Wenn Helene Fischer in einer Fernsehshow aufklärt, dass sie auf dem Foto, das auf dem Cover ihres neuen Albums zu sehen ist, sehr wohl eine Unterhose getragen hat, wählt die “Bild”-Redaktion aus den vielen, vielen Helene-Fischer-Fotos, die man bei Agenturen finden kann, eine Unter-den-Rock-guck-Aufnahme zur Illustration der Geschichte (was sicher nichts damit zu tun hat, dass die “Bild”-Redaktion ein paar Tage zuvor eine Gegendarstellung von Fischer auf der Titelseite drucken musste):
(Die Unkenntlichmachung stammt von uns.)
Wenn Helene Fischer bei der “Bild”-Charity-Aktion “Ein Herz für Kinder” mitmacht, wählt die Redaktion das gleiche Foto – allerdings ist das Kleid der Sängerin wie durch Photoshop von Zauberhand an einer entscheidenden Stelle gewachsen:
Vor gut einem Monat ist im “Spiegel” ein großer Artikel über “Die perfekte Bombe” erschienen (online nur mit Abo lesbar, als englische Übersetzung auch ohne Abo lesbar). Die Autoren Uwe Buse, Christoph Reuter und Thore Schröder rekonstruieren darin, wie es im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut zu der riesigen Explosion kommen konnte, die Anfang August mehr als 200 Menschen tötete und weite Teile Beiruts verwüstete.
Der “Spiegel” hat Dokumente zusammengetragen, mit vielen Leuten vor Ort gesprochen und den Weg der 2750 Tonnen Ammoniumnitrat nachgezeichnet, die für die Explosion sorgten. Das Ergebnis dieser Recherche widerspricht Behauptungen der “Bild”-Medien in entscheidenden Punkten.
Zur Erinnerung: Keine 48 Stunden nach der Explosion stand für die “Bild”-Autoren Julian Röpcke und Mohammad Rabie schon fest, wer Schuld hat. Sie hatten ihre grobe Freund-Feind-Schablone über das Thema gehalten – und siehe da:
Das war dann vielleicht doch etwas zu flott formuliert. Bild.de änderte die Überschrift und fügte immerhin ein Fragezeichen hinzu:
Schon einen Tag zuvor schrieben dieselben “Bild”-Autoren über eine mögliche Rolle der Hisbollah:
Unterlagen oder Aussagen, die belegen, dass die Terrormiliz Hisbollah etwas mit dem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen zu tun hatte, sind bis heute nicht bekannt. Röpcke und Rabie ließen sich davon allerdings nicht beeindrucken und schrieben am 6. August:
BILD-Recherchen zeigen: Die Terrororganisation Hisbollah trägt zumindest eine Mitverantwortung, wenn nicht gar die alleinige Schuld an der Tragödie [in Beirut].
Ihr “Verdacht”: Das Ammoniumnitrat sollte gar nicht, wie offiziell angegeben, nach Mosambik geliefert, sondern im Beiruter Hafen “in Hisbollah-Reichweite” gebracht werden. Und es wird …
Es wird noch irrer: Die libanesische Firma “Majid Shammas & CO.”, fast gleichnamig mit der 1967 von Israel eroberten Stadt “Majdal Shams” im Golan, bietet Anfang 2014 an, die knapp 3000 Tonnen Sprengstoff zu kaufen. Die Firma hatte bereits 2013 heimlich Sprengstoff an Syrien-Diktator Assad verkauft – einen der engsten Verbündeten der Hisbollah.
Das ist die Verbindung, die Röpcke und Rabie zwischen dem Ammoniumnitrat und der Hisbollah herstellen und auf der der Schuldspruch der “Bild”-Redaktion fußt: Die Firma “Majid Shammas”, die Hisbollah-nah sein soll:
Unterlagen des Zolls, die BILD vorliegen, enthüllen: Zwei Zolldirektoren drängen im August 2016 und Juni 2017 ein libanesisches Gericht, dem Kauf durch die offenbar der Hisbollah nahe Firma zuzustimmen. Erstens handele es sich um “gefährliche Materialien”, die “unter unangemessenen Außenbedingungen im Lager aufbewahrt” würden. Zweitens könne “die Fracht auch, wie von der Armee empfohlen, an das libanesische Sprengstoff-Unternehmen ‘Majid Shammas’ verkauft werden”.
(Die Episode, in der Julian Röpcke und Mohammad Rabie anfangs den Namen des Unternehmens falsch mit “Majdal Shams” übersetzt und daraus eine ziemlich wilde Spekulationskette entwickelt haben, lassen wir in diesem Beitrag mal komplett weg – man kann sie detailliert hier nachlesen.)
In der ausführlichen “Spiegel”-Rekonstruktion geht es auch um den Vorschlag der libanesischen Armee, das Ammoniumnitrat an eine Sprengstofffirma zu verkaufen:
Die zwischenzeitlich angefragte libanesische Armee teilte mit, sie habe keinen Bedarf an 2750 Tonnen Ammoniumnitrat. Stattdessen schlug sie vor, die Säcke an einen Sprengstoffhändler zu verkaufen. Der lehnte ebenfalls ab: Er sei nicht interessiert an Ammoniumnitrat unklarer Herkunft und Qualität.
Christoph Reuter, einer der “Spiegel”-Autoren, sagte uns auf Nachfrage, dass es sich bei diesem Sprengstoffhändler um die Firma “Majid Shammas” handelt. Es liege ein Schreiben der Firma vor, aus dem klar hervorgehe, dass sie kein Interesse an dem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen habe.
Das heißt: Die angeblich Hisbollah-nahe Firma, die laut “Bild” endlich dafür sorgen sollte, dass das Ammoniumnitrat in die Hände der Hisbollah gelangen kann, wollte das Ammoniumnitrat gar nicht haben und lehnte einen Kauf ab.
Auch die Mutmaßung von Röpcke und Rabie, warum der Richter den Bitten der Zolldirektoren nicht nachkam, basiert auf einer falschen Grundannahme. Die “Bild”-Autoren schrieben:
Doch der Richter bleibt stur. Aus bislang unklaren Gründen antwortet er weder mit Ja noch mit Nein. Ein Insider zu BILD: Dies könnte ein Akt zivilen Ungehorsams gewesen sein, um die Terror-Organisation Hisbollah davon abzuhalten, in Besitz des Sprengstoffs zu kommen.
Im “Spiegel” steht:
Zollchef Shafiq Merhi will die Ladung offenbar nicht entsorgen. Im Gegenteil: Beim Eilgericht beantragt er, das Schiff beschlagnahmen und versteigern zu dürfen. Das Schiff, argumentiert er, könne jederzeit sinken, es stelle eine Gefahr für den Hafen dar.
Da das Eilgericht nur für Notfälle zuständig ist, ordnet der Richter am 27. Juni 2014 lediglich an, die Ladung “an einen sicheren Ort zu bringen” und das Schiff anschließend aus dem Hafenbecken zu ziehen. (…)
Ende Oktober 2014 werden die 2750 Säcke ausgeladen und in die Halle 12 gefahren, eine Art Resterampe für Gefahrgüter aller Art. Zuständig für diese Art von gefährlichen Gütern: Shafiq Merhi, der Zollchef, und Badri Daher, beim Zoll verantwortlich für die Ladungskontrolle.
Dass die beiden nicht wussten, dass das Eilgericht für Eigentumsfragen gar nicht zuständig war, ist unwahrscheinlich. Vermutlich wollten sie nur dokumentieren, wie sie ihrer Verantwortung gerecht wurden – ohne dass sich etwas änderte. Noch drei Jahre lang werden sie denselben Antrag immer wieder an dasselbe Gericht stellen und immer dieselbe Antwort erhalten: dass dieses Gericht die Eigentumsverhältnisse der Ladung nicht klären und folglich auch keinen Verkauf genehmigen könne.
Anders als von “Bild” behauptet, hat das Gericht also durchaus geantwortet: dass es nicht zuständig ist. Es handelte sich damit nicht, wie “Bild” schreibt, um einen “Akt zivilen Ungehorsams”, “um die Terror-Organisation Hisbollah davon abzuhalten, in Besitz des Sprengstoffs zu kommen.”
Im “Spiegel”-Artikel spielt die Hisbollah generell keine Rolle, sie wird nicht einmal erwähnt. Christoph Reuter sagte uns, dass er und seine Kollegen bei der Recherche auf keine nennenswerten Verbindungen zur Miliz gestoßen seien. Und Reuter steht nun wahrlich nicht im Verdacht, rücksichtsvoll mit der Hisbollah umzugehen: Im September erst schrieb er in einem “Spiegel”-Artikel über die düsteren Machenschaften der Terrororganisation.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag hat im Berliner Stadtteil Charlottenburg ein Fußgänger auf mehrere Männer geschossen, die kurz zuvor aus verschiedenen Autos ausgestiegen waren und sich begrüßt hatten. Der Täter konnte flüchten.
In der Nacht von Sonntag auf Montag stellte sich ein 26-Jähriger auf einer Polizeiwache in Hamburg – er habe die Schüsse in Berlin abgefeuert. Der Mann wurde festgenommen. Nach einer Durchsuchung seiner Wohnung hätten sich neue Anhaltspunkte ergeben, so die Hamburger Polizei. Man gehe inzwischen von einem rassistischen Motiv aus. Der Polizeiliche Staatsschutz habe die Ermittlungen übernommen.
Als von all dem noch überhaupt nichts klar war, erschien am Sonntagmorgen bei Bild.de dieser Artikel:
Schüsse? Berlin? Das kann doch nur …
In der Nacht zu Sonntag soll es in Berlin erneut zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Clans gekommen sein.
… schreibt Bild.de, ohne irgendwelche Belege dafür zu liefern. In der offiziellen Polizeimeldung steht nichts von Clans. Eine Polizeisprecherin konnte die Information auf rbb-Nachfrage auch nicht bestätigen:
Informationen, nach denen es sich bei den Wageninsassen um Angehörige eines bekannten Clans handelte, konnte die Polizeisprecherin nicht bestätigen.
Aber Bild.de bringt die Clans ins Spiel. Am Montag (der rbb veröffentlichte die Aussage der Polizeisprecherin am Sonntagmittag) berichtete auch die “Bild”-Bundesausgabe groß:
Und wieder: die Clans:
Es war 0.45 Uhr in der Nacht zu Sonntag in einer Parallelstraße des Nobel-Kaufhauses, als Schüsse fielen: Ein Unbekannter feuert auf mehrere Männer!
Ist es wieder eine Tat im berüchtigten Berliner Clan-Milieu?
Am späten Montagnachmittag vermeldete dann auch Bild.de:
Der mutmaßliche Schütze vom KaDeWe hat sich nun nach BILD-Informationen bei der Hamburger Polizei gestellt.
Offiziell sagt die Polizei Hamburg nichts – Berlin ist zuständig. Aber nach BILD-Informationen hat sich Montagnacht gegen 0.30 Uhr ein Mann an der Davidwache gemeldet und behauptet, er habe etwas mit den Schüssen auf das Kaufhaus des Westens (KaDeWe) in Berlin zu tun. (…)
Aus Ermittlerkreisen erfuhr BILD, dass ein ausländerfeindlicher Hintergrund der Tat geprüft wird.
Da war das falsche Clan-Gerücht, das die “Bild”-Redaktion verbreitet hat, schon über 30 Stunden in der Welt. Und das ist es immer noch: Der Bild.de-Artikel, der am Sonntagmorgen Clans als falsche Tatverdächtige nannte, ist unverändert online, ohne irgendeinen Hinweis zu den aktuellen Entwicklungen. In der “Bild”-Zeitung gibt es heute nur in einzelnen Regionalausgaben einen kleinen Artikel, der vom geständigen Täter mit dem möglichen rassistischen Motiv berichtet. Im Bild.de-Artikel zur Festnahme des Mannes ist ein Video eingebettet, das mit der Überschrift “WIEDER CLAN-KRIEG IN BERLIN? Schüsse am KaDeWe in Charlottenburg” versehen ist. Es scheint der “Bild”-Redaktion nicht besonders wichtig zu sein, die falschen Spekulationen aus der Welt zu schaffen.
Andere Medien haben die “Bild”-Mutmaßungen einfach abgeschrieben. t-online.de meldete beispielsweise: “Laut der ‘Bild’ könnte es sich um einen Clinch zwischen Clans handeln. Die Insassen der Fahrzeuge sollen laut Informationen der Zeitung einer arabischen Großfamilie angehören.” (t-online.de hat die Stelle inzwischen geändert.) Und der “Tagesspiegel” schreibt: “Mehrere Berliner Medien spekulieren, dass es sich erneut um einen Streit im Clanmilieu gehandelt haben könnte.” Die Redaktionen tun so, als wäre “Bild” eine seriöse Quelle.
Was haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fußball-Bundesligaklubs FC Bayern München, Borussia Dortmund, Borussia Mönchengladbach, RB Leipzig und Hertha BSC gemeinsam? Ihre Familien sind seit dieser Woche in Gefahr – jedenfalls nach Logik von Julian Reichelt.
Als das Medienmagazin “kress” 2017 Reichelts Gehalt schätzen wollte, sagte der “Bild”-Chef, dass er das nicht wolle, weil – so schrieb “kress” – “eine Schätzung seines Gehalts das Risiko finanziell motivierter Straftaten gegen seine Familie erhöhen würde”.
Doch was laut Julian Reichelt für Julian Reichelt gilt, muss aus Sicht von Julian Reichelt ja nicht für andere Menschen gelten. Und so gibt es seit Montag eine neue “Bild”-Serie: “DIE GEHEIMEN GEHÄLTER DER BUNDESLIGA”. Bisher waren die fünf oben genannten Klubs dran. “Bild” verrät, was die Team-Managerin des FC Bayern München oder der Stadionsprecher von Hertha BSC oder der Jugendkoordinator des BVB oder der Busfahrer von RB Leipzig oder der Chef-Greenkeeper von Borussia Mönchengladbach pro Monat “nach BILD-Informationen” so verdienen:
Bei den übrigen 13 Bundesligaklubs gibt es noch reichlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren Familien die “Bild”-Redaktion nach Logik ihres eigenen Chefs in den kommenden Tagen in Gefahr bringen kann.
Wen Julian Reichelt nach Julian-Reichelt-Logik sonst noch in Gefahr gebracht haben könnte:
“Bild”-Briefonkel Franz Josef Wagner hat einen Helden: Bundestrainer Jogi Löw. Und Helden …
Helden schicken wir nicht einfach so in die Pampa.
Soll heißen: Wagner findet, dass Löw nach der 0:6-Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Spanien bitte, bitte nicht zurücktreten soll. In seinem heutigen Brief schreibt er:
Lieber Jogi Löw,
viele erwarten, dass Sie aufgeben nach dem Spanien-Debakel. Bitte geben Sie nicht auf! Was für ein Leben wäre es für Sie, wenn Sie aufgeben? Ein Leben der Leere. Ein Einsamkeitsgrauen. Ein Leben von Gott und den Menschen verlassen.
Ein Mensch, der aufgibt, ist verloren. Ich bin verliebt in Sieger, noch mehr verliebt bin ich in Nicht-Aufgeber.
Wenn Jogi Löw sich nicht aufgibt, dann kann vielleicht die Nationalelf wieder siegen.
Jogi Löw war ein Held. Helden schicken wir nicht einfach so in die Pampa.
Herzlichst
Franz Josef Wagner
Vor gut einem Monat, am 13. Oktober, schreibt Franz Josef Wagner ebenfalls an Jogi Löw. Auch da bestimmt im Ton, inhaltlich aber etwas anders:
Wie schnell das Licht erlischt, das einmal brannte. Jogi Löw, der Weltmeister. Jogi Löw, die Stilikone im weißen, taillierten Hemd. Populärer war kein Bundestrainer.
Leider, lieber Joachim Löw, gibt es keinen Ewigkeitsruhm. Ihre Mannschaft spielt schlecht. Sie stellen schlecht auf, sie wechseln schlecht aus. (…)
Wenn mich jemand fragt, ob ich einen neuen Bundestrainer will, dann sage ich Ja.
Die Verbindung Wagner-Löw ist wie eine Achterbahnfahrt. Im März 2019 schreibt Wagner an den Nationaltrainer und über die Spieler Serge Gnabry und Leroy Sané:
Warum hat Jogi Löw die jungen tollen Spieler nicht mit zur WM 2018 nach Russland genommen?
Sein Fehler war, dass er nicht an die Jugend glaubte. Jogi Löw ist 59. Es fällt ihm schwer, alt zu sein.
Die Spieler haben ihm seine Jugend wiedergegeben. Sie sind sein zweiter Frühling.
… was aus rein biologischer Sicht ein kleines Wunder darstellt, schließlich war der Zweite-Frühling-Jogi laut Wagner eigentlich schon längst “verwelkt”. Vier Monate vor der Löw-Auferstehung, im November 2018, schreibt der “Bild”-Kolumnist:
Lieber Joachim (Jogi) Löw,
ich muss die Natur bemühen, um Sie zu beschreiben. Es gibt die Zeit, wo die Natur erblüht, und die Zeit, wo sie verwelkt. Sie befinden sich in der Zeit des Welkens. (…)
Was mich wundert, ist, dass Sie immer noch Bundestrainer sind. Eigentlich geben nach Misserfolgen Männer, Frauen ihr Amt auf. Ich mag Joachim Löw persönlich sehr. Er ist ein netter, unterhaltsamer Mann. Aber er ist eine verwelkte Blume.
Wagners aktuelle Löw-Verteidigung ist auch deshalb eine überraschende Wendung (gut, bei Wagner vielleicht nicht soganzüberraschend), weil seine Ansage im Oktober 2018 nicht klarer hätte sein können:
Jogi Löw, das ist das Ende des Traums. Wachen Sie auf und treten Sie zurück.
Und auch im Juni 2018 klang es bei Wagner so, als könnte man Helden doch “einfach so in die Pampa” schicken:
Lieber Jogi Löw,
wenn ich jetzt schreibe, dass Sie zurücktreten sollen, dann ist mein Motiv nicht Rache, Vergeltung. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie Sie jetzt weitermachen wollen. Sie sind ein geschlagener Mann.
In der Nacht von Montag auf Dienstag sendete “Bild” eine mehr als vierstündige “Bild live”-Sondersendung zum Terroranschlag in der Wiener Innenstadt. Wie schon in den “Bild TV”-Sendungen zu den Anschlägen in Halle und in Hanau zeigte sich auch dieses Mal das grundlegende Problem: Wenn eine Redaktion, die seit Jahren und Jahrzehnten vor allem dadurch auffällt, dass sie schlecht Recherchiertes und Falsches in Umlauf bringt, sich in eine Live-Situation begibt, in der sie unbedingt etwas zeigen und erzählen muss, kann dabei nur eine mittlere Katastrophe rauskommen. Dann werden falsche Gerüchte weiterverbreitet, es wird der Polizeieinsatz gefährdet und Angst gemacht.
Ein paar Beobachtungen von uns.
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Es dauert nicht mal eine halbe Stunde, da verbreitet “Bild” schon das erste falsche Gerücht. Moderatorin Nele Würzbach sagt:
Jetzt in diesem Moment erreichen uns auch Nachrichten, dass es an einem dritten Ort in Wien zu einer Geiselnahme gekommen sein soll. Wie passt das jetzt in diesen Amoklauf oder diesen Terrorangriff herein? Erst die Schüsse, jetzt also auch eine Geiselnahme.
Der zugeschaltete Terror-Experte Nicolas Stockhammer antwortet:
Es ist mit sehr, sehr großer Wahrscheinlichkeit in einen Zusammenhang zu setzen. Diese Geiselnahme soll sich (…) in einem Schnellrestaurant soll es zu dieser Geiselnahme gekommen sein. Also aus meiner Sicht gibt es einen unmittelbaren Konnex.
Der immer noch zugeschaltete Terror-Experte Stockhammer erzählt:
Aktuell habe ich gerade gehört, dass in der U-Bahnlinie U3 es zu einer Schießerei gekommen sein soll. Und sich das Geschehen da ins U-Bahnnetz verlagert haben soll.
Die Redaktion spielt in Dauerschleife verschiedene Videos aus Wien ein. Sie alle scheinen mit Smartphones aufgenommen worden zu sein und aus den Sozialen Netzwerken zu stammen. Eines zeigt eine Szene vor einem Restaurant: Eine Person liegt in einer Blutlache. Anfangs ist diese Stelle noch verpixelt, später nimmt die “Bild”-Redaktion diese Verpixelung raus.
(Unkenntlichmachung durch uns.)
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“Bild”-Vizechefredakteur Paul Ronzheimer, der fast die gesamte Sendung über im “Bild”-Studio steht, sagt:
Also wir müssen noch mal zusammenfassen: Es gab also einen Terroranschlag in der Nähe der Synagoge. Wir wissen immer noch nicht, wie viele Menschen getötet oder verletz worden sind. Gleichzeitig gibt es eine Geiselnahme in einem Hotel.
Die Geiselnahme nun also ganz ohne “soll” und inzwischen “in einem Hotel” statt in einem Schnellrestaurant. Ob Ronzheimer dieselbe Geiselnahme meint wie vorhin seine Kollegin Nele Würzbach, ist nicht klar. So oder so: Die Geiselnahme hat es nicht gegeben.
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Wieder ist Terrorexperte Stockhammer dran. Er sagt:
Es gab zwischenzeitlich Schüsse im Stadtpark. (…) Und man spricht auch davon, dass sich einer der Täter selbst in die Luft gesprengt haben soll.
Nun ist “Bild”-Reporterin Dora Varro zugeschaltet, die vor dem Anschlag zufällig in der Wiener Innenstadt unterwegs war. Sie stellt noch mal alles Falsche als gesicherte Fakten dar:
Es ist klar, dass es eine Geiselnahme gab. Es ist klar, dass es Schüsse beziehungsweise eine Gewalttat in einer U-Bahn gekommen ist. Und mehr wissen wir ehrlicher Weise noch nicht. Also noch nicht, was ich dir als Fakten nennen kann. Das sind die Sachen, die wir ganz genau wissen.
Nichts davon stimmt.
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Obwohl die Wiener Polizei bei Twitter eindringlich darumbittet, keine Videoaufnahmen zu verbreiten, weil dies “sowohl Einsatzkräfte als auch [die] Zivilbevölkerung” gefährde, verbreitet die “Bild”-Redaktion Videoaufnahmen – von Menschen, die in Panik wegrennen, vom Täter, der in einer Gasse um sich schießt, von einem Polizisten, der angeschossen wird, und auch von weiteren Polizisten im Einsatz: wie sie über einen Kreisverkehr rennen, wie sie ein Lokal durchsuchen, wie sie die Innenstadt absichern.
Auf der Bild.de-Startseite heißt es kurze Zeit später:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
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Moderatorin Würzbach zitiert aus österreichischen Medien:
Und, ganz wichtig: Sie sagen, dass ein Polizist angeschossen worden ist, und er soll seinen Verletzungen erlegen worden sein. Außerdem berichtet die Krone-Zeitung davon, dass sich einer der Täter selbst in die Luft gesprengt hat. Dies alles aber Medienberichte, noch nichts davon ist bestätigt.
“Bild”-Vize Ronzheimer verbreitet die nicht-existente Geiselnahme noch mal als gesichertes Wissen:
Neben dem Tatort im ersten Bezirk in Wien, in der Nähe der Synagoge, gibt es eine Geiselnahme, die sich in der Nähe im Hilton-Hotel abspielen soll. Das ist das, was wir wissen.
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Moderatorin Nele Würzbach sagt:
Österreichischen Medienberichten zufolge soll sich ein Täter in die Luft gesprengt haben, ein Täter soll bereits festgenommen worden sein.
Es wurde kein Täter festgenommen.
Inzwischen ist Terror-Experte Peter Neumann zugeschaltet. Moderatorin Würzbach fragt ihn:
Manche Medienberichte aus Österreich sprechen von bis zu zehn Tätern. Ist das, kann man das als normal überhaupt bezeichnen in so einer Situation, aber zehn Täter, für was spricht das?
Terror-Experte Neumann spekuliert ein bisschen über Tote:
Ich gehe eher davon aus, dass wahrscheinlich eher so zehn Tote, ein Dutzend Tote mindestens zu beklagen sein werden.
Es wurden vier Menschen vom Attentäter getötet, und dazu der Attentäter durch die Polizei.
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Die “Bild”-Redaktion spielt ein Video ein, auf dem mehrere Menschen vor Polizisten auf Motorrädern weglaufen und die Polizisten auch teilweise angreifen:
Dieses Video stammt nicht aus Wien, sondern aus Barcelona.
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Noch einmal Neumann:
Ich glaube, dass dieser Anschlag von längerer Hand vorbereitet war. Das geht nicht so einfach, dass man innerhalb von wenigen Tagen so eine koordinierte Kampagne auf die Beine stellt.
Es handelte sich nur um einen Täter, es gab also keine “koordinierte Kampagne”.
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Für Moderatorin Würzbach sieht es offenbar so aus, als würde sich der Terror eine Schneise durch Europa schlagen, vom Süden Richtung Norden, mit dem Ziel Deutschland:
Herr Neumann, wenn Sie jetzt sagen: Jetzt kommt die Welle, wie groß muss die Sorge jetzt auch hier in Deutschland sein, dass hier eines der nächsten Ziele dann ist? Wir haben es jetzt in Nizza, in Wien, diese Anschläge kommen immer näher.
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Für Zwischentöne ist bei Bild.de kein Platz. Terror-Experte Peter Neumann sagt bei “Bild live”:
Sollte es sich allerdings als richtig herausstellen, muss man sagen: Das wäre eine absolut unglaubliche Situation, dass es sechs Tatorte gleichzeitig gibt in der Wiener Innenstadt, dass Täter mit Langwaffen herumlaufen. Das wäre wahrscheinlich die größte und koordinierteste terroristische Attacke seit Brüssel und Paris 2015/16. Aber, wie gesagt: großes Aber.
“Sollte”, Konjunktiv, Kojunktiv, “großes Aber”. Im Bild.de-Liveticker wird daraus:
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Nun ist Reporterin Antonia Rados per Telefon zugeschaltet. Auch sie befindet sich in Wien. Und sagt:
Was wir gesehen haben, das ist ja ein ähnliches Szenario, was wir hier in Wien zumindest bisher sehen können, wie der Anschlag auf “Charlie Hebdo”. Wenn Sie sich daran erinnern: Da war auch ein Kommando, das eben losgestürmt ist und dann geschossen hat und versucht hat, dann zu entkommen. Und dass es damals auch eine Geiselnahme ja auch gegeben hat. Gleichzeitig auch immer wieder mehrere parallele Terroranschläge. Sowas ähnliches als Muster scheint es hier heute Abend in der österreichischen Hauptstadt abzulaufen.
In Wien gab es kein “Kommando”. Es gab keine Terroristen, die geflüchtet sind. Es gab keine Geiselnahme. Und es gab auch keine “parallelen Terroranschläge”.
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Gerade mal acht Minuten, nachdem sie all diese unverifizierten Gerüchte verbreitet hat, sagt Antonia Rados:
Wir müssen da im Moment extrem aufpassen, weil natürlich in diesen angespannten Situationen sich alle möglichen Gerüchte verbreiten. Also alles muss auch vorsichtig berichtet werden und dann auch verifiziert werden.
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Immer wieder ist an diesem Abend ein Video zu sehen, auf dem der Attentäter auf einen Passanten schießt. Zuerst in einer Version, in der das Opfer komplett verpixelt ist. Später ist die Unkenntlichmachung verschwunden. Erst in dem Moment, in dem geschossen wird, erscheint eine digitale dunkle Fläche über dem Mann, wodurch man ihn nicht mehr sehen kann. Wiederum etwas später sendet die “Bild”-Redaktion weitere Aufnahmen, in denen sich Polizisten um den am Boden liegenden Mann kümmern. Dort ist er nicht mehr verpixelt, es gibt auch keine dunkle Fläche, die ihn vor den Blicken der “Bild live”-Zuschauer schützt.
(Unkenntlichmachung durch uns.)
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“Bild”-Chefreporter Frank Schneider beschreibt diese Videoaufnahmen. Aus dem Vorgehen des Täters schließt er:
Was wiederum doch ein Stück weit zeigt, dass es dort offenbar eine Ausbildung gegeben hat, denn das ist das typische vorgehen, was Dschihadisten in ihrer Ausbildung in arabischen Ländern bekommen.
Der Täter soll zwar den Plan gehabt haben, sich dem sogenannten “Islamischen Staat” in Syrien anzuschließen. Er ist allerdings in der Türkei daran gehindert und wieder nach Österreich geschickt worden. Eine “Ausbildung in arabischen Ländern” hat er nicht bekommen.
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Jetzt ist Hans Mahr im “Bild”-Studio angekommen. Mahr war früher unter anderem RTL-Chefredakteur und soll nun als Berater für “Bild TV” tätig sein. Er erzählt:
Eine Frau, die ich persönlich kenne, hat mir berichtet: Sie war in einem Lokal (…), da wurden die Leute alle in den ersten Stock raufbefördert und dort evakuiert. Von dort haben sie zuschauen können, wie vier der Terroristen, wir haben vorher den Film gesehen, vier der Terroristen entwaffnet wurden und festgenommen wurde.
Die Personen, die auf einem Video zu sehen sind, das auch “Bild live” zeigt, sind nicht “vier der Terroristen” – es gab nur einen, und der wurde zuvor von der Polizei erschossen. Sie dürften auch mit den Anschlag nichts zu tun haben und dementsprechend nicht “entwaffnet” worden sein. Jedenfalls werden sie später bei Pressekonferenzen der österreichischen Regierung nicht weiter erwähnt.
***
Antonia Rados ist wieder zugeschaltet. Sie verbreitet das nächste falsche Gerücht:
[Die Polizisten] sagten, ich müsste sofort hier weg. Das war in der Nähe vom Stadtpark übrigens, wo sich angeblich, das ist jedenfalls eine der Informationen, die wir haben, wo sich angeblich eine Gruppe von Terroristen verstecken soll.
Diese “Gruppe von Terroristen” gab es nicht.
Moderatorin Nele Würzbach nimmt sich noch einmal die vermeintliche Festnahme von vier vermeintlichen Tätern vor:
Aber auch eine Festnahme. Herr Mahr, Sie hatten davon auch berichtet, dass Augenzeugen das dann gesehen haben. Vier Männer sieht man da, die dann oberkörperfrei festgenommen worden sind. Das alles spricht also dafür, dass es tatsächlich mehr als eine Handvoll von Tätern insgesamt dann gab. Wir sehen hier also dieses Video einer Verhaftung, konnten auch mit einer Augenzeugin sprechen, die das Ganze gesehen hat. Hier, vier Männer, einer der Angreifer soll tot sein, mindestens einer noch immer auf freiem Fuß. Vielleicht sogar zwei. Das heißt, wir sprechen von sechs, sieben Tätern mindestens, die jetzt hier in Wien also diesen Terrorangriff vollzogen haben.
Es gab nur einen Täter.
***
Ex-RTL-Mann Hans Mahr hat “nicht nur Gerüchte” im Angebot, “sondern fast schon Mitteilungen”:
Es gibt in der Zwischenzeit, wir haben hier gerade neue Meldungen bekommen. Nicht nur Gerüchte, sondern fast schon Mitteilungen, dass es bis zu sieben Tote sein könnten, die dieses Attentat gefordert haben kann.
Es waren nicht sieben Tote.
***
Und noch einmal Hans Mahr:
Man darf auch nicht vergessen: Das Erstaunliche bei diesem Attentat war, dass es so viele Täter, so viele, die miteinander verbunden waren, hier in Aktion getreten sind. Bei all den anderen Anschlägen waren es ein, zwei, drei Täter. Diesmal sprechen wir von minimum sechs Tätern, manche Berichte sogar von zehn.
Auch das: komplett falsch.
***
Natürlich könnte man jetzt sagen: Ja, gut, hinterher ist man immer schlauer. Und exakt das ist der Punkt: Weil man vorher meist ziemlich ahnungslos und damit ziemlich anfällig für falsche Gerüchte ist, sind “Bild live”-Sondersendungen zu “Breaking News” so gefährlich.
Speak the names of those who were lost rather than the man who took them. He may seek notoriety, but we in New Zealand will give him nothing, not even his name.
Arderns Idee, dem Täter nicht zu der von ihm gewünschten Bekanntheit zu verhelfen und ihm nicht mal den Gefallen zu tun, seinen Namen zu nennen, passt gut zu den Erkenntnissen vieler Wissenschaftlerinnen und Experten. Diese warnen seit Jahren vor einer ausführlichen, mitunter sogar heroisierenden Berichterstattung, die den Attentäter in den Mittelpunkt stellt. Im schlimmsten Fall könnte daraus eine Inspiration und ein Ansporn für Nachahmer entstehen. Jennifer Johnston und Andrew Joy von der Western New Mexiko University schreiben beispielsweise in einer Studie:
Die Identifikation mit früheren Tätern, die durch die extensive Berichterstattung berühmt geworden sind, einschließlich der Veröffentlichung ihrer Namen, Gesichter, Lebensgeschichten und Hintergründe, löst einen mächtigeren Schub in Richtung Gewalt aus als psychische Erkrankungen oder der Zugang zu Waffen.
Die daraus abzuleitende Empfehlung für alle Medien: Diese “Identifikation mit früheren Tätern” gar nicht erst möglich machen.
Die “Bild”-Redaktion verfolgt einen anderen Ansatz: Sie baut Attentätern regelmäßig Denkmäler. So auch jetzt, nach dem islamistischen Terroranschlag in Wien am Montagabend, bei dem vier Menschen getötet und 23 weitere verletzt wurden. Etwas kleiner auf der Titelseite und groß im Blatt zeigt die “Bild”-Zeitung heute ein unverpixeltes Foto des Täters:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)
Auf dem Foto posiert der Mann mit den Waffen, mit denen er später in Wien seine Opfer tötete. Es soll aus einem Video stammen, das der sogenannte “Islamische Staat” nach der Tat veröffentlicht hat. “Bild” nutzt dieses Propagandamaterial ungefiltert für die eigene Berichterstattung und zeigt den Mann so, wie er sich selbst und wie die Terrororganisation ihn zeigen wollte. Auch auf der Bild.de-Startseite war das Foto an prominenter Stelle zu sehen:
“Bild” macht sich zum Handlager der Terroristen. Die Redaktion nennt zusätzlich auch den kompletten Vor- und Nachnamen des Täters. Und sendet mit diesem PR-Gesamtpaket allen potentiellen Nachahmern die Botschaft: Solltet ihr einen Anschlag verüben, sorgen wir auf unseren Titel- und Startseiten dafür, dass ihr berühmt werdet.
Als Ende September täglich zwischen 1.500 und 2.500 Corona-Neuinfektionen in Deutschland gemeldet wurden, und Angela Merkel vorrechnete, dass, wenn es so weitergeht wie in den vorangegangenen Monaten, daraus bis Weihnachten 19.200 tägliche Neuinfektionen werden könnten, präsentierte die “Bild”-Redaktion die dazugehörige “WAHRHEIT”:
Die Kanzlerin sei mit “ihrer Explosions-Rechnung” “im Alarmmodus”, so das Urteil der drei “Bild”-Autoren. Das sollte ein Experte bestätigen: Klaus-Dieter Zastrow, von “Bild” meist als “Hygiene-Papst” präsentiert und bekannt von so nüchternen und ausgewogenen Analysen wie “Totales Versagen der Behörden” oder “Hektischer Aktionismus und Hysterie”. Zu Merkels Weihnachtsrechnung zitiert “Bild” Zastrow so:
Hygiene-Experte Prof. Dr. Klaus-Dieter Zastrow sagte BILD, die Zahl von “19 200 Neuinfektionen pro Tag für Weihnachten zu berechnen, ist im besten Fall Kaffeesatzleserei”. Das habe “nichts mit der Realität zu tun. Wir haben im Schnitt weniger als 2000 Neuinfektionen pro Tag. So eine Horrorzahl zu nennen, ist purer Alarmismus.”
Der Vorwurf des “Bild”-Artikels: Völlig unnötig entwirft Angela Merkel ein Horrorszenario. Einer der “Bild”-Autoren, der stellvertretende Chefredakteur Paul Ronzheimer, betonte bei Twitter auch noch einmal extra, dass “Experten” ja sagen, dass das alles “purer Alarmismus” von der Kanzlerin sei:
Und dann ging es los: 4.000 tägliche Neuinfektionen, 5.500, 7.000, 8.000, 10.000. Den rasanten Anstieg konnte man auch auf der Bild.de-Startseite beobachten:
Am vergangenen Samstag dann also 19.059 Neuinfektionen. Gut zwei Monate vor Weihnachten. Und was macht die “Bild”-Redaktion? Sieht sie ein, dass Angela Merkels “Explosions-Rechnung” doch nicht aus einem “Alarmmodus” heraus entstanden ist? Schreibt sie kleinlaut, dass ihr Experten-Papst ziemlichen Murks erzählt hat? Natürlich nicht. Stattdessen hat die Bundeskanzlerin mal wieder alles falsch gemacht:
19 200 Neuinfektionen am Tag prognostizierte Kanzlerin Angela Merkel (66, CDU) Ende September für die Weihnachtsfeiertage – nur einen Monat später ist klar: Das Kanzlerinnen-Orakel lag meilenweit daneben.
Die Überschrift hat die Redaktion inzwischen still und heimlich in “Darum ist die Merkel-Prognose 2 Monate früher eingetreten” geändert. Der Teaser vor der “Bild plus”-Paywall mit dem “Kanzlerinnen-Orakel”, das “meilenweit danebenlag”, ist unverändert online.
Was die “Sorge vieler Bürger” ist, das weiß die “Bild”-Redaktion:
Die Sorge vieler Bürger: Werde ich nun von einem Nachbarn verpfiffen, weil ich mich für fünf Sekunden nicht an die Mindestabstandsregel gehalten habe oder er durch sein Fenster beobachtet hat, wie meine Freundin oder mein Freund bei mir auf dem Sofa sitzt?
Das fand auch “Bild”-Chef Julian Reichelt im Juni, nachdem Holger Kliem, der bei der TSG Hoffenheim die Öffentlichkeitsarbeit leitet, ein Foto twitterte, auf dem ein “Bild”-Reporter (von Kliem unkenntlich gemacht) auf der Tribüne des Fußballbundesligisten arbeitet und dabei seinen Mund-Nasen-Schutz zu einem Kinn-Kinn-Schutz umfunktioniert hat. Reichelt empörte sich über die Denunziation:
Kurzum: Wenn “Bild” eins nicht leiden kann, dann ist es das um sich greifende Corona-Denunziantentum.
So sieht heute die Titelseite der “Bild”-Zeitung aus:
Und auch bei Bild.de ist der am Ohr baumelnde Mund-Nasen-Schutz des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet großes Aufregerthema auf der Startseite:
Laschets Staatskanzlei sagt zu dem Foto, der Politiker habe die Maske nur “für einen kurzzeitigen Moment zum Verzehr von Speisen und Getränken” abgenommen – was man bei Bild.de allerdings nur erfährt, wenn man ein “Bild plus”-Abo hat.