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Können Journalisten noch lesen & schreiben?

Die deutsche Ausgabe der Kulturzeitschrift “Lettre International” hatte in den vergangenen Wochen soviel Aufmerksamkeit wie selten — dank eines Interviews mit Thilo Sarrazin, das zum Skandal wurde. Viele Reaktionen der Medien auf die Veröffentlichung legen für Chefredakteur Frank Berberich den Schluss nahe: “Die Alphabetisierung von Journalisten nimmt rapide ab”.

In einem Interview mit dem Online-Medienmagazin “V.i.S.d.P.” klagt er über “Dilettantismus, politisch-korrekte Phrasen, Irreführung, große Parolen” und kritisiert die Verlogenheit von “Bild”:

Die Sensationalisierung und Skandalisierung wurde vor allem von Medien inszeniert, die damit Geld verdienen wollten. (…) BILD hat die Stadt tagelang mit Sarrazin-Titeln zugepflastert und das Thema dramatisiert und hochgeputscht. An einem Tag behauptete die Schlagzeile “Sarrazin beleidigt die Berliner” am anderen “die Türken”, und am dritten wurde gefragt: “Hat Sarrazin doch Recht?” (…)

BILD ONLINE hat das Interview eingescannt und ohne unsere Einwilligung komplett veröffentlicht und erst nach einer einstweiligen Verfügung wieder aus dem Netz genommen. (…)

Wenn BILD ein so großes Interesse am Thema hatte – warum war man nicht originell genug und hat es selbst bearbeitet? Die Möglichkeiten dazu hätte sie doch. Man muss Leuten wie Diekmann auch mal unter die Nase halten: Sie geben sich als Anstandsdamen, wenn es passt, und wenn nicht, gehen sie auf Beutezug in fremden Revieren. Abgesehen davon ist es eine groteske Heuchelei, Sarrazin Rassismus vorzuwerfen und diese üblen “Beleidigungen” gleichzeitig soweit wie möglich zu verbreiten, indem man sie unter Verletzung des Urheberrechts auf die eigene Homepage stellt, um deren “traffic” zu erhöhen.

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Die Opferfotos und die rechtsfreien Zonen

Zum Beispiel war unter den deutschen Passagieren, die in der vergangenen Woche mit einem Airbus im Atlantik abgestürzt sind, auch ein Assistenzarzt der Uniklinik Heidelberg. Das war für die Medien praktisch, denn die Klinik hat eine Homepage, auf der auch Fotos der Mitarbeiter stehen, da mussten sich die Journalisten nur bedienen und hatten sofort ein Bild, mit dem sie ihre Berichte illustrieren konnten.

Nein, sagt die Kliniksprecherin auf Anfrage von BILDblog, genehmigt habe das Krankenhaus die Verwendung seines Fotos nicht. Es habe niemand überhaupt eine Genehmigung erfragt.

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Sechs große Hamburger Verlage haben in der vergangenen Woche die Bundesregierung aufgefordert, das Urheberrecht im Internet zu verschärfen. “Im Internet darf es keine rechtsfreien Zonen geben”, erklärten die Verlage von “Bild”, “Spiegel”, “Zeit”, “InTouch”, “Für Sie” und “Stern”. “Ungenehmigte Nutzung fremden geistigen Eigentums muss verboten bleiben.”

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Der “Stern” weigert sich im Zusammenhang mit dem Amoklauf von Winnenden konsequent, Fragen nach der Herkunft der von ihm gezeigten Privatfotos der Opfer zu beantworten. In seiner aktuellen Ausgabe zeigt er fast jedes der über 100 Opfer des Flugzeugabsturzes im Bild. Bei den meisten fehlt der sonst übliche Hinweis auf die Quelle.

Auf eine Anfrage von BILDblog bei den Redaktionsleitern von stern.de, Frank Thomsen und Ralf Klassen, ob sie für eine ähnlich angelegte stern.de-Bildergalerie Einwilligungen der Urheber oder Angehörigen eingeholt haben, antworteten sie: nicht. 

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Verwechslung mit einem Amokläufer

Die “Bild”-Zeitung, das Pro-Sieben-Magazin “taff” und die “Welt am Sonntag” waren nicht die einzigen, die im Bilderrausch nach dem Amoklauf von Winnenden Fotos von Unschuldigen zeigten und behaupteten, es handle sich um den Täter Tim K.

Am Tag der Tat hatte stern.de noch die atemlos bloggenden und twitternden Amateure im Netz, den “Pöbel”, dafür verantwortlich gemacht, dass Unbeteiligte mit dem Amokläufer verwechselt wurden. Die Profis vom “Stern” dagegen schafften es, noch eine Woche später ein Foto zu veröffentlichen, das ihnen nun folgende Gegendarstellung einbrachte:

Gegendarstellung. In der Ausgabe des stern Nr. 13 vom 19. März 2009 wurde auf Seite 37 rechts oben ein Foto, welches u. a. mich zeigt, mit der Bildunterschrift "Der Sieger: Tim wird 2005 Bezirksjugendmeister im Tischtennis" veröffentlicht. Hierzu stelle ich fest: Das Bild zeigt mich und nicht Tim K[...]. Erdmannhausen, den 23. März 2009 Marius Jenner. Marius Jenner hat recht. Wir bedauern das Versehen. Die Redaktion

Immerhin scheint das im selben “Stern”-Artikel abgebildete “Freundschaftsbuch einer Klassenkameradin”, in das Tim K. als Neunjähriger schrieb, dass seine Lieblingsfarbe “blau” sei, und in dem er sein Leibgericht mit “Kroketen” angab, authentisch gewesen zu sein. Das ist doch was.

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