Fangen wir für die Mitarbeiter von Bild.de mal ganz weit vorne an: Der Planet, auf dem wir uns befinden, ist die Erde. Die gibt es, sie existiert bereits.
Nun gehen die Menschen nicht besonders gut mir dieser Erde um. Das zeigt — neben vielen anderen Studien — auch der heute erschienene “Living Planet Report 2016” des “World Wide Fund For Nature”, kurz “WWF”. In der Zusammenfassung heißt es unter anderem:
Die Ergebnisse des Reports 2016 sind alarmierend: Die Menschheit verbraucht 60 Prozent mehr, als die Erde bereithält. Setzt sich dieser Verbrauch ungebremst fort, sind 2030 zwei komplette Planeten nötig, um den Bedarf an Nahrung, Wasser und Energie zu decken.
Zwei Planeten beziehungsweise Erden bräuchte man 2030 theoretisch also. Eine davon gibt es bereits. Wie viele neue Planeten bräuchte die Menschheit dann also rechnerisch bis 2030, liebe Bild.de-Mathematiker?
Klar, in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Handynutzung deutschland- und weltweit massiv verändert. Deswegen hat Bild.de vor wenigen Tagen einen Test veröffentlicht:
Früher sei entscheidend gewesen, wie viel der Nutzer telefoniere. Heute ginge es stattdessen darum, wie hoch sein Datenverbrauch sei.
Erfreulich für Verbraucher: Die Preise pro Dateneinheit sind stark gesunken.
Das ist ja schon mal gut. Aber wie viele Kilo-/Mega-/Gigabyte brauche ich denn nun?
2006 haben Handy-Kunden wesentlich weniger Daten verbraucht, wenige Megabyte reichten meist aus. Doch für heute selbstverständliche Anwendungen wie Video- und Musikstreaming sind Tarife mit 2 Gigabyte Daten das Mindeste.
Okay, ist notiert: mindestens zwei Gigabyte. Und was bietet mir der “Alles Drin-Tarif” von “Bild mobil”?
Man braucht also nur knapp siebenmal den “Bild mobil”-Tarif, um “das Mindeste” zu bekommen. Klingt nach einem klassischen “Bild”-Angebot.
Überall diese Horror-Clowns. Also nicht überall auf den Straßen, sondern überall im Internet: Meldungen über Grusel-Clown-Sichtungen. Videos, in denen sich Passanten gegen Clown-Angriffe wehren. Facebook-Gruppen, die Menschen dazu nutzen, um sich für die nächste Clown-Jagd zu verabreden. Alles ziemlich irre.
Gut, dass es in diesen Zeiten eine Stimme der Vernunft gibt: Bild.de.
Täglich erscheinen neue Videos und Meldungen über Grusel-Clowns in den sozialen Medien. Täglich wächst die Zahl der Nachahmer.
Und:
Auch wenn die amtlich registrierten Fälle derzeit zunehmen, stehen sie in keinem Verhältnis zu dem Hype, der im Internet momentan abläuft.
Und:
Offenbar gibt es unzählige Nachahmungstäter, die durch den US-Clown-Hype angeregt wurden und nun mitmachen wollen, immerhin steht Halloween vor der Tür. Die Jagd auf Likes und Klicks spielt dabei ebenso eine Rolle wie die subtile Lust auf absurde Trends und Hypes aufzuspringen und mitzumachen.
Und:
Die Hysterie um die Horror-Clowns wird vor allem durch das Internet angetrieben.
Ganz genau: die blanke Horror-Clown-Hysterie. Ständig neue Meldungen, die Angst und Schrecken verbreiten und damit eine Stimmung erzeugen, die in keinem Verhältnis mehr steht. Es sind die völlig richtigen Fragen, die Bild.de stellt:
Doch woher kommen diese Meldungen? Wer verfasst sie und wie wahr sind sie überhaupt?
Wer “diese Meldungen” verfasst, liebe Bild.de-Autoren? Wer bei der “Jagd auf Likes und Klicks” auf “absurde Trends und Hypes” aufspringt? Wer die Panik schürt, indem er so tut, als würde in Deutschland ein Clown-Krieg herrschen? Nun ja — Ihr!
Das sind die Artikel, die Bild.de allein gestern und heute zum Thema veröffentlicht hat. Alles wird vermeldet, nichts ist zu nichtig. Die Redaktion hat sogar einen “Live-Ticker” eingerichtet. Bild.de ist damit die beste PR-Agentur für die dämlichen Horror-Clowns und gleichzeitig die beste Rekrutierungsplattform für Menschen, die es für einen tollen Zeitvertreib halten, anderen Menschen einen ziemlichen Schrecken einzujagen. Schließlich, so der Psychologe Jens Hoffmann in einem sueddeutsche.de-Artikel, handele es sich bei den Grusel-Auftritten um Nachahmer, die erstmal auf das neue Phänomen aufmerksam gemacht werden müssen und die dann die Aufmerksamkeit suchen:
“Das ist ein Teufelskreis: Bis vor kurzem wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, sich als Clown zu verkleiden und Menschen zu erschrecken. Inzwischen ist das zum Selbstläufer geworden”, sagt Hoffmann. “Aber natürlich sind nicht alle, die sich als Clowns verkleiden gefährlich. Die Maskierung an Halloween hat ja durchaus Tradition.” Sein Rat: Wir sollten das Ganze nicht bedrohlicher machen als es ist, sondern überlegen, wie wir damit umgehen. Denn: Je mehr Aufmerksamkeit die Horror-Clowns bekommen, desto mehr Nachahmer gibt es.
Schon wieder diese Sachsen. Die lassen aber auch keine Gelegenheit aus, wenn es darum geht, als jenes Bundesland zu gelten, das am weitesten nach rechts ragt — also nicht nur geografisch. Oder wie Bild.de heute in zwei Sätzen zusammenfasst:
Schon wieder Sachsen! Schon wieder ein fremdenfeindlicher Angriff in Dresden.
Am vergangenen Freitag ist ein 27-Jähriger Marokkaner in einer S-Bahn kurz vor der Einfahrt in den Dresdner Hauptbahnhof von mehreren Personen zusammengeschlagen worden. Der Mann musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, couragierte Zeugen konnten noch schlimmere Verletzungen verhindern. Viel mehr ist nicht bekannt. Die zuständige Bundespolizei bittet in einem Aufruf um Hinweise zu den Tätern; selbst die Zeugen, die eingegriffen haben, sind noch unbekannt.
Das Tatgeschehen ist bisher also alles andere als geklärt. In der Pressemitteilung der Bundespolizei steht auch kein Wort zu einem möglichen Motiv der Täter, schlicht weil noch nichts dazu bekannt ist. Auch beianderenMedien kein Wort von einem fremdenfeindlichen Hintergrund der Tat. Nur Bild.de hat die Information, dass es sich um “einen fremdenfeindlichen Angriff” handelt. Natürlich kann es sein, dass Fremdenhass hinter diesem grässlichen Angriff auf den Marokkaner steckt. Doch klar ist bisher nichts. Und wildes Rumgerate und plumpes Sachsen-Bashing hilft kein bisschen.
Im letzten Absatz des Bild.de-Artikels, der gleich am Anfang deutlich sagt, über was für eine Tat man da berichtet, steht übrigens:
Über den Hintergrund der Tat liegen bislang keine Erkenntnisse vor. “Wir ermitteln in alle Richtungen”, sagte ein Polizeisprecher.
Vor gut zwei Stunden kamen die ersten Push- und Eil- und Agenturmeldungen rein: DNA-Spuren des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt sollen am Skelett von Peggy K. entdeckt worden sein:
Verständlicherweise berichteten so gut wie alle Medien und Nachrichtenagenturen. Die Hintergründe sind allerdings noch ziemlich unklar: Möglich, dass Böhnhardt etwas mit dem Tod der Neunjährigen, die 2001 verschwand und deren Knochen im vergangenen Juli von einem Pilzsammler gefunden wurden, zu tun hat. Aber ebenso möglich, dass es sich um einen Zufall handelt. In einer gemeinsamen Presseerklärung erklärten das Polizeipräsidium Oberfranken und die Staatsanwaltschaft Bayreuth, dass es “weiterer umfassender Ermittlungen in alle Richtungen” bedürfe, “die derzeit geführt werden und ganz am Anfang stehen.”
Was in der Pressemitteilung jedenfalls nicht steht: Dass Böhnhardts DNA-Spuren am Skelett von Peggy entdeckt wurden. Ein Sprecher des Polizeipräsidiums Oberfranken bestätigte uns gerade am Telefon, dass Böhnhardts DNA stattdessen bei Peggys Skelett gefunden wurde — sicher immer noch die ganzen Artikel wert, aber eben etwas anders, als ursprünglich von den meisten Medien vermeldet.
Die “dpa” und andere Agenturen haben inzwischen “Berichtigungen” rausgegeben. Und viele, aber nicht alle Onlineportale haben die Überschriften ihrer Artikel angepasst.
Gabor Steingart, der frühere Chefredakteur des “Handelsblatt”, hat ein neues Buch geschrieben. “Weltbeben — Leben im Zeitalter der Überforderung” heißt es, und die “Bild”-Medien veröffentlichen seit Montag exklusiv Auszüge daraus. Im heutigen Teil der Serie geht es um die Gier der Manager. Gestern ging es um die Gier der Banken. Und am Montag schrieb Steingart in “Bild” über die Gier der EU-Beamten:
Der Untertitel verrät es schon: Gabor Steingart glaubt nicht, dass die EU viel mit Demokratie zu tun hat (“Demokratie ist in der EU daher nicht viel mehr als eine dekorative Zutat, die man nicht aus Überzeugung, sondern als Zugeständnis an den Publikumsgeschmack bei den Planungen berücksichtigt hat”). Sein erster Vorwurf: Die EU-Kommission unterstehe keiner parlamentarischen Instanz:
Die EU-Kommission ist mächtiger als jedes Ministerium, was man schon daran erkennt, dass man die 28 Kommissare weder wählen noch abwählen kann.
Nun zählen die Kommissare ja zur Exekutive der Europäischen Union, entsprechen also in etwa einer Regierung. Und Regierungen werden nur selten gewählt. Keine Ministerin und kein Minister ist je in Deutschland gewählt worden, zumindest nicht direkt vom Volk. Gewählt sind die Parlamente, und tatsächlich hat auch das EU-Parlament ein bisschen mitzureden bei der Auswahl und der Abberufung der Kommissare. Es kann zum Beispiel einzelne Kommissare ablehnen, so geschehen bei Alenka Bratušek aus Slowenien. Das EU-Parlament kann auch einen Misstrauensantrag stellen. Wird er angenommen — was bisher freilich noch nie geschehen ist –, muss die Kommission geschlossen zurücktreten. Außerdem wählt das EU-Parlament den Kommissionspräsidenten. Es mag nicht so mächtig sein wie ein nationales Parlament, aber man kann durchaus davon sprechen, dass das Parlament der Europäischen Union die Kommissare kontrolliert.
Der nächste Vorwurf Steingarts: Die vielen Privilegien, die sich die ganzen EU-Beamten gönnen:
Die höchste Besoldungsstufe in Deutschland ist B11 mit 13 430 Euro, im Vergleich zur höchsten Besoldungsstufe AD16 innerhalb der EU mit einer Besoldung von rund 16 000 Euro.
Man könnte an dieser Stelle natürlich erwähnen, dass es nicht bei allen 32.966 Menschen, die bei der Kommission beschäftigt sind (PDF), um Beamte handelt und dass sie nicht alle Besoldungsstufe AD16 genießen. Tatsächlich gibt es beim Grundgehalt eine große Bandbreite, es beginnt bei 2300 Euro für einen neu eingestellten Assistenten. Ob wirklich “Tausende von Mitarbeitern” mehr als die nationalen Minister verdienen, wie Steingart schreibt, müsste man sich für jedes Land einzeln anschauen. Für Deutschland dürfte das jedenfalls nicht stimmen — nur die dienstältesten AD16-Beamten der Kommission verdienen mehr als deutsche Bundesminister.
Für solche Genauigkeiten haben Gabor Steingart und die “Bild”-Medien aber keine Zeit. Sie sind bereits beim nächsten Punkt:
Die soziale Absicherung im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter ist europaweit ohne Beispiel.
Was Steingart nicht sagt: Als Beamter der Kommission (was eben nicht jeder Beschäftigte dort ist) muss man bei den meisten Behandlungen 20 Prozent der Kosten selbst tragen. Außerdem gibt es “bestimmte Höchstgrenzen” bei der Kostenerstattung.
Und dann ist da noch ein EU-Privileg, das Gabor Steingart stört:
Den EU-Parlamentariern in Straßburg steht im Inneren des Parlamentskomplexes ein nur für sie und ihre Mitarbeiter zugänglicher Supermarkt zur Verfügung
Nur: Es gibt diesen Supermarkt nicht. Ein Pressesprecher des Europäischen Parlaments teilte uns auf Anfrage mit:
Das ist Unsinn. Es gibt in Straßburg in den Gebäuden des Europäischen Parlaments keinen Supermarkt. In Brüssel und in Luxemburg gibt es jeweils einen kleinen, aber dort können alle einkaufen, die Zugang zum Parlament haben. Und zwar zu normalen Preisen inklusive Mehrwertsteuer.
Eine Kleinigkeit, natürlich. Aber gerade “im Zeitalter der Überforderung” sollte man beim EU-Bashing nicht schon beim Abbilden solcher Kleinigkeiten überfordert sein. Mit Dank an Moritz D. für den Hinweis!
Nachtrag, 13. Oktober: Gabor Steingart hat gestern Abend noch auf unseren Blogpost reagiert.
Es fing damit an, dass der Branchendienst “turi2” eine kurze Zusammenfassung unseres Blogposts veröffentlicht hat. Steignart antwortete bei Twitter:
“Bild”-Chefin Tanit Koch retweetete und likete fleißig. In einem weiteren Tweet fasste Gabor Steingart dann die “EU-Bestätigung” zusammen:
Im “Bild”-Artikel mit den exklusiven Auszügen aus Steingarts Buch war allerdings gar nicht von Luxemburg die Rede, sondern von Straßburg. Und daran orientierte sich eben unsere Kritik an dieser Passage:
“Vorsicht: Männer fordern, wenn man sich nicht verweigert, jeden Tag Sex. Unbedingt querstellen!”
Oder:
“Zeigen Sie sich niemals nackt vor Ihrem Mann! Das regt nur unnötig sein Verlangen an!”
Oder:
“Ist der Sex nicht zu vermeiden, löschen Sie alle Lichter im Schlafzimmer. Seien Sie still, vielleicht stolpert er auf dem Weg und tut sich weh. So ist das Unglück vielleicht noch abzuwenden.”
Oder:
“Der Akt muss ohne jede Romantik auskommen. Erlauben Sie ihm lediglich, Ihren Schlafrock bis zur Hüfte hochzuschieben. Auch er darf seine Pyjamahose nur vorne aufknöpfen.”
Das sollen “Sex-Tipps aus dem 19. Jahrhundert” sein, auf die Bild.de gestoßen ist und die das Portal “völlig absurd” findet:
Lust und Leidenschaft in der Ehe? Bitte nicht! Und wenn der Sex nicht zu verhindern ist, dann sollte die Ehefrau ihn nur widerwillig vollziehen. Absurd? Nein, Realität im 19. Jahrhundert.
Ruht Smythers gab im Ratgeber “Sex Tips für Husbands and Wives” von 1894 ganz spezielle Liebestipps.
Gut, nun soll der Vorname der Frau nicht “Ruht” gewesen sein, sondern Ruth, aber das ist nicht das eigentliche Problem an dem Artikel von Bild.de. Vielmehr gibt es schon seit langer Zeit große Zweifel daran, dass Smythers’ “Sex Tips for Husbands and Wives” überhaupt echt sind. Im “Wikipedia”-Eintrag zum Buch heißt es, es gebe “ample evidence that the text is a joke or hoax”.
Das Buch gibt es tatsächlich. Nur dürfte es nicht von 1894 stammen. Vor allem bei den historischen Bezügen knirscht es nämlich ziemlich. Direkt zu Beginn des Textes heißt es über die angebliche Autorin:
Ruth Smythers, Beloved wife of The Reverend L.D. Smythers, Pastor of the Arcadian Methodist Church of the Eastern Regional Conference, Published in the year of our Lord 1894, Spiritual Guidance Press, New York City
Zu der Zeit soll es allerdings keine “Eastern Regional Conference” der “Methodist Church” gegeben haben. Und auch keinen “Reverend L.D. Smythers”. Außerdem sollen nirgendwo Hinweise zu finden sein, dass eine “Arcadian Methodist Church” existiert habe. Und die “Spiritual Guidance Press” scheint nie etwas anderes veröffentlicht zu haben als Smythers’ 19.-Jahrhundert-Sex-Ratgeber.
Die zwei “Bild”-Polit-Profis haben sich schon mal festgelegt, wer nicht Kandidat werden wird: Außenminister Frank-Walter Steinmeier (den wolle Angela Merkel nicht) und Bundestagspräsident Norbert Lammert (der habe nicht genug Anhänger).
Aber wer dann? Schuler und Kleine haben da so ihre Infos:
Union und SPD gehen nach BILD-Informationen davon aus, dass Merkel in den nächsten Wochen einen dritten “unparteiischen” Kandidaten präsentieren wird, der für alle GroKo-Delegierten in der Bundesversammlung (setzt sich überwiegend aus Abgeordneten des Bundestages und der Landtage zusammen) wählbar ist. Denkbar wäre z. B. ein hochrangiger, anerkannter Wissenschaftler.
In der SPD heißt es zudem: Wenn Merkel “eine einigermaßen akzeptable Frau” als überhaupt erste Anwärterin fürs Schloss Bellevue präsentiere, könnten zumindest die GenossINNEN kaum Nein sagen.
Das wär’ was — die “überhaupt erste Anwärterin fürs Schloss Bellevue”. Also nach Beate Klarsfeld, die 2012 gegen den derzeitigen Bundespräsidenten Joachim Gauck angetreten ist.
Die zwei dazugehörigen Artikel stammen vom selben Autoren-Duo. Bei Bild.de steht über Otto Retzer:
Anfang des Jahres ließ sich der Regisseur und Schauspieler operieren. “Ich war krank und bin wieder gesund”, sagt Retzer zu BILD.
Und in “Bild”:
TV-Legende Otto Retzer (71, “Ein Schloss am Wörthersee”, “Klinik unter Palmen”, “Das Traumhotel”) kämpft gegen den Krebs.
In beiden Texten — also auch in der Printversion mit ihrer “KREBS!”-Schlagzeile — sagt Retzer, dass der Tumor-Herd weg sei und es keine Metastasen gebe. Er brauche keine Chemotherapie, nur alle drei Monate müsse er zu einem Check.
Die Informationen, die den zwei Artikeln zugrund liegen, sind also fast identisch. Bei “Bild” hatten sie wohl einfach mehr Lust auf eine schockende Schlagzeile.
Wir drücken jedenfalls die Daumen, dass die Bild.de-Mitarbeiter mit ihrer Überschrift näher an der Wahrheit liegt.
Wir haben heute noch einmal bei der Berliner Staatsanwaltschaft nachgefragt, und ihr Sprecher Martin Steltner hat uns bestätigt: Es gibt weiterhin keinen Nachweis dafür, dass der frühere Piraten-Politiker Gerwald Claus-Brunner den Mann, der tot in seiner Wohnung lag, vor dessen Tod sexuell missbraucht hat. An den bisherigen Erkenntnissen dürfte sich auch nichts mehr ändern: Da sich Claus-Brunner später selbst das Leben nahm und gegen Tote nicht ermittelt wird, sind die Ermittlungen inzwischen eingestellt.
“Bild” und Bild.de hatten Gerwald Claus-Brunner ziemlich früh nach Bekanntwerden der Tat zum “Sex-Killer” erklärt, “B.Z.” und “Berliner Kurier” schrieben, dass er sein Opfer missbraucht habe. Inzwischen sprechen auch die “Bild”-Medien nicht mehr von Missbrauch. Aus “Sex-Killer” wurde “Killer-Pirat”. Aber Sex spielt in der “Bild”-Berichterstattung über Gerwald Claus-Brunner weiter eine zentrale Rolle:
In dem Artikel von gestern schreiben Franziska Klemenz und Juliane Weiss über Claus-Brunners Partnersuche im Internet, über seine Chats mit anderen Männern, in denen es um “extreme Sex-Fantasien” gegangen sein soll, über seine sexuellen Vorstellungen. Sie zeigen einen Screenshot seines privaten Profils bei einem Dating-Portal mit persönlichen Angaben, dazu drei Fotos eines Mannes, mit dem Gerwald Claus-Brunner auf diesem Portal befreundet gewesen sein soll. Auf den Bildern sieht man den Mann beim Ablecken eines Stiefels, man sieht ihn “nur mit einem Tiefschutz bekleidet” und in der Badewanne, während er mit Bier überschüttet wird. Dieser Mann hat weder etwas mit dem Tod von Gerwald Claus-Brunner zu tun noch mit dem Mord an dem 29-jährigen Opfer. Die “Bild”-Medien zeigen trotzdem seine Fotos. Sein Gesicht haben sie dabei immerhin verpixelt.
Heute legen “Bild” und Bild.de noch einmal nach:
Es geht um die Bestellung zweier handgefertigter Sex-Spielzeuge. Der Inhaber der von Gerwald Claus-Brunner damit beauftragten Manufaktur sprach offenbar mit “Bild”-Autorin Juliane Weiss. Er lieferte ihr auch Claus-Brunners gezeichneten Sex-Spielzeug-Entwurf, den “Bild” und Bild.de veröffentlichen. In dem Artikel darf er außerdem eine kurze Ferndiagnose zur Psyche seines früheren Kunden abgeben (“‘deutet auf einen Hang zu Masochismus und Selbstzerstörung hin'”).
Wir haben mit dem Medienanwalt Dominik Höch über die Berichterstattung gesprochen. Seine Einschätzung dazu:
Die detaillierten Berichte in der Boulevardpresse gestern und heute über das angebliche Sexualleben des Piraten-Politikers Claus-Brunner stellen sich nach meiner Einschätzung als Verletzung dessen postmortalen Persönlichkeitsrechts dar. Dieses Recht, das die Angehörigen geltend machen können, garantiert auch über den Tod hinaus einen Wert- und Achtungsanspruch gegenüber dem Verstorbenen. Dies folgt aus dem Schutz der Menschenwürde im Grundgesetz. So schrecklich die mutmaßlich von Claus-Brunner begangene Tat ist, dürften detaillierte Berichte über seine sexuellen Vorlieben und bestellte Sex-Spielzeuge die Grenze des Zulässigen überschreiten. Dies gilt jedenfalls, solange die Behörden keinen Hinweis dafür haben, dass es bei dem Tötungsdelikt zuvor Missbrauchshandlungen gegeben hat.
Die Tat von Gerwald Claus-Brunner ist durch nichts zu rechtfertigen. Sie rechtfertigt aber auch nicht diesen massiven Eingriff in seine Intimsphäre.