Tunesien ein Regimewechsel stattgefunden hat. 2016 entscheidet ein Verwaltungsgericht erneut, dass Sami A. nicht abgeschoben werden darf, da ihm in Tunesien noch immer “mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung” drohe. Ein Oberverwaltungsgericht bestätigt diese Entscheidung 2017. Am 13. Juli dieses Jahres wird Sami A. doch nach Tunesien abgeschoben, obwohl einen Tag zuvor ein Verwaltungsgericht erneut entschied, dass er dorthin nicht abgeschoben werden darf. Der Mann kam in Tunesien direkt ins Gefängnis. Nun wird diskutiert, ob Sami A. nach Deutschland zurückgeholt werden muss. Bei “Spiegel Online” gibt es eine detaillierte Chronologie.

Mittendrin in diesem Hin und Her, ab März 2006, gibt es Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Sami A. wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Er soll um die Jahrtausendwende mehrere Monate im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan gewesen sein und dort eine militärische Ausbildung der Terrororganisation al-Qaida durchlaufen haben. Anschließend soll er zum Mitglied der Leibgarde Osama bin Ladens aufgestiegen sein. Sami A. bestreitet all das. Das Verfahren gegen ihn wird im Jahr 2007 eingestellt, da die Ermittlungsergebnisse nicht für eine Anklageerhebung reichen.

Sami A. ist also kein verurteilter Terrorist. Ihm wurde auch nie von einer Staatsanwaltschaft oder einem Gericht nachgewiesen, Leibwächter Osama bin Ladens gewesen zu sein. Er ist laut Behörden ein islamistischer Gefährder.

Einen Mann, gegen den wegen Mordes ermittelt wird, kann man auch nicht einfach Mörder nennen, wenn die Ermittlungen mangels Beweisen eingestellt werden. Wer es trotzdem macht, hat nichts übrig für den Rechtsstaat und das Prinzip der Unschuldsvermutung. Und wer es so penetrant macht wie die “Bild”-Redaktion, gibt diese Justizverachtung an die eigene Leserschaft weiter.

Nur ein paar Beispiele:

Screenshot Bild.de - Ex-Leibwächter von Osama bin Laden abgeschoben!
Ausriss Bild-Zeitung - Gericht entscheidet zwölf Stunden nach Abschiebung - Bin Ladens Leibwächter muss zurück nach Deutschland!
Ausriss Bild-Zeitung - Schon wieder grobe Fehler beim Abschieben - Nach Bin Ladens Leibwächter soll erneut ein Asylbewerber nach Deutschland zurückgeholt werden
Screenshot Bild.de - Bin-Laden-Leibwächter Sami A. nach Tunesien gebracht. Jetzt soll er zurück
Ausriss Bild-Zeitung - Abschiebung von Bin Ladens Leibwächter - Wer hat Schuld am Chaos?
Screenshot Bild.de - Abschiebung des Bin-Laden-Leibwächters - Dieser Anwalt will Sami A. nach Deutschland zurückbringen
Screenshot Bild.de - Sami A. ist das Sinnbild für den Abschiebe-Irrsinn - Kein Fall mehr für deutsche Gerichte - Bin Ladens Ex-Leibwächter wurde endlich abgeschoben - Anwältin des Terror-Gefährders: Er muss mit Visum zurück

“Bild” veröffentlichte auch eine Art Interview mit Sami A. “Bild”-Reporter Paul Ronzheimer hatte dem Anwalt des Tunesiers Fragen mitgegeben. Sami A. antwortete unter anderen:

“Ich war nie Leibwächter von Osama bin Laden, das ist völlig frei erfunden. Ich war in Saudi-Arabien, Pakistan und Iran in meinem Leben, aber nie in Afghanistan. Auch hier in Tunesien wissen alle, dass diese Vorwürfe einfach nicht stimmen.”

Dass es doch so war, dass die “Bild”-Berichterstattung der vergangenen Wochen und Monate also nicht in einem wichtigen Punkt falsch war — dazu liefern “Bild” und Ronzheimer nicht einen Beweis.

Ende Juli gab es dann gleich zwei größere Überraschungen: Sami A. wurde in Tunesien aus der Haft entlassen, und Bild.de schrieb auf einmal:

Screenshot Bild.de - Breaking News - Mutmaßlicher von Osama bin Laden: Sami A. in Tunesien vorläufig wieder frei

Das Wort “mutmaßlicher” war aber wohl doch nur ein Ausrutscher. Kurz darauf ging es bei “Bild” und Bild.de mit der gewohnten Missachtung der Unschuldsvermutung weiter.

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