Es ist ein merkwürdiges Triumphgeheul, das “Bild” heute in der Kölner Ausgabe anstimmt:
Und es war doch ein Schlaganfall!
Warum “doch”? Hatte jemand was anderes behauptet?
Niedecken hatte BILD verbieten lassen, wahrheitsgemäß zu berichten, dass er einen Schlaganfall hatte. Überraschend offen sprechen Niedecken und seine Frau Tina (46) nun im aktuellen “Spiegel”. Sie sagen ganz klar:
JA, ES WAR EIN SCHLAGANFALL!
Niedecken hatte in der Tat mehrere Einstweilige Verfügungen gegen “Bild” erwirkt — mit Verweis auf seine Privatsphäre und die seiner Familie (BILDblog berichtetemehrfach). Dass Niedecken nun, da er wieder auf den Beinen ist, im “Spiegel” von sich aus einen Blick in diese Privatsphäre gewährt, rechtfertigt nachträglich nicht, dass “Bild” diese Privatsphäre verletzt hatte.
Anders als “Bild” jetzt suggeriert bezogen sich die Einstweiligen Verfügungen nicht nur auf die Art der Erkrankung. “Bild” wurde unter anderem auch verboten, Fotos von Niedeckens Frau und Kindern auf dem Krankenhausparkplatz (BILDblog berichtete) abzudrucken, “Details zur Fürsorge der Familie Niedecken für Wolfgang Niedecken” zu veröffentlichen und Details über die Krankenhausbehandlung Niedeckens zu verbreiten.
Vor allem aber wurde “Bild”, die ja nach eigener Ansicht “wahrheitsgemäß” berichtet hatte, untersagt, Details des angeblichen Erkrankungshergangs zu veröffentlichen, die laut Niedecken “falsch” bzw. “frei erfunden” waren. Erst vergangene Woche hatte “Bild” eine diesbezügliche Einstweilige Verfügung anerkannt und auf sämtliche Rechtsmittel verzichtet.
Statt auf eigene Spekulationen bzw. “Informationen” setzt “Bild” heute deshalb lieber auf das, was Niedecken selbst preisgegeben hat:
BILD druckt Auszüge des Interviews…
… und könnte sich damit den nächsten juristischen Ärger einhandeln — diesmal allerdings mit dem “Spiegel”, denn die “Auszüge” umfassen weite Teile dessen, was Niedecken zum Krankheitsverlauf gesagt hat.
Nicht zitiert hat “Bild”, wie das Gespräch später weiter ging:
SPIEGEL: Wie fühlt es sich an, öffentlich krank zu sein? Kann man als Prominenter sagen: Meine Krankheit ist reine Privatsache, da lasse ich keinen dran teilhaben?
Niedecken: Ich selbst war schockiert, als die “Bild”-Zeitung gleich erfundene Details über meinen Schlaganfall verbreitete. Dass sie meine Töchter vor dem Krankenhaus fotografiert haben und ein Reporter ihnen aufgelauert hat und sie ausquetschen wollte. Als Tina und ich vor ein paar Tagen am Rhein spazieren gingen, sah ich plötzlich “Bild”-Paparazzi hinter dem Baum. Auf einem der Fotos sieht man mir den Schreck über den Fotografen richtig an. Ich schaue tatsächlich wie jemand, der einen Schlaganfall hatte.
Tina Niedecken: Schatzi, du hattest einen Schlaganfall!
Niedecken: Ja, weiß ich ja. Ich meine nur, es sah so aus, wie man sich Schlaganfall-Patienten im Boulevard vorstellt. Ich gucke so ein bisschen irre. Das Gefühl, die Kontrolle über seine Privatsphäre zu verlieren, ist schlimm. Das hat etwas von einer Vergewaltigung.
Mit Dank auch an Matthias M.
Nachtrag, 17.35 Uhr: Niedeckens Anwälte bezeichnen die heutige Berichterstattung von “Bild” als “scheinheilig”, weil die Zeitung ganz genau wisse, dass das Verbot nicht deshalb ergangen sei, weil die Meldung falsch war, sondern weil eine Veröffentlichung von Krankheiten ohne Zustimmung Niedeckens in das Persönlichkeitsrecht Niedeckens eingreife.
Der “Spiegel” erklärt uns unterdessen auf Anfrage, dass er nicht gegen “Bild” vorgehen wolle, auch wenn das Ausmaß, in dem die Zeitung aus dem Magazin zitiert, durchaus “episch” sei.
Die Berliner Band Die Ärzte hält nicht viel von der “Bild”-Zeitung. Sie hält auch nicht viel von der Leipziger Band Die Prinzen.
Aus diesem Dreieck ist jetzt eine Geschichte in der Leipziger Regionalausgabe von “Bild” entstanden:
Die Ärzte sind Deutschlands berühmteste Spaß-Punk-Kombo – doch bei den Prinzen hört für sie der Spaß auf!
Unglaublich, aber wahr: “Den die ärzte ihr offizieller Fanclub” (die Band schreibt sich bescheidenerweise selbst klein) muss das “offiziell” ab sofort streichen, heißt jetzt “Die Ärzte Fanclub” (5560 Mitglieder). Auslöser: Ein Interview mit Prinzen-Sänger Sebastian Krumbiegel im Fanclub-Magazin “Prawda”!
Bei Bild.de ist die Überschrift sogar noch ein bisschen eskalativer:
Tatsächlich scheint das Interview in der Fanclub-Zeitschrift ein Katalysator für die Umbenennung gewesen zu sein:
Ärzte-Manager Axel Schulz auf der Fanclub-Homepage (www.daefc.de): “Nach außen wird durch den Zusatz ‘offiziell’ unkorrekterweise vermittelt, der Fanclub würde die Meinung der Band wiedergeben. (…) Höhepunkt war sicherlich das Interview mit Sebastian Krumbiegel.”
So weit das Zitat in “Bild”.
Aus dem, was Schulz noch so schrieb, lässt sich gut erkennen, wie unpassend die “Bild”-Schlagzeile mit der “Zensur” ist:
Wir können und wollen euch die Inhalte der PRAWDA und des Newsletters nicht vorgeben, geschweige denn alle Texte vor Abdruck prüfen. Der mündige Fan ist uns wichtig! Deshalb hat sich das Management, auch im Namen der Band, entschlossen, sich von dem Titel “offiziell” im Fanclub zu verabschieden. Wir sind der Ansicht, dass wir alle davon profitieren werden. Ihr gelangt so zu mehr Unabhängigkeit und werdet als eigenständiges Sprachrohr der Fans wahrgenommen. Auch der Vorwurf der Kritiklosigkeit durch eine vermeintlich zu große Nähe zum Management lässt sich so entkräften.
Und ganz so herzlos, wie “Bild” es darstellt, scheinen Band und Management auch nicht zu sein:
Zudem werden wir die Kosten der Namensumstellung übernehmen, und die versprochenen Ticketvergünstigungen wie bisher beibehalten, so dass aus der Namensänderung den Fans keine Nachteile entstehen.
Auch der Fanclub selbst ist mit der neuen Situation nicht unglücklich, befreit es den Club doch aus einem Dilemma:
Wir können uns eine Fanclubarbeit, bei der jede Kleinigkeit (insbesondere, wenn sie nicht direkt die Band betrifft) dem Management vorgelegt und abgesegnet werden muss, nicht vorstellen, und wir sind auch nicht der Meinung, dass das in eurem Interesse wäre. Das Management teilt in dieser Hinsicht unsere Meinung.
Von der Seite der Mitglieder wiederum hören wir immer wieder die Aussage, dass der Fanclub zu unkritisch berichtet und als reines Promoorgan des Managements fungiert.
Am Samstag wurde das Bundesligaspiel zwischen dem 1. FC Köln und dem FSV Mainz 05 eine knappe Stunde vor Anpfiff abgesagt. In der ersten Eilmeldung, die dazu über die Ticker ging, schrieb der Sportinformationsdienst (sid):
“Der Schiedsrichter ist nicht eingetroffen”, sagte FC-Pressesprecher Tobias Schmidt: “In der Kürze der Zeit konnte kein Ersatzmann kommen. Wir können keine weiteren Angaben machen.” Das Spiel sollte von Babak Rafati (Hannover) geleitet werden.
In einer eilig einberufenen Pressekonferenz erklärte Kölns Sportdirektor Volker Finke, dass es “einen Unfall des Schiedsrichters” gegeben habe. Doch zu diesem Zeitpunkt war schon eine andere Version in Umlauf, auf den Draht gegeben von der Deutschen Presseagentur (dpa):
Nach dpa-Informationen soll Rafati einen Selbsttötungsversuch unternommen haben. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es zunächst nicht.
Das sind Sätze, deren Dimension sich einem nicht auf den ersten Blick erschließt. Wenn sich die “dpa-Informationen” als falsch herausgestellt hätten, wäre es ein mittelgroßes Desaster für die dpa gewesen: Ein paar Leute hätten sich bei Rafati und ein paar anderen Leuten entschuldigen müssen. Aber dieses Szenario wäre womöglich weniger verheerend gewesen, als das, was dann passierte.
In ihrer Radio-Fußballübertragung gingen die ARD-Anstalten früh auf das Gerücht ein, das sich bald als Fakt bestätigte. Der WDR vermeldete stolz, herausgefunden zu haben, in welchem Hotel Rafati mutmaßlich seinen Selbstmordversuch unternommen habe, und die Onlinemedien drehten auf. Die Nachrichtenagentur dapd stimmte erstaunlich spät mit ein, aber vielleicht hatte dort einfach niemand mitbekommen, was los war.
Babak Rafati hat überlebt, aber ein Selbstmordversuch ist und bleibt ein versuchter bzw. nicht gelungener Suizid. Um Nachahmungstaten (den sogenannten “Werther-Effekt”) möglichst gering zu halten, empfehlen Psychologen den Medien, bei der Berichterstattung über Suizide Folgendes zu beachten:
Sie sollten jede Bewertung von Suiziden als heroisch, romantisch oder tragisch vermeiden, um möglichen Nachahmern keine post-mortalen Gratifikationen in Form von Anerkennung, Verehrung oder Mitleid in Aussicht zu stellen.
Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.
Sie sollten die Suizidmethode und – besonders bei spektakulären Fällen – den Ort des Suizides nicht erwähnen, um die konkrete Imitation unmöglich zu machen.
Sie sollten vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten, um so jede Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen und Problemen des Suizidenten vermeiden.
Der sid jedenfalls eröffnete schon um 16.09 Uhr, keine Stunde, nachdem der erste Hinweis auf Rafatis Selbstmordversuch über den Ticker gegangen war, den munteren Spekulationsreigen: Die Reporter hatten jemanden gefunden, den sie mit den Worten zitieren konnten, “depressive Verhaltensverweisen” von Rafati seien ihm nicht bekannt.
“Spiegel Online” hatte zunächst so über Rafatis Ausfall für das Bundesligaspiel berichtet:
Offenbar ein Versehen, denn eine halbe Stunde sah der gleiche Artikel so aus:
DFB-Präsident Theo Zwanziger gab noch am Samstagnachmittag in Köln eine Pressekonferenz, in der er es schaffte, an den Satz “Ich würde Sie bitten, mir Einzelheiten zu ersparen” mit einer Kurzbeschreibung der Auffindesituation anzuschließen, die die Medien gerne weiter verbreiteten. Georg Fiedler, der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention kritisierte im Gespräch mit der dpa die Ausführungen Zwanzigers mit den Worten: “Ich glaube, man muss nicht sagen, wie es jemand gemacht hat”. Die dpa wiederum hielt es für eine gute Idee, Zwanziger in diesem Kontext noch mal zu zitieren.
“Spiegel TV” und “Kicker TV” bemängelten in einem gemeinsamen Videobeitrag “zweifelhafte Reaktionen”:
So gehören die Details der Situation, in der Rafati aufgefunden wurde, sicherlich zu seiner Privatsphäre, aber die Dramatik überforderte auch den DFB-Präsidenten.
So spricht der Off-Sprecher, dann spricht Theo Zwanziger und nennt die Details der Situation, in der Rafati aufgefunden wurde.
Der Totalausfall der Selbsterkenntnis geht weiter:
Ohne um die Motive oder Beweggründe Rafatis zu wissen, sind jede Menge Spekulationen im Umlauf — auch über die Rolle des Drucks auf Schiedsrichter, ohne dass jemand weiß, ob dieser Umstand im Fall Rafati zutrifft.
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, die die Berichterstattung der Medien als “im Großen und Ganzen angemessen” bezeichnet hatte, stellte angesichts der Spekulationen über Rafatis Beweggründe die Frage, “ob uns das überhaupt etwas angeht?”
Für Bild.de lautete die Antwort offenbar: Natürlich. Sie stellten einen Artikel aus der “Bild am Sonntag” unter dieser Überschrift online:
Reporter von “Bild” und “Berliner Kurier” hatten unterdessen Rafatis Vater ausfindig gemacht und befragen den Mann, der am Samstag beinahe seinen Sohn verloren hätte, zu aktuellen Entwicklungen und möglichen Beweggründen.
Bild.de spekuliert heute munter drauf los:
Sportliche Gründe? Zum 1. Januar sollte er den Status als Fifa-Schiedsrichter verlieren (und damit internationale Einsätze). Auch in der Bundesliga kam er immer seltener zum Zuge (erst 4 Spiele in dieser Saison). Das bedeutet für ihn auch finanzielle Einbußen.
Rafati hätte am Samstag, dem 13. Spieltag, sein fünftes Saisonspiel pfeifen sollen. Hochgerechnet auf die Saison wäre Rafati auf etwa 13 Einsätze gekommen — in der vergangenen Saison waren es neun.
Auch express.de beteiligt sich an den Spekulationen:
Kam der 41-Jährige am Ende mit dem Druck nicht mehr zurecht? Fakt ist: Auf Facebook gibt es eine Anti Rafati-Seite. Dort werden meist tief unter der Gürtellinie seine Leistungen auf dem Platz beurteilt. Derzeit diskutieren die User allerdings, ob sie den Schiedsrichter gemobbt hätten. Und ob man diese Seite nicht besser löschen sollte. Das ist bisher noch nicht geschehen.
Die Popularität dieser Facebook-Seite könnte natürlich auch auf express.de zurückgehen, wo die Reporter vor zehn Monaten geschrieben hatten:
Vor einer Woche riefen Nürnberg-Fans die Facebook-Seite “Anti Babak Rafati” ins Leben. Die hatte am Montag bereits über 1000 Anhänger – inzwischen auch viele aus Düsseldorf. Wer stoppt “Tomati” endlich?
“Bild” fragt heute “Wie krank macht die Bundesliga?” und stellt fest:
Immer mehr Akteure scheinen mit dem Druck nicht fertig zu werden.
“Bild” verweist in diesem Zusammenhang auch noch einmal auf den Selbstmord von Nationaltorwart Robert Enke vor zwei Jahren und zitiert den Sportpsychologen Andreas Marlovits mit den Worten:
“Vor allem wenn es um negative Wertungen geht, also beispielsweise der schlechteste Schiedsrichter o. ä. gewählt wird und Personen ständig persönlich angegriffen werden, kann es gefährlich werden, weil es einen gewaltigen Druck erzeugt.”
In einer kurzen Phase der Selbstreflexion hatte sich Walter M. Straten, stellvertretender Sportchef von “Bild”, nach Enkes Tod mit den Worten zitieren lassen:
“Wir werden wohl mit extremen Noten etwas vorsichtiger sein”, sagt der stellvertretende Bild-Sportchef. Man werde sich einmal mehr überlegen, “ob der Spieler, der eine klare Torchance vergeben hat, oder der Torwart, der den Ball hat durchflutschen lassen, eine Sechs bekommt oder eine Fünf reicht”.
In der gleichen Ausgabe, in der ein Psychologe vor dem “gewaltigen Druck” warnt, der durch negative Wertungen entsteht, bewertete “Bild” die Leistung der Spieler des SV Werder Bremen im Spiel gegen Borussia Mönchengladbach heute so:
Wie Journalisten dem öffentlichen Interesse nachkommen können, ohne alles noch schlimmer zu machen, beweist sueddeutsche.de mit der knappen Meldung, dass Babak Rafati inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen sei.
Fast so lang wie der Artikel selbst ist diese Anmerkung:
Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Selbstmorde zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Die Berichterstattung im Fall Rafati gestalten wir deshalb bewusst zurückhaltend, wir verzichten weitgehend auf Details. Der Grund für unsere Zurückhaltung ist die hohe Nachahmerquote nach jeder Berichterstattung über Suizide.
Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.
Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 22. November: Die Nachrichtenagentur dapd hat uns mitgeteilt, dass ihre Redakteure – entgegen unserer Spekulationen – durchaus mitbekommen hätten, dass sich offenbar Schlimmes zugetragen hatte. Die Redaktion habe sich aber erst ganz sicher sein wollen, bevor sie darüber berichtete.
Im Inneren erklärte die Zeitung dann, wer der Abgeordnete ist (Simon Weiß von der Piratenpartei) und was er da auf dem Foto macht:
Ein junger Mann beugt sich über eine Linie weißes Pulver. An seine Nase hält er eine Papierrolle. Und deutet an, die weiße Substanz hochzuziehen als wäre es Kokain. Daneben steht ein Salzstreuer. Das Foto zeigt Pirat Simon Weiß (26), der im Abgeordnetenhaus sitzt. Er hat es über den Internetdienst Twitter veröffentlicht.
Bei Bild.de ging die Geschichte erst nach einer Drehung an der Meta-Schraube online und klang dann so:
Seine Idee: ein bisschen Drogen-Provokation. Wie originell!
Auf seinem Twitter-Account hat er ein neues Profilfoto eingestellt. Zu sehen: Simon Weiß, wie er seinen Kopf über eine Tischplatte beugt, mit der linken Hand hält er sich das linke Nasenloch zu, an das rechte Nasenloch drückt er eine Papierrolle, deutet an, eine helle Substanz hochzuziehen als wäre es Kokain. Links im Bild: ein Salzstreuer. Ha-ha!
Lustig hin, lustig her, Fakt ist: Der Landespolitiker täuscht eine Straftat vor.
Denn der Konsum von harten Drogen ist in Deutschland verboten!
Das stimmt so nicht: Der reine Konsum von Kokain ist in Deutschland nicht verboten, wohl aber der Besitz, die Herstellung oder der Handel (der Konsum ohne vorherigen Besitz ist natürlich ein wenig knifflig). Und unter “Vortäuschen einer Straftat” versteht man die Anzeige einer nicht begangenen Straftat wider besseres Wissen.
Simon Weiß zeigte sich angesichts der großen “Bild”-Geschichte über seine Person auf Twitter rechtentspannt und wollte die Aktion als “privat betriebene Satire” verstanden wissen. Dem Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses, der bei Bild.de erklärt hatte, dass seines Erachtens “durch das Foto der Konsum von harten Drogen verharmlost wird”, warf Weiß vor, den “Stichwortgeber” für das “Hetzblatt” “Bild” zu “spielen”. Abschließend verwies er auf die Fotografin des Salzbildes, die “Bild” nach eigenen Angaben darauf hingewiesen hatte, dass die Zeitung das Foto nicht ohne weiteres hätte abdrucken dürfen.
Mit Dank an Brainfucker, Markus M. und Sebastian C.
Schon früh hatte Ronzheimer “die Anti-Stimmung vieler Griechen zu spüren” bekommen, aber jetzt ist alles anders:
Ich, der BILD-Reporter, bin seit Ausbruch der Krise vor fast zwei Jahren insgesamt mehrere Monate im Land unterwegs gewesen, schrieb Klartext über die Zustände. BILD wurde fast täglich zum Thema in den griechischen Medien, im populären TV-Talk von Tatiana Stefanidou (Marktanteil 20 %) war ich 45 Minuten lang Gast. Zu Beginn der Krise wurde BILD mit Hass überzogen – heute bekommen wir Zustimmung!
Es folgen sechs überwiegend positive Zuschriften, die Ronzheimer von Griechen bekommen hat.
Oder in den Worten von Paul Ronzheimer:
Lesen Sie, was die Pleite-Griechen jetzt dem BILD-Reporter schreiben.
Die Kommentatoren bei Bild.de waren offenbar nicht ganz so begeistert von Ronzheimers Arbeit:
Aber “Bild” wäre nicht “Bild”, wenn nicht auch beim Abfeiern der eigenen Arbeit noch etwas schief gegangen wäre:
Das stimmte so offenbar nicht, wie Bild.de überraschend klarstellte:
Der Mann ist Journalist und Fotograf. Hier sitzt er im Frühling 2011 in der Nähe der Wohnung von Jörg Kachelmann und wartet auf eine neue Gelegenheit, den Wetter-Moderator vor die Kamera zu bekommen.
Das ist ihm schon einmal auf spektakuläre Weise gelungen. Im April vergangenen Jahres hatte Völkerling von der “Bild am Sonntag” den Auftrag bekommen, den damaligen Untersuchungshäftling Kachelmann in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Mannheim zu zeigen. Er baute seine Foto- und Videoausrüstung in der Küche eines Gebäudes auf, das sich gegenüber der Justizvollzugsanstalt Mannheim befindet. Von dort aus gelang es ihm — bevor er erwischt und der Wohnung verwiesen wurde — Kachelmann beim Hofgang zu fotografieren. Die Aufnahmen wurden von “Bild”, Bild.de, RTL und dem Online-Auftritt des Schweizer “Blick” veröffentlicht.
Nun ist Völkerling ein Mensch, der durchaus anerkennt, dass es so etwas wie Persönlichkeitsrechte gibt. Er meint nicht, dass man einfach jeden fotografieren und die Bilder dann veröffentlichen darf. Das Foto von ihm im Auto, zum Beispiel, hätte Kachelmann nicht über Twitter verbreiten dürfen, meint er.
Das Bild von Kachelmann beim Hofgang hingegen sei zulässig, denn Kachelmann sei außerordentlich prominent und nehme öffentlich zu sozialen Problemen Stellung. Dass er sich als Häftling in einer Justizvollzugsanstalt befunden habe, sei ein Vorgang der Zeitgeschichte, der durch die Fotos dokumentiert werde. Die Bilder ermöglichten es dem Leser, sich über die Unterbringung Kachelmanns eine eigene Meinung zu bilden. Außerdem habe sich Kachelmann selbst hinterher öffentlich zu den Haftumständen geäußert — warum sollte man dann nicht Fotos, die diese Umstände dokumentieren, veröffentlichen dürfen?
Das Landgericht Köln widersprach Völkerlings Vorstellungen vom Persönlichkeitsrecht jetzt gleich doppelt: Er durfte Kachelmann nicht fotografieren. Kachelmann ihn schon.
Das Gericht urteilte, Kachelmann habe sich
in einem abgeschiedenen, jedenfalls der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Raum [befunden] und musste nicht damit rechnen, dass Lichtbilder von ihm angefertigt werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger selbst durch seine Inhaftierung keine Möglichkeit hatte, sich weiter in einen privaten Raum zurückzuziehen. Vielmehr war er aufgrund der Umstände gezwungen, den Gefängnishof zu nutzen. (…) Dieser Bereich ist (…) als Rückzugsbereich anzusehen, der im Rahmen der Bildberichterstattung den Einblicken Dritter grundsätzlich zu entziehen ist, zumal auch der Nachrichtenwert der Lichtbilder von untergeordneter Bedeutung ist.
Das Gericht gab der Klage Kachelmanns statt, Völkerling die Verbreitung der Fotos, die ihn nach seiner Ansicht stigmatisierten und vorverurteilten, zu untersagen. Es bestätigte eine entsprechende einstweilige Verfügung (BILDblog berichtete).
Die Gegenklage, mit der Völkerling Kachelmann das Foto von sich verbieten lassen wollte, wies das Gericht hingegen zurück. Das Bild sei “von zeitgeschichtlichem Interesse”:
Der Umgang der Medien mit Prominenten, insbesondere die Art und Weise wie die Berichterstattung über Prominente und die Bebilderung derselben erfolgt, ist bereits grundsätzlich von gesellschaftlicher Relevanz und von öffentlichem Interesse, da der Umgang miteinander die gesellschaftlichen Grundlagen berührt. Dieses öffentliche Interesse ist im vorliegenden Fall zudem noch dadurch gesteigert, dass die Berichterstattung über den Kläger, das gegen diesen geführte Strafverfahren aber auch der Umgang der Medien hiermit, ein wesentliches Thema der Jahre 2010 und 2011 war und großen öffentlichen Widerhall gefunden hat. Die Öffentlichkeit hat daher ein Interesse daran zu erfahren, wie diese Berichterstattung zustande kommt. Der Beklagte, wenn auch selbst nicht bekannt, war in seiner Eigenschaft als Journalist und Fotograf – wie auch die Klage zeigt – an dieser vielfach persönlichkeitsrechtsverletzenden (Bild-) Berichterstattung über den Kläger beteiligt. Dies und seine Arbeitsweise wird durch die streitgegenständliche zeitnah veröffentlichte Fotografie dokumentiert, die geeignet ist, einen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung über die Umstände von Medienberichterstattung zu erbringen.
Völkerling, der keine Unterlassungserklärung unterschreiben wollte und gegen die einstweilige Verfügung Berufung eingelegt hatte, muss die Kosten des Verfahrens tragen.
Im Juli hatte “Bild” groß über einen Mann berichtet, der ein siebenjähriges Mädchen in Thüringen sexuell missbraucht und getötet hatte. Im Rahmen ihrer Berichterstattung bezeichnete die Zeitung den geständigen mutmaßlichen Täter als “Schwein” und zitierte einen BKA-Beamten mit den Worten “Wenn er sich nicht selbst etwas antut, gäbe es im Knast genügend andere, die das gerne übernehmen würden.”
Wie um es den genügend Anderen im Knast einfacher zu machen, hatte “Bild” den Fall mit einem großen, unverfremdeten Foto des Mannes illustriert (BILDblog berichtete):
Wir haben uns beim Deutschen Presserat über die Berichterstattung von “Bild” und Bild.de beschwert. Wie in solchen Fällen üblich nahm die Abteilung Verlagsrecht der Axel Springer AG dazu Stellung und erklärte unter anderem, es entspräche der ständigen Spruchpraxis des Deutschen Presserats, dass bei vorliegendem Geständnis auch identifizierend über Tatverdächtige berichtet werden dürfe. (Der Presserat merkt dazu an, dass sich das Justiziariat dabei “auf den einzigen Fall mit diesem Tenor” berufe.)
Die Bezeichnung “Schwein” drücke nach Ansicht der Axel Springer AG aus, was der “weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung” über den Mann und die ihm zur Last gelegten Taten denke. Wer das Vertrauen und die Unterlegenheit eines Kindes ausnutze, um es sexuell zu misshandeln und es dann qualvoll umzubringen, sei nach herrschender Ansicht als “Schwein” zu bezeichnen. Auch die Einordnung als “beruflich und privat ein ewiger Verlierer” sei zulässig, da der mutmaßliche Täter sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich sein Leben nicht “auf die Reihe” bekommen habe, wie der Verlag weiter ausführte.
Den Abdruck des Fotos rechtfertigten die Springer-Juristen so:
Schon die Tatsache, dass jemand ein siebenjähriges Mädchen sexuell misshandele und sie danach ermorde, sei so außergewöhnlich, dass damit eine Fotoveröffentlichung gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei. Ein Großteil der deutschen Tagespresse haben über den Fall Mary-Jane berichtet.
Auszüge aus dem Pressekodex:
Ziffer 8 – Persönlichkeitsrechte
Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzelfall in der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte Unbeteiligter verletzt werden. Die Presse achtet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gewährleistet den redaktionellen Datenschutz.
Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen
(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.
Der Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats ließ sich von dieser Begründung nicht beeindrucken und kam zu der Überzeugung, dass die Beiträge von “Bild” und Bild.de die Persönlichkeitsrechte des Abgebildeten verletzten und damit gegen Ziffer 8 in Verbindung mit Richtlinie 8.1 (s. Kasten) des Pressekodex verstoße.
Die identifizierbare Abbildung des Täters ist aus Sicht des Beschwerdeausschusses “ethisch nicht vertretbar”. Ein Tatverdächtiger könne ausnahmsweise abgebildet werden, wenn dies im Interesse der Verbrechensaufklärung liege oder wenn das Verbrechen unter den Augen der Öffentlichkeit begangen werde. Eine solche Ausnahme sei im konkreten Fall aber nicht gegeben, “Bild” hätte auch ohne Abbildung der Person oder mit ausreichend unkenntlich gemachten Bildern umfassend über den Fall berichten können.
Einen Verstoß gegen Ziffer 1 des Pressekodex, die zur Achtung der Menschenwürde mahnt, konnte der Beschwerdeausschuss jedoch nicht feststellen. Durch die Verwendung der Bezeichnung “Schwein” werde deutlich, “dass die Tat von der Redaktion als Schweinerei verstanden werde”. Sie bringe mit “bildhafter Sprache” eine zulässige Bewertung zum Ausdruck.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.
Die letzten Ausführungen sind bemerkenswert, hatte der Presserat den Begriff “Schwein” (anders als etwa den Begriff “Bestie”) oder “Dreckschwein” doch bisher meist als Verletzung der Menschenwürde angesehen.
Insgesamt wertete der Beschwerdeausschuss den Verstoß gegen Ziffer 8 aber als so schwerwiegend, dass er eine “Missbilligung” aussprach (s. Kasten). Nach § 15 Beschwerdeordnung besteht zwar keine Pflicht, Missbilligungen zu veröffentlichen. Als Ausdruck fairer Berichterstattung “empfiehlt” der Beschwerdeausschuss jedoch die Veröffentlichung.
Die Polizei sucht sie mit 200 Mann! Die Ermittler fürchten: Die Kurdin wurde von ihren Geschwistern ermordet, weil sie einen Deutschen liebt!
Arzu wuchs mit fünf Brüdern und vier Schwestern in Detmold (NRW) auf. Die Erziehung war streng muslimisch.
Auch wenn es so schön ins Weltbild von “Bild” und ihren Lesern passen mag: Die junge Frau ist keine Muslima, sondern eine Jesidin. Die Jesiden sind unter den Kurden, die sonst überwiegend muslimisch sind, eine religiöse Minderheit und wurden von Muslimen teilweise als “Teufelsanbeter” bezeichnet.
Die “Neue Westfälische” hat den religiösen Hintergrund der Familie in einem längeren Artikel beleuchtet. Darin heißt es auch, dass Jesiden im Irak, der Türkei oder Syrien, “zum Teil seit Jahrhunderten” verfolgt und unterdrückt würden, jesidische Frauen aber “keineswegs generell” unterdrückt würden. “Bild” glaubt, mit “Die Erziehung war streng muslimisch” alles gesagt zu haben.
Aber vielleicht ist es das, was Kai Diekmann meint, wenn er sagt: “Journalismus ist Komplexitätsreduktion”.
Vergangene Woche hatte die Kölner Rockgruppe BAP ihre anstehende Deutschlandtour wegen einer schweren Erkrankung des Sängers Wolfgang Niedecken absagen müssen. Das Management bat “eindringlich” darum, die Privatsphäre von Wolfgang Niedecken und seiner Familie zu respektieren, woran sich vor allem “Bild” nicht halten wollte (BILDblog berichtete).
Wolfgang Niedecken und seine Familie gingen vor Gericht und erwirkten zwei Einstweilige Verfügungen, die es “Bild” verbieten …
die genaue Krankheit Niedeckens zu benennen,
Details des angeblichen Erkrankungshergangs zu veröffentlichen: Bild und bild.de hatten behauptet, Herr Niedecken sei in seinem Haus zusammengebrochen und von seiner Frau hilflos auf dem Boden liegend aufgefunden worden. Beides ist laut Niedecken falsch.
Details über den angeblichen Gesundheitszustand und Genesungsprozess Niedeckens zu verbreiten,
Details zur Fürsorge der Familie Niedecken für Wolfgang Niedecken zu veröffentlichen,
sowie Fotos zu verbreiten, die die Ehefrau und Kinder Niedeckens bei Krankenbesuchen zeigen.
Die mit dem Fall betraute Rechtsanwaltskanzlei bittet im Namen von Niedecken und seiner Familie darum, die Berichterstattung von “Bild” nicht zu übernehmen.
Das dürfte vor allem die “Rheinische Post” interessieren, die vergangenen Freitag recht ausführlich nacherzählt hatte, was “Bild” zuvor geschrieben hatte. Der rücksichtslose Tratsch kulminierte in dem Satz:
Dem Bericht zufolge verließen Niedeckens Frau Tina sowie die Töchter (…) am Nachmittag mit vom Weinen geröteten Augen die Klinik.