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Meute- und Jagd-Reflexe – und wie man sich davor schützt

Ein Gastbeitrag von Ulli Tückmantel, 48, seit Mai 2014 Chefredakteur der “Westdeutschen Zeitung” in Düsseldorf.

Soll ich mal sagen, wie es sich anfühlt, wenn man die eigene Zeitung als Deppen-Medium im BILDblog zitiert findet? Es ist Mist. Die Westdeutsche Zeitung gehörte zu den Blättern und Online-Auftritten, die Mats Schönauer am 31. März im Beitrag „Quelle: Pizzabäcker“ als eine der Zeitungen aufführte, die die Erkenntnisse des Düsseldorfer Pizzabäckers Habib Hassani über die Essgewohnheiten des Germanwings-Co-Piloten (Pizza und Tiramisu) in den Rang einer Nachricht erhob.

Mich hat nicht geärgert damit im BILDblog zu landen, weil Reporter im Wohnumfeld des Co-Piloten Menschen befragt haben, die etwas über ihn sagen können (oder auch nicht). Das muss dem BILDblog nicht gefallen, gehört aber zum Geschäft, und ich erwarte von unseren Reportern, dass sie diese Informationen beschaffen. Dass ich zunächst nicht glauben wollte, dass die Pizzabäcker-Quelle tatsächlich ins Blatt gerutscht war (auf einer hinteren Seite unserer Düsseldorfer Lokalausgabe), hatte andere Gründe: Wir hatten am Mittag des Vortags entschieden, genau das nicht zu tun, weder im Mantel noch im Lokalen.

Zur Erinnerung: In den ersten Tagen nach dem Absturz war keineswegs alles über die beiden Piloten, die Crewmitglieder und die Passagiere von Flug 4U9525 öffentlich bekannt. Unsere Redaktion wusste sehr früh sehr viel — und damit auch, dass eine detailliertere Veröffentlichung als zum Verständnis des Ereignisses notwendig war, die Gefahr barg, unbeteiligte Angehörige, Freunde und Verwandte der Toten im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung zu weiteren Opfern zu machen.

Für uns war damit klar, wo wir die Grenze unserer Berichterstattung zu ziehen haben: Keine Nahaufnahmen, auch keine gepixelten, von trauernden Angehörigen am Düsseldorfer Flughafen, keine Namensnennung, auch nicht abgekürzt, von Co-Pilot und Pilot, keine Details im Text (Ortsteil, Straßennamen, Anwohner etc.), die unbeabsichtigt zur Identifizierung unbeteiligter Dritter führen können.

Der Pizzabäcker-Text, auch wenn es nur ein Einspalter in nur einer Lokalausgabe war, verstieß gegen unsere eigenen Maßgaben und eine wichtige Erkenntnis, die wir zu diesem Zeitpunkt bereits als Regel für die weitere Berichterstattung und künftige Großschadensereignisse dieser Art eingeführt hatten: Reporter sammeln die Informationen — aber sie entscheiden nicht, was davon auf welchem Kanal und wie publiziert wird. Das entscheiden die Redakteure am Desk.

Denn das eine ist das Recherchieren von Informationen. Das andere aber ihre redaktionelle Bewertung, Bearbeitung und Verbreitung. Wir sind überzeugt, dass die klare Trennung zwischen Autoren und Editoren der beste Schutz davor ist, Meute- und Jagd-Reflexen zu erliegen und Grenzen zu überschreiten, die für genau solche Nachrichtenlagen gesetzt sind. Bei der Gelegenheit ist uns aufgefallen, dass wir in Wahrheit kein einfach zu handhabendes Regelwerk für solche sich schnell entwickelnden Lagen haben. Wenn die Lage da ist, hat in keinem Newsroom irgendjemand Zeit, in aller Ruhe noch einmal den Pressekodex zu studieren oder die 50-seitige Empfehlung des Presserats für Amok-Berichterstattungen (PDF) nachzulesen. Wir brauchen ein DIN-A4-Blatt, fünf oder sechs klare Ansagen, die jeder am Desk und in den lokalen Teams versteht; wir arbeiten daran.

Das wird uns im Zweifelsfall auch künftig nicht vor Fehlern wie dem Pizzabäcker-Blödsinn schützen. Aber es schützt uns davor, besinnungslos und aus falschem Selbstverständnis die falsche Zeitung zu machen.

Vielen 4U9525-Seiten etlicher Regionalzeitungen, die von eigentlich sehr vernünftigen Leuten gemacht werden, sieht man in der Nachschau an, dass bei ihnen im Eifer des (vermeintlichen) nachrichtlichen Wettbewerbs die inneren Kompassnadeln komplett rotiert haben müssen. Wenn es um die Nennung von Namen und die Präsentation von Bildern von Tatverdächtigen und Opfern geht, werden deutsche Medien — vorausgesetzt, sie halten sich an deutsches Recht und deutsche Regeln — im Wettbewerb mit britischen und amerikanischen Medien immer verlieren, denn dort gelten andere Regeln.

Die Berliner Büroleiterin der New York Times fühlte sich in einem etwas wirren Text jüngst bemüßigt, ihren amerikanischen Lesern das offenbar als Frechheit empfundene Verschweigen vollständiger Namen von Opfern, Angehörigen und Trauernden zu erklären: Die von Nazi- und Stasi-Zeit gebeutelten Deutschen machten aufgrund ihrer Geschichte ein riesen Gewese um ihre Privatsphäre, schrieb sie sinngemäß.

Selbst wenn es keine rechtlichen oder ethischen Gründe gäbe, dem Sensationstaumel reißerischer, identifizierender Berichterstattung in einem ungewinnbaren Wettbewerb nicht zu erliegen, bliebe für jede Regionalzeitung am Ende immer noch die Frage, warum sie sich mutwillig selbst beschädigen sollte. Wenn, wie der Tagesspiegel das Schweizer Institut Mediatenor zitiert, das Thema bei ARD und ZDF in der Spitze 59 Prozent aller Nachrichtenplätze besetzt hielt (WM-Sieg 2014 und Fukushima laut dieser Quelle: jeweils 41 Prozent) und damit einen Allzeit-Rekord aufstellt — was kann die Redaktion einer Regionalzeitung eigentlich tun, um in diesem Information-Overkill einen Unterschied zu machen?

Bei ruhiger See und klarem Tagesverstand wissen die meisten Regionalzeitungen, dass sie weder für die Weltöffentlichkeit schreiben, sondern für eine klar umrissene Leserschaft in einem geografisch begrenzten Raum, noch für Leute, die gern in 80-Punkt-Überschriftengröße angeschrien werden, sondern für Menschen, die eine sachliche Nachrichten-Sortierung wünschen. Fragen Sie einen beliebigen Kioskbesitzer oder Tankstellenpächter ihres Vertrauens: Wenn Leser zu einer regionalen Tageszeitung ein weiteres Presseprodukt im Bundle kaufen, dann ist es in überwiegend ein Boulevard-Titel, seltener eine überregionale Zeitung — und fast nie der örtliche Konkurrenz-Titel.

Wenn Leser von mir gar nicht erwarten, dass ich mich aufführe wie die New York Times oder wie BILD, wenn zudem journalistisch nichts oder wenig dafür spricht — warum sollte eine Redaktion es dann um den Preis der Beschädigung ihres Markenkerns eigentlich tun? Nicht obwohl, sondern weil Zeitungen gegenüber der Öffentlichkeit ihre Gatekeeper-Funktion verloren haben, sind Redaktionen heute freier denn je, sich zu entscheiden, welches Produkt sie ihren Lesern bieten wollen.

Wir haben unseren Lesern in einem längeren Lesestück erklärt, wie wir uns in der 4U9525-Berichterstattung derzeit verhalten und warum. Wir haben den Halterner Schüler Mika Baumeister in gleicher Textgröße schildern lassen, wie er das Auftreten der Medien erlebt hat. Die Resonanz aus unserer Leserschaft war fast durchweg positiv. Einige haben uns darauf hingewiesen, dass wir wenig Anlass haben, uns moralisch über andere zu erheben (stimmt), viele waren regelrecht dankbar. Kein einziger hat sich beschwert, dass wir ohne Namensnennung und ohne geklaute Facebook-Bilder arbeiten. Unsere Leser wissen, dass wir Fehler machen. Aber sie nehmen uns ab, dass wir weder absichtlich alles falsch machen noch beim ersten nachrichtlichen Windstoß alle Regeln über Bord werfen.

Beim Presserat stapelten sich acht Tage nach dem Absturz bereits mehr als 400 Beschwerden von Lesern über die 4U9525-Berichterstattung. Noch nie haben sich zu einem Thema so viele Chefredakteure und redaktionell Verantwortliche gegenüber ihren Lesern verteidigt, entschuldigt oder erklärt wie nach dem Germanwings-Absturz. Die Reaktion der Menschen, die einmal das Publikum waren, wird wahlweise als vollkommen überzogenes Medien-Bashing oder als Sieg der fünften Gewalt über die vierte wahrgenommen, den der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (zuletzt in seinem getarnten Entschuldigungsschreiben für den vergeigten “Zeit”-Titel der Vorwoche) ja seit Jahren postuliert.

So oder so: Hinter diese Zäsur kann künftig keine Redaktion mehr zurückfallen. Das bleibt jetzt so. Wir werden mehr und häufiger mit unseren Lesern darüber sprechen müssen, was wir machen und was nicht. Und ob man dabei ins Gespräch oder ins Gerede kommt, hat man — wie meistens im Leben — selbst in der Hand.

Quelle: Pizzabäcker

Die „Spurensuche“ läuft auf Hochtouren: Dutzende, vielleicht Hunderte Journalisten durchforsten gerade das private Umfeld von Andreas L., dem Co-Piloten, der unter Verdacht steht, die Germanwings-Maschine 4U9525 absichtlich zum Absturz gebracht zu haben, und versuchen vor allem, mit Menschen zu sprechen, die (fast) mal was ihm zu tun hatten.

Als erfahrene Katastrophenjournalisten sind die Leute von „Bild“ im Auftreiben solcher Zitategeber natürlich besonders talentiert, darum konnte die „Bild“-Zeitung zum Beispiel schon diesen Mann hier präsentieren:

Und diesen:

Und sie veröffentlichte ein Interview mit Frank Woiton, einem weiteren Piloten, der in den sozialen Netzwerken von einigen als Held gefeiert wird, weil er, als er zwei Tage nach dem Unglück freiwillig als Pilot einsprang, alle Passagiere vor dem Flug persönlich begrüßte und in einer Ansage versprach, dass er alles dafür tun werde, sie sicher ans Ziel zu bringen, und dass auch er eine Familie habe, die er abends wieder in die Arme schließen wolle. Ein Fluggast hatte sich via Facebook bei dem Piloten bedankt, darum wurde er ein bisschen berühmt und von “Bild” interviewt. Das Interview trägt die Überschrift:

Hö?

Dachte sich vermutlich auch Frank Woiton, der noch in der Nacht bei Facebook schrieb:

Derweil versuchen viele Journalisten fiebrig, auch mit Verwandten, Freunden und Kollegen des Co-Piloten Andreas L. zu sprechen, aber weil zurzeit offenbar die meisten von denen mit so albernen Dingen wie Trauern beschäftigt sind, ziehen viele Reporter durch den Heimatort des Co-Piloten und befragen halt den Pizzabäcker um die Ecke.

Im Ernst:

Dass sich [Andreas L. und seine Freundin] getrennt haben könnten, schließt auch Pizzabäcker Habib Hassani (53) nicht aus. Zu ihm kamen die beiden immer ein- bis zweimal die Woche. “Sie waren immer freundlich und nett und bestellten meistens das gleiche: Pizza mit Schinken, Brokkoli und Zwiebeln.” Doch in den Wochen vor dem Absturz sei fast nur noch Andreas L. zu ihm gekommen – aber auch das nur noch sehr selten.

Erschienen ist dieser Absatz in der „Rheinischen Post“ und auf dem dazugehörigen Internetportal „RP Online“.

Die RP-Leute waren aber nicht die einzigen, die es für eine gute Idee hielten, den Pizzabäcker als Informanten heranzuziehen: Inzwischen ist er sogar eine der am häufigsten zitierten Quellen, wenn es um den Beziehungsstatus und den psychischen Zustand des Co-Piloten Andreas L. geht.

Er wurde bereits von „Bild“ zitiert …

Habibalah Hassani (53), der die Pizzeria in Düsseldorf betreibt, die ganz in der Nähe [von Andreas L.s] Zweitwohnung liegt, sagt, er habe ihn öfter mit einer Freundin gesehen.

… vom „Berliner Kurier“ …

Pizzabäcker Habib Hassani (53) erinnert sich an L. als einen gut gelaunten, freundlichen Kunden. „Ich habe ihn manchmal zweimal die Woche gesehen, er kaufte Pizza und Tiramisu.“

… vom „Stern“ …

Es ist eine ruhige Gegend mit Apotheke und Bäcker und der Pizzabude Da Paolo, 210 Meter entfernt von seiner Wohnung. Der Besitzer Habib Hassani hat [L.] oft bedient, machte ihm Pizza, immer mit Brokkoli, Schinken, Paprika, Zwiebeln, zum Mitnehmen. Zwei Stück. Eine für [L.] und eine für seine Freundin. Manchmal begleitete ihn die Freundin auch. Dunkelhaarig sei sie gewesen, kräftig und nett. Herr Hassani sagt: „Das war ein guter Junge. Manchmal hat er vom Fliegen erzählt. Hat gesagt: ‘Für mich scheint immer die Sonne – über den Wolken.’ Und dass er es liebt.“

… von der „Westdeutschen Zeitung“ …

Pizzabäcker Habib Hassani (53): “Ich habe ihn manchmal zweimal die Woche gesehen, er kaufte Pizza und Tiramisu. Er war immer freundlich, gut gelaunt.” Die letzten zwei Monate sei er aber nicht mehr gekommen.

… von der „Hamburger Morgenpost“ und dem „Express“ …

Pizzabäcker Habib Hassani (53) erinnert sich an [L.] als einen freundlichen Kunden, der einen älteren Fiat fuhr. “Ich habe ihn manchmal zwei Mal die Woche gesehen, er kaufte Pizza und Tiramisu.”

… von „Mail Online“ …

Habibalah Hassani, 53, who runs a pizza restaurant close to their flat said he had often seen them together. 
‘They were a very nice, friendly young couple. She was a polite and attractive woman. They would come in once maybe twice a week. ‘He used to tip well, he was very generous. He had told me about his trip to San Francisco. I hadn’t seen them for a couple of months before this happened.’ 

… von der „Mail on Sunday“, die es sogar schafft, die Wahl des Pizzabelags als Symptom einer angeblichen Kontrollsucht zu deuten …

His obsessive need to be in charge extended even to fast food. Habib Hassani, who runs a pizza restaurant near [L.]’s Dusseldorf home, said: ‘He was extremely particular about pizza toppings. He wasn’t interested in what was on the menu. It was often paprika, ham, onion and broccoli. He had to have it his way. He was compulsive about it.’

… von Telegraph.co.uk …

Local pizza shop owner Habibalah Hassani who knew [L.] refused to accept that he could have had a serious psychological condition […].

… von der „Financial Times“ …

Habib Hassani, owner of a pizza parlour close to [L.]’s home, was baffled as to why his regular customer might have taken such a step. “He was completely normal, always laughing, always nice,” he said.

… sowie von amerikanischen, kenianischen, ecuadorianischen, malaysischen, spanischen, neuseeländischen, indonesischen, französischen, honduranischen, estnischen, vietnamesischen, polnischen und unzähligen weiteren Medien.

Der „Financial Times“ sagte er übrigens noch:

“It’s impossible to believe he did this. But you can never know what’s happening inside someone’s head.”

Tja. Noch nicht mal als Pizzabäcker.

PS: Ziemlich genau eine Stunde bevor bei „RP Online“ die Aussagen des Pizzamanns erschienen waren, hatte RP-Chefredakteur Michael Bröcker „In eigener Sache“ geschrieben:

Glaubwürdigkeit bleibt gerade im Dauerfeuer der elektronischen Eilmeldungen das höchste Gut des Journalismus. Deshalb diskutieren wir bei jedem Foto, bei jeder Nachricht, bei jeder noch so kleinen Information: Kann das stimmen? Können wir das schon veröffentlichen? Trägt das Bild zum Verständnis des Unfassbaren bei oder ist es bloß voyeuristisch? Wir wägen ab, wir ringen mit uns. Eine tägliche Herkulesaufgabe. Sie gelingt sicher nicht immer.

In der Tat.

Mit Dank auch an Martin F., Christoph W., und S.!

Haltern, Montabaur, Crowdfunding

1. “Umgang der Medien mit Schülern und Angehörigen in Haltern”
(meistergedanke.de, Mika Baumeister)
Mika Baumeister schildert den Aufmarsch der Presse in Haltern am See – eine Schulklasse aus dem Ort starb beim Absturz von Germanwings-Flug 9525: “Geld für Interviews oder Aufzeichnungen der Gespräche in den ersten Stunden des Mittwochs wurden ebenfalls geboten. Das besthonorierte vor-Ort-Interview wäre wohl bei etwa 80€ dotiert gewesen, soweit ich weiß, gab es auch Einladungen zu Talkshows mit höheren Vergütungen. Diese Interviewanfragen gingen aber nicht immer an halbwegs reife Personen aus der Oberstufe, sondern auch an unschuldige Seelen aus den Klassen 5-7. Mit 10-13 Jahren alten Personen solche Deals zu machen, ist nicht mehr fragwürdig, sondern grenzt an krimineller Energie.”

2. “Dann gehen sie wieder”
(taz.de, Saskia Hödl)
Vor Ort in Montabaur war Saskia Hödl: “Die Herren in den Vierzigern sprechen so laut, dass es der ganze Raum mitbekommt. Man habe einer Kollegin vorgegaukelt, die Freundin des Copiloten hätte schon ausgepackt und hätte gesagt, der Ex habe einen kleinen Penis gehabt. Sie habe es kurz geglaubt. Lautes Gelächter.”

3. “4U9525 als Newsredakteur: Eine kaum zu ertragende Nachrichtenlage”
(kosmos.welt.de)
Die Nachricht über den Flugzeugabsturz in der Nachrichtenredaktion: “Nein, Spaß macht es gerade nicht, aber wir funktionieren.”

4. “Böhmermann überführt!! Der Videobeweis”
(krautreporter.de, Frederik Fischer)
Das #varoufake-Video in der Analyse von Videoforensikern.

5. “Social Media auf der nächsten Ebene – mein Langstecke-Crowdfunding-Fazit”
(dirkvongehlen.de)
Dirk Von Gehlen glaubt, die grosse Zeit von Crowdfunding komme erst: “Als die heute großen Social-Media-Plattformen aufkamen, wurden die ersten Nutzer verlacht oder zumindest naserümpfend angesehen. Ähnlich verhält es sich gerade mit dem allgemeinen Blick auf das Phänomen ‘Crowdfunding’, es wird als Randthema wahrgenommen. Als eine Bezahlmethode für diejenigen, die es im klassischen Betrieb nicht schaffen. Ich glaube, dass dies ein Trugschluss ist. Die Vorstellung von Crowdfunding wird sich in den nächsten Jahren radikal verändern.”

6. “Oje, wenn die Bild über ein Akademie-Gespräch schreibt”
(katharinagreve.de)

Schnelligkeit, Spekulation, Witwenschütteln

1. “Der Aufstieg des Lesers”
(freitag.de, Katharine Viner)
Eine Rede von Katharine Viner, der designierten “Guardian”-Chefredakteurin: “Von der Frage, wozu Journalismus dient, hängt alles ab. Wenn man findet, er soll außerhalb der Macht stehen und den Mächtigen die Wahrheit sagen, wird man für das offene Netz eintreten, den offenen Journalismus, den freien Fluss von Engagement, Kritik und Debatte mit den Leuten, die früher Publikum genannt wurden. Wenn man aber meint, Journalismus solle dazu dienen, zwischen der Macht und den Bürgern zu vermitteln, Einfluss zu nehmen und Herrschaft zu festigen, so wird man das Netz so weit wie möglich eindämmen und die Debatten auf ein Minimum beschränken.”

2. “Guter Journalismus macht keine Kompromisse”
(spiegel.de, Florian Harms)
“Spiegel Online” setzt sich neue Ziele: “Früher lautete unser Leitspruch ‘Schneller wissen, was wichtig ist.’ Aber Schnelligkeit ist für sich allein genommen inzwischen kein Mehrwert mehr. Schnelle Informationen finden Sie heute im Internet überall, leider allzu oft eher halbrichtig als wirklich stimmig – oder sogar ganz falsch. Das ist nicht unser Weg. Unser Anspruch ist es, jeden Tag, auch unter dem Zeitdruck eines minutenaktuellen Mediums, so exakt, ausgewogen, transparent und wahrhaftig wie irgend möglich zu berichten. Damit Sie nicht nur eine einseitige oder verkürzte Darstellung von Ereignissen bekommen, sondern sich anhand verlässlicher, häufig investigativ recherchierter Nachrichten, kundiger Erläuterungen und pointierter Meinungsbeiträge aus unterschiedlichen Perspektiven Ihr eigenes Bild von der Welt machen können.”

3. “An die Medienvertreter”
(facebook.com/Welovehalternamsee)
Menschen in der von Reportern belagerten Ortschaft Haltern am See fühlen sich nach dem Absturz von Germanwings-Flug 9525 in ihrer Trauer gestört: “Wer zum Gedenken eine Kerze abstellen oder einen Moment an der Treppe zum Gymnasium innehalten möchte, fühlt sich wie im Zoo oder auf einem Laufsteg: Vor einer Front aus teilweise über 50 Kameras wird jeder Emotionsausbruch von den geifernden Kameraleuten schnell eingefangen und geht kurz darauf um die Welt und wird von distanzierten Stimmen kommentiert.” Siehe dazu auch “Es gibt Tage, da schäme ich mich Journalist zu sein” (facebook.com/bjvde, Michael Busch).

4. “Appell an die Chefredaktionen: Witwenschütteln – Das wollt Ihr alle nicht erleben”
(facebook.com, Sandra Schink)
“Lasst die Menschen einfach trauern”, bittet Sandra Schink und erzählt, wie ihre Familie 1982 von Mitarbeitern einer Boulevardzeitung besucht wurde: “Viele Jahre später führte mich das Schicksal in die Branche und die Redaktionen, für die die Männer von damals arbeiteten. Ich begegnete beiden wieder, und ich stellte beide zur Rede. Keiner konnte sich an ‘diesen Fall’ erinnern. Vielleicht wollte sich auch keiner erinnern. Und während der eine, der mit der sonoren Stimme, empört bestritt jemals ‘so etwas’ getan zu haben, wurde der andere sehr still, als ich ihn fragte, wie oft er diesen Job gemacht hat in seinem Leben.”

5. “Livejournalismus zu 4U9525: Warum wir nicht innehalten”
(n-tv.de, Christoph Herwartz)
Christoph Herwartz verteidigt den Versuch, “dem grenzenlosen Informationsbedürfnis der Leser hinterherzukommen”: “Wenn Menschen am Düsseldorfer Flughafen von dem Absturz erfahren und sich weinend in den Armen liegen, dann kann man davon in einem Liveticker genauso gut berichten wie in einer Reportage. Ein Liveticker ist nicht per se anrüchig. Und eine Zeitung ist nicht per se taktvoll.”

6. “Wir wollen nicht spekulieren…”
(youtube.com, Video, 5;54 Minuten)
TV-Ausschnitte, in denen “nicht spekuliert” wird. Und ein Pro und Contra zum Umgang mit dem Unglück.

Flug 9525, Brennpunkt, Leistungsschutzrecht

1. “Die Bezeichnung Nachrichten hat ihren Wert verloren”
(udostiehl.wordpress.com)
Ein “sinnloser Geschwindigkeitswahn” beherrsche den Wettbewerb zwischen den Medien, schreibt Udo Stiehl zum Absturz von Germanwings-Flug 9525: “Die wenigen verlässlichen Informationen gehen unter in einem Meer von Spekulationen, denn nur diese lassen sich mehr oder weniger rasch veröffentlichen und unterscheiden sich von Mutmaßungen, mit denen die konkurrierenden Redaktionen ihre Lücken zwischen den Fakten füllen. Das hat mit dem Handwerk des Nachrichten-Journalismus nichts zu tun, wird aber mit ebendiesem Etikett verkauft.”

2. “Kritik am ARD-Brennpunkt 24.03.2015 zum Flugzeugabsturz”
(youtube.com, Video, 3:17 Minuten)
Eine Kritik des ARD-Brennpunkts vom Dienstagabend (wdr.de, Video, 3:17 Minuten).

3. “Innehalten in der Nachrichtenflut – Das doppelte Dilemma der Medien”
(horizont.net, Ingo Rentz)
“Schaltet lieber einen Gang zurück!”, möchte Ingo Rentz manchen Medien zurufen: “Man sollte aber auch die andere Seite nicht außer Acht lassen: Wir leben im Zeitalter von Twitter, Facebook und Instagram – und damit im permanenten Nachrichtenstrom. Wer diese Welt gewohnt ist, dem kommt stundenlanges mediales Schweigen seltsam und verdächtig vor. Und informiert sich womöglich anderweitig, und nicht bei für gewöhnlich verlässlichen Medienmarken. Man wird deshalb den Eindruck nicht los, dass die Kritik auf Facebook, Twitter und Co. teilweise sehr wohlfeil ist. Jeder giert nach Informationen, aber liefern darf sie keiner?”

4. “Netzreaktionen nach Flugzeugunglück: Die verlogene Wut beim Posten”
(spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo beschäftigt sich mit der Trauer und den Spekulationen zum Unglücksfall im Internet: “In den sozialen Medien funktioniert die Spekulation über die Absturzursache auffallend häufig in Form der Distanzierung von Spekulationen über die Absturzursache. An einer Welle teilnehmen durch Distanzierung von der Welle, auch das ist Social Media.”

5. “1048,60 Euro für ein Handelsblatt-Logo?”
(gruenderszene.de, Niklas Wirminghaus)
Die Seite des “Handelsblatts” in der Auseinandersetzung um eine an ein Wein-Startup geschickte Abmahnung: “Natürlich kann man argumentieren, dass auch für eine derartige Einbindung der Logos vierstellige Lizenzgebühren unangebracht sind. Das Handelsblatt jedenfalls besteht darauf, vorher gefragt zu werden: ‘Für die Nutzung unseres Logos von Dritten für Eigenwerbezwecke muss eine Genehmigung eingeholt werden.'”

6. “LG Berlin erlässt erste Entscheidung wegen Verletzung des Leistungsschutzrechts für Presseverleger (LSR)”
(lhr-law.de, Arno Lampmann)
Arno Lampmann berichtet von einer ersten Entscheidung aufgrund des Leistungsschutzrechts für Presseverleger: “Obgleich oder gerade, weil die Entscheidung formal richtig sein mag, wirft sie kein gutes Licht auf das Leistungsschutzrecht. Nachdem zahlreiche Stimmen bereits vor Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes vor der Zweckwidrigkeit und dem Missbrauchspotential der Bestimmung gewarnt haben, stimmt nun auch der erste praktische Anwendungsfall in diesem Sinne nachdenklich.”

Absturz des Journalismus

Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag stammen von uns.

Als BILDblogger schaut man jeden Tag in die Abgründe des Journalismus, aber es gibt Tage, an denen vor lauter Abgründen kaum noch Journalismus zu sehen ist. Gestern war so ein Tag.

Am frühen Mittag, weniger als eine Stunde nachdem bekannt geworden war, dass die Germanwings-Maschine 4U9525 über Frankreich abgestürzt ist, umfasste der Liveticker bei Bild.de schon über 35 Einträge. Bei „Focus Online“ über 20.

Das ist eine dieser furchtbaren Eigenarten des deutschen Onlinejournalismus: Dass die Portale in den ersten Stunden nach solchen medialen Großereignissen alles rausjagen, was sie in die Finger kriegen, egal, wie irrelevant, spekulativ oder nichtssagend die „Nachricht“ auch sein mag. Hauptsache Content. Hauptsache Klicks.

Bild.de zum Beispiel.
@fernsehkritiktv).
Letztere „Nachricht“ wurde allerdings von niemandem so schamlos fürs Clickbaiting missbraucht wie von „Focus Online“ und „Huffington Post“:
wie blöd geklickt werden: Einer der Artikel, die in den sozialen Netzwerken gestern am meisten herumgereicht wurden, war: „Rapper Moneyboy verhöhnt 4U9525-Absturz“ — selbstverständlich erschienen bei „Focus Online“.

Selbst das Alter der abgestürzten Maschine wurde von einigen Medien als (erschreckende) Sensation verkauft:

völlig normal.

Besonders problematisch wird diese gedankenlose Veröffentlichungswut dann, wenn Gerüchte genauso behandelt werden wie gesicherte Fakten. Frank Schneider etwa, NRW-Chefreporter der “Bild”-Zeitung, twitterte gestern Nachmittag, dass “unbestätigten Informationen” zufolge zum Zeitpunkt des Absturzes “ein starkes Gewitter über der Region getobt” habe.

Obwohl nicht mal eine Quelle angegeben war, übernahm Bild.de den Tweet gleich im Liveticker:

Fehlinformation gewesen war — da war sie aber schon längst im Umlauf:

(Aus der Kommentarspalte bei „Zeit Online“.)

Ein anderes Beispiel von heute:

doch ausgewertet werden konnte. Was „Bild“ dann auch gleich wieder vertwitterte …

… natürlich ohne auf den eigenen Fehler hinzuweisen.

Es sind vor allem diese halbgaren, nicht überprüften Informationen, die die unnötige Sensationsgier befeuern. Lieber schnell was Falsches rauskloppen, das man später lautlos kassieren kann, als sich Ewigkeiten um bestätigte Inhalte zu bemühen.

Aber es gibt auch positive Beispiele. “Zeit Online” zum Beispiel oder Sueddeutsche.de haben sich gestern (und auch schon davor, bei ähnlichen Ereignissen) sichtlich bemüht, keinen unnötigen Quatsch zu veröffentlichen und sich möglichst auf die gesicherten Fakten zu konzentrieren. Sueddeutsche.de leitete den Artikel (ähnlich wie der “Guardian” oder die “New York Times”) auch mit “Was wir wissen” und “Was wir nicht wissen” ein.

So dauert es zwar deutlich länger, bis man seine Leser mit Informationen versorgen kann, aber Journalismus braucht eben manchmal Zeit. Das vergessen seine Macher und seine Nutzer — gerade in solchen Situationen — leider viel zu oft.

***

Gegen 13 Uhr tauchten dann die ersten Fotos von Angehörigen auf. Ganz vorne mit dabei, mal wieder: Frank Schneider, NRW-Chefreporter der “Bild”-Zeitung.

Immerhin: Die Gesichter waren nicht zu erkennen. Noch nicht.

Eine knappe Stunde später — der Liveticker bei Bild.de umfasste inzwischen über 70 Einträge — veröffentlichte Bild.de dann die erste Großaufnahme von weinenden Angehörigen. Ohne Quellenangabe. Und ohne Verpixelung.

Auch auf der Startseite war das Foto riesengroß und ohne jede Unkenntlichmachung zu sehen:

“Bild”-Chef Kai Diekmann rechtfertigte die Veröffentlichung damit, dass andere Medien sowas ja auch machen:

Erst nachdem sogar eingefleischte “Bild”-Leser das unverpixelte Foto kritisiert hatten, nahm Bild.de es wieder runter.

Ohnehin gab es gestern viel Kritik an der Berichterstattung der Medien, vor allem, wenn es um Fotos von trauernden Angehörigen ging. Und in manchen Fällen brachte es tatsächlich etwas: “RP Online” zum Beispiel hatte zunächst eine 14-teilige Klickstrecke von trauernden Angehörigen veröffentlicht (deren Gesichter immerhin verpixelt waren), doch nachdem sich einige Leser massiv beschwert hatten, nahm das Portal die Strecke wieder offline.

Eine Praxis, wie sie für Burdas Journalismusimitationsportale “Focus Online” und “Huffington Post” natürlich niemals infrage käme. Bei “Focus Online” sind die unverpixelten Angehörigen auch heute noch zu sehen:

Und bei der “Huffington Post” hatten sie nicht mal ein Problem damit, die weinenden Gesichter fast über die gesamte Breite der Startseite zu legen:

Darunter sah es übrigens — ungelogen — so aus:

Da wundert es auch nicht, dass sich die Mitarbeiter von “Huffpo” und “Focus Online” sofort auf jeden stürzten, der auch nur annähernd möglicherweise irgendwen kennen könnte, der vielleicht fast im Flugzeug gesessen hätte:

Sie bekamen folgende Antwort:

***

Aber nochmal zurück zu den Fotos von trauernden Angehörigen. Auch in vielen sogenannten seriösen Medien waren gestern etliche (Bewegt-)Bilder von weinenden Menschen zu sehen, in den meisten Fällen ohne jede Unkenntlichmachung.

Die “Tagesthemen” etwa zeigten sowohl trauernde Schüler als auch trauernde Angehörige — alle unverpixelt.

“ZDF heute” hatte zwar die Schüler unkenntlich gemacht, zeigte dann aber — unverpixelt — weinende Angehörige in Spanien, die noch verzweifelt versuchen, sich zum Schutz vor den Kameraleuten Jacken vor ihre Gesichter zu halten.

Das “heute journal” verzichtete zwar auf Bilder von Angehörigen, zeigte allerdings trauernde Schüler — unverpixelt.

N24 zeigte sowohl unverpixelte Angehörige als auch unverpixelte Schüler.

“RTL aktuell” gab sich spürbar Mühe, Angehörige und Schüler nur von hinten oder aus weiter Entfernung zu zeigen. Dafür brachten sie ein (großflächig unkenntlich gemachtes) Klassenfoto und zeigten eine Animation des (geratenen) Flugverlaufs, bei der das Flugzeug am Ende in einem Feuerball explodiert.

Sat.1 zeigte in einer Sondersendung sowohl das (unkenntlich gemachte) Klassenfoto als auch unverpixelte Bilder von trauernden Schülern. Und: trauernde Angehörige im Großformat, in Zeitlupe und mit trauriger Klaviermusik hinterlegt.

Und selbst die “Tagesschau” zeigte in ihren Ausgaben um 16 und 17 Uhr die Gesichter weinender Angehöriger in Spanien. Erst für die Hauptausgabe um 20 Uhr hatte die Redaktion die Gesichter verpixelt. Allerdings auch nur im Beitrag selbst. Am Anfang der Sendung war im Hintergrund ein großes Foto weinender Angehöriger zu sehen — unverpixelt.

***

Neben den hier dokumentierten Fällen sind freilich noch viel mehr eklige Dinge passiert, auf die wir aus Zeit- und Nervengründen gar nicht alle eingehen können — etwa auf das Clickbaiting, auf die Rumspekuliererei, auf Franz Josef Wagner — aber es wäre schon sehr viel geholfen, wenn sich die Journalisten in Zukunft wenigstens das zu Herzen nehmen würden, was Lorenz Meyer hier zusammengestellt hat:

Mit Dank an alle Hinweisgeber, inbesondere an Bernhard W., Jonas J. und Simon H.!

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