Wir stellen uns das Gespräch in der “B.Z.”-Redaktionskonferenz von gestern ungefähr so vor …
Ein sabbernder Redakteur:
GEIL! NE ALTE IM BIKINI!
Die Praktikantin (ist gerade ihre erste Woche — daher noch nicht so drin im “B.Z.”-Flow):
Aber … Wie alt ist die noch mal?
Alle sabbernden Redakteure:
EGAL, IM BIKINI! OLÉ! OLÉ!
Sektgläser klirren.
Denn wenn man weiblich ist und 15 Jahre alt, ist man vor “Springer”-Redakteuren nicht mehr sicher. Im Januar schrieben die schwitzenden Bild.de-Mitarbeiter über die “heißen Kurven” von Natasha Obama, die 15-jährige Tochter des früheren US-Präsidenten Barack Obama. Für die heutige Ausgabe haben sich ihre jugendfreundlichen Kollegen von der “B.Z.” das nächsten Mädchen geschnappt und sie einer genauen Beobachtung unterzogen: Kaia Gerber, Tochter von Cindy Crawford, ebenfalls 15 Jahre alt.
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Über eine halbe Seite groß zeigt die “B.Z.” eine Minderjährige im Bikini, vermutlich aufgenommen durch einen Paparazzo. Im Text und in den Bildunterschriften geht es immer wieder um die Figur und das Aussehen des Mädchens:
Gleicher Haarschnitt, gleiches Styling — und die gleichen guten Gene.
Und während die Supermodel-Mama am Strand von St. Barts immer noch eine wahnsinnig gute Figur macht, wird Teenie-Tochter Kaia so langsam zur immer ernsteren Konkurrenz
Immer noch ziemlich modelmäßig: Cindy Crawford (51) (…) Ganz die Mama: Kaia (15) im Bikini
Wäre Kaia Gerber nicht 15 Jahre alt, sondern 18 oder 20 oder wiealtauchimmer, wäre das der normale körperbewertende Mist, den sich Frauen, die irgendwo im Bikini fotografiert werden, leider andauernd anhören müssen von Blättern wie der “B.Z.”. Aber sie ist 15. Und bei 15-Jährigen scheinen “Springer”-Redaktionen nicht einmal davor zurückzuschrecken, sie als “sexy” zu beurteilen:
Ganz zu Beginn des Artikels, noch im ersten Absatz, schreibt die “B.Z.”:
Dabei ist die eine 51 — und die andere gerade einmal 15.
Hier noch einmal, weil man es nicht oft genug sagen kann: Völlig richtig, liebe “B.Z.”-Bikini-Glotzer — dieses Mädchen ist “gerade einmal 15.”
Wie beruhigend es doch ist, dass deutsche Verlage so engagiert gegen Falschmeldungen vorgehen.
“Gruner + Jahr” zum Beispiel erklärte erst vor zwei Tagen, dass “Recherche und das Verifizieren von Fakten” zu den “Kernkompetenzen eines Verlages” gehören — und dass man sich schon auf Gespräche mit Facebook freue, um “sinnvoll daran mitwirken [zu] können, dass sich Falschmeldungen nicht weiter verbreiten”.
Der Regisseur der Serie, Eyup Dirlik, sagte gegenüber Turkish-Fottball.com: “Wir werden in der ersten Aprilwoche anfangen zu drehen. Die Serie handelt von der Notlage einer Flüchtlingsfamilie und davon, was sie durchmachen muss. Es werden viele Schauspieler und Schauspielerinnen aus der ganzen Welt auftreten, darunter Cristiano Ronaldo, Angelina Jolie und [die libanesische Sängerin] Nancy Ajram.”
(Übersetzung von uns.)
Ronaldos Sprecher allerdings erklärte kurz darauf: stimmtnicht. “La noticia es falsa.”
In deutschen Medien aber, wo hartnäckige Recherche und das Verifizieren von Fakten zu den Kernkompetenzen gehören, haben solche Falschmeldungen natürlich keine Cha…
Vor gut drei Monaten hatten wir darüber berichtet, dass “Bild” zwei Gegendarstellungen von Herbert Grönemeyer abdrucken musste. Eine auf der Titelseite …
… und eine auf Seite 4:
Beide bezogen sich auf “Bild”-Berichte zur Hochzeit von Grönemeyer. In der zweiten Gegendarstellung hieß es:
Gegendarstellung
In der “Bild”-Zeitung vom 12. Mai 2016 schreiben Sie auf Seite 4 in einem Artikel mit der Überschrift “Männer heiraten heimlich“:
“Am vergangenen Wochenende sollen der Sänger und seine Lebensgefährtin (…) Gäste zur Trauung auf das Anwesen ‘La Fabrique’ (…) im südfranzösischen Ort Saint-Rémy-de-Provence eingeladen haben.”
Hierzu stelle ich fest: Es hat keine Trauung zwischen mir und meiner Lebensgefährtin auf dem Anwesen ‘La Fabrique’ stattgefunden.
Berlin, den 12. Mai 2016
Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Schertz für Herbert Grönemeyer
Am vergangenen Samstag entdeckten wir bei unserer täglichen “Bild”-Studie auf Seite 4 eine Gegendarstellung von Herbert Grönemeyer:
Ist doch dieselbe wie vom 27. August? Inhaltlich schon. Optisch aber nicht. Und deswegen musste “Bild” die Gegendarstellung ein zweites Mal drucken.
Gerichte machen ziemlich genaue Vorgaben, wo und in welcher Form Gegendarstellungen erscheinen müssen — die sogenannten drucktechnischen Anordnungen. Da “Bild” einen Teil der Überschrift des ursprünglichen Grönemeyer-Artikels vom Mai in Großbuchstaben veröffentlichte, hätte die Redaktion schon beim ersten Abdruck das Wort “Gegendarstellung” ebenfalls in Großbuchstaben setzen müssen. Hinzu kommt die Vorgabe des Gerichts, wie das Wort “Gegendarstellung” farblich gestaltet sein muss: weiße Buchstaben, auf anthrazitfarbenem Hintergrund. Auch das hatte “Bild” beim ersten Mal missachtet. Damit die Gegendarstellung auch ordentlich lesbar ist, hatten die Richter Leerzeilen zwischen den Absätzen vorgeschrieben. Auch die finden sich erst in der zweiten Version.
Die “B.Z.” hatte im Mai übrigens genauso falsch über die Hochzeit von Herbert Grönemeyer berichtet wie “Bild”. Sie musste im Juni eine Gegendarstellung drucken:
Und auch die “B.Z.” hat es nicht hinbekommen, sie so zu veröffentlichen, dass sie den Anweisungen des Gerichts entspricht. Es fehlten zum Beispiel vorgeschriebene Fettungen. Außerdem hatte die “B.Z.” den Namen “Herbert Grönemeyer” am Ende des Textes zu vergessen. Also, im September der erneute Abdruck:
Nun zwar mit Fettungen und Namen. Allerdings immer noch ohne die vorgeschriebene optische Hervorhebung des Wortes “Gegendarstellung”. Am vergangenen Samstag, nach zwei Fehlversuchen, hat es die Redaktion dann tatsächlich geschafft, die Gegendarstellung von Herbert Grönemeyer wie gefordert zu veröffentlichen:
Und so mussten zwei Springer-Blätter zwei Gegendarstellungen in den vergangenen sechs Monaten fünfmal abdrucken. Vermutlich ein einzigartiger Vorgang.
Gerwald Claus-Brunner, der frühere Politiker der Piratenpartei, den Polizisten am Montag tot in seiner Berliner Wohnung gefunden haben, soll zuvor einen anderen Mann und dann sich selbst getötet haben.
Die heutige Titelseite der “Bild”-Zeitung:
Heute bei Bild.de:
Die “B.Z.” titelt und schreibt:
Die Ermittler vermuten, dass das Opfer vor der Tat sexuell missbraucht wurde.
Und beim “Berliner Kurier” heißt es:
Der Suizid des bekannten Politikers schockte Berlin. Entsetzlicher, was Ermittler jetzt herausfanden: Claus-Brunner tötete und missbrauchte vorher einen Mann (29), fuhr die Leiche sogar noch quer durch Berlin.
Wir haben bei der zuständigen Berliner Staatsanwaltschaft nachgefragt, ob es derzeit Hinweise dafür gibt, dass das Opfer, wie von den Medien behauptet, vor dem Tod missbraucht wurde. Ihr Sprecher Martin Steltner sagte uns, dass er die Berichterstattung nicht bestätigen könne: “Wir haben keine Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch.”
Mit Dank an Fabian S. und Sascha K. für die Hinweise!
Vor knapp acht Jahren erschütterte ein Skandal die “Junge Union” — und die „Bild“-Zeitung.
Mitten im Machtkampf der CDU platzt jetzt eine weitere Bombe! Mindestens drei CDU-Mitglieder sollen in einen Hakenkreuz-Skandal verwickelt sein. Jetzt tauchte ein geheimes Videoband bei der CDU-Zentrale im Abgeordnetenhaus auf. (…)
Der Film zeigt die CDU-Mitglieder während einer Fahrt vor zwei Jahren: Sie haben ihre Oberkörper mit Hakenkreuzen beschmiert, schreien wüste Nazi-Parolen!
Das mit den beschmierten Oberkörpern ist, wie wir schon damals festgestellt haben, völliger Quatsch. „Bild“ hatte das Video vor der Veröffentlichung des Artikels gar nicht gesehen.
Dummen Nazi-Mist gibt es in dem Video, das 2005 auf einer Reise der “Schüler Union” in Riga entstanden ist, aber tatsächlich: Es zeigt mehrere junge, sichtlich alkoholisierte Männer, die sich zum Zeitvertreib wie in einer Talk-Show Fragen stellen. Irgendwann hält einer der Anwesenden kurz einen Sticker mit Hakenkreuz-Motiv vors Objektiv, den er an einem Rigaer Souvenirstand erworben hat; ein anderer findet es sichtlich lustig, mit rechten Parolen wie der Bekämpfung „des jüdischen Bolschewismus“ zu provozieren.
2008 wurde das Video dann der Berliner CDU zugespielt, kurz darauf berichteten „Bild“ und andere Medien (etwa der „Tagesspiegel“), es gab große Aufregung — und Konsequenzen: Die beteiligten Nachwuchspolitiker legten ihre Ämter nieder, traten aus der Partei aus, einer erstattete Selbstanzeige und bekam eine zweijährige Ämtersperre. Ihre politische Karriere war vorerst hinüber, vom öffentlichen Ansehen ganz zu schweigen.
Damit war das Thema erledigt, die Politiker hatten ihre Strafe bekommen.
Und wenn Sie sich fragen, warum wir heute, elf Jahre nach der Entstehung des Videos und acht Jahre nach der Berichterstattung darüber, plötzlich wieder damit ankommen — nun ja:
Das ist die „B.Z.“ von heute. Der Skandal ist der von damals.
Von mit Hakenkreuzen beschmierten Oberkörpern ist immerhin nichts mehr zu lesen, denn diesmal haben die Springer-Leute sich das Video sogar angeschaut, bevor sie darüber geschrieben haben, was im Grunde auch die einzige Neuigkeit ist.
Aber weil die beteiligten JU-Mitglieder inzwischen wieder in der Partei aktiv sind, haut die „B.Z.“ ihnen den Skandal einfach noch mal um die Ohren.
Das Blatt erwähnt zwar, dass die Sache elf Jahre her ist (die Männer kommen auch alle zu Wort und erklären, dass sie diesen „sehr, sehr dummen Fehler“ immer noch “zutiefst bereuen”), doch es klingt alles so, als käme die Sache erst jetzt an die Öffentlichkeit:
Sie sind in jungen Jahren schon weit gekommen: (…). Jetzt holt die drei Freunde mit CDU-Parteibuch die Vergangenheit des Jahres 2005 ein: ein Video von einer Reise der Schüler-Union nach Riga.
Jetzt ist ein Video aufgetaucht, das drei Unions-Fraktionäre bei einer Partei-Reise 2005 nach Riga zeigt: Hakenkreuze, Nazi-Parolen, Hass.
Das Video, das der B.Z. exklusiv vorliegt, kennen bislang nur führende CDU-Funktionäre.
Dass sie schon vor acht Jahren darüber geschrieben hat und damals noch von beschmierten Oberkörpern die Rede war, erwähnt die Redaktion — Überraschung: nicht.
Wenn Ermittlungsbehörden neue Zahlen über politisch motivierte Straftaten herausgeben, ist die “Bild”-Zeitung immer gleich zur Stelle, was meist darauf hinausläuft, dass sie die bösen Linken wortreich verteufelt und die Rechten irgendwieausdenAugenverliert.
Auch an der Studie über linke Gewalt, die der Verfassungsschutz in Berlin jetzt veröffentlicht hat, war “Bild” natürlich sofort dran und hat dabei ein äußerst amüsantes Detail entdeckt:
Der Verfassungsschutz hat in einer Studie, die BILD exklusiv vorliegt, den linken Durchschnitts-Täter ermittelt: Er ist männlich, 21 bis 24 Jahre alt, hat trotz mittlerer Reife meist keinen Job – und 92 Prozent von ihnen wohnen noch bei Mutti.
Hihihi!
Auch die “B.Z.” gluckst:
Diese Studie liegt allerdings nicht nur den Springer-Blättern vor, sondern jedem, der Internetzugang hat (PDF).
Dort kann man dann auch nachlesen, dass es 1. nur um Tatverdächtige geht und dass 2. die erhobenen “Daten zur Wohnsituation, Schulbildung und zum Beruf” auf “freiwilligen, hier nicht nachprüfbaren Daten” beruhen – und nur sehr wenige Verdächtige überhaupt Angaben gemacht haben. Die Zahlen sind also keineswegs repräsentativ. In der Studie heißt es:
Aufgrund der geringen Fallzahl, die hier zur Verfügung stand (insgesamt lagen nur zu 65 Tatverdächtigen valide Aussagen über ihre Wohnsituation vor), sind diese Angaben jedoch in keiner Weise repräsentativ und auch nicht mit den Ergebnissen der Vorgängerstudie vergleichbar.
Im November 2014 gab es übrigens eine ähnliche Studie zu rechter Gewalt in Berlin (auch dort inkl. Bei-Mutti-Wohn-Quote). In der “Bild”-Zeitung stand darüber — nichts.
Da hatte die “B.Z.” für ihre Titelseite am Mittwoch aber eine freche Idee:
(Unkenntlichmachung des Gesichts im Original, zusätzliche Unkenntlichmachung von uns.)
Die angekündigte Gegendarstellung gab es dann auf Seite 6:
Gegendarstellung
In der B.Z. vom 22.05.2015 verbreiten Sie auf S. 6 unter der Überschrift “Berlins Unterwelt trauert um ihre Paten” unter Bezugnahme auf einen Polizeibeamten: “… Mohammed A. sei ein bekannter Zuhälter von der Kurfürstenstraße.“
Hierzu stelle ich fest: Ich bin kein Zuhälter und war es auch noch nie.
Berlin, den 30.05.2015 – Mohamad Aref
Der “B.Z.”-Clou mit der Titelseite: Die Rechtsanwältin und ihren Mandanten ärgern, gleichzeitig aber der Verpflichtung zum Abdruck der Gegendarstellung nachkommen. Oder wie Chefredakteur Peter Huth in der heutigen Ausgabe schreibt:
Die ungewöhnliche Titelseite vom 16. September sollte einerseits den rechtlichen Anspruch von Aref erfüllen, ihn aber auch in Relation zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft bringen. Wenn wir das nicht getan hätten, wären wir schlechte Journalisten.
Und das sind sie bei der “B.Z.” ja nicht. Aber: Huth schreibt zu der Titelseitenaktion auch:
Das gab (erwartungsgemäß) Ärger — daher musste die Gegendarstellung in der gestrigen Ausgabe noch einmal gedruckt werden.
Also, gestern in der “B.Z.” — dieses Mal mit der “Anmerkung der Redaktion”, dass Aref recht habe:
Gegendarstellung
In der B.Z. vom 22.05.2015 verbreiten Sie auf S. 6 unter der Überschrift “Berlins Unterwelt trauert um ihre Paten” unter Bezugnahme auf einen Polizeibeamten: “… Mohammed A. sei ein bekannter Zuhälter von der Kurfürstenstraße.“
Hierzu stelle ich fest: Ich bin kein Zuhälter und war es auch noch nie.
Berlin, den 30.05.2015 – Mohamad Aref – Anmerkung der Redaktion: Mohamad Aref hat recht.
Damit war die Gegendarstellung abgehakt — die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Denn auf der Titelseite am Mittwoch war der Abgebildete nicht nur “KEIN Zuhälter”, sondern auch nicht Mohamad Aref.
Daher sieht die heutige “B.Z.”-Ausgabe so aus:
Und Chefredakteur Peter Huth muss erklären:
WIR HABEN EINEN FEHLER GEMACHT.
Ein Leser und dann auch Frau Bezzenberger wiesen uns darauf hin, dass die Person, die wir gezeigt haben, nicht Aref ist.
Wie konnte das passieren?
Die BZ erreichen täglich Hunderte Fotos von Fotografen. Diese zu archivieren, erfordert eine hohes Maß an Konzentration und Arbeit. Dabei kam es zu einer Verwechslung, für die wir uns bei der gezeigten Person ausdrücklich entschuldigen wollen. Der auf der Titelseite gezeigte Mann hat nichts mit der aktuellen Anklage gegen Mohamad Aref und den Vorwürfen zu tun.
Gestern forderte uns Rechtsanwältin Bezzenberger im Namen ihres Mandanten auf, den Sachverhalt mit der Fotoverwechslung richtigzustellen. Dieser Bitte kommen wir natürlich nach.
Prof. Dr. Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und beschäftigt sich seit Jahren mit der Berichterstattung über Suizide. Wir haben uns anlässlich der Berichterstattung über den Tod von Ben Wettervogel mit ihm unterhalten.
BILDblog: Herr Professor Hegerl, aktuell wird sehr intensiv über den Suizid von Ben Wettervogel berichtet. Vor allem die Boulevardmedien haben in den letzten Tagen große Titelgeschichten veröffentlicht, in denen der Fall sehr ausführlich und ergreifend beschrieben wird. Wie bewerten Sie solche Berichte?
Hegerl: Wenn sehr emotionalisierend berichtet wird, besteht immer das Risiko von Nachahmungssuiziden. Vor allem, wenn der Suizid als nachvollziehbare Reaktion auf schwierige Lebensumstände dargestellt wird. Das ist der Suizid aber in den allermeisten Fällen nicht, sondern er ist Folge einer meist nicht optimal behandelten psychiatrischen Erkrankung. Wenn jemand eine Depression kriegt, dann hat er immer das Gefühl, das Leben sei aussichtslos – auch wenn es ihm von außen betrachtet gar nicht schlecht geht. Und wenn jemand Probleme hat, dann nimmt er diese Probleme in der Depression noch hundertfach vergrößert wahr und hat das Gefühl, da komme ich nie wieder raus. Deswegen darf man die Gründe, die zunächst auf der Hand zu liegen scheinen, nicht überbewerten.
Über die Motive von Ben Wettervogel wird zurzeit auch viel spekuliert. Wir wollen nicht näher darauf eingehen, aber ganz allgemein gesagt halten die Medien seine schweren Lebensumstände für das Entscheidende.
Das wird oft angenommen. Weil jeder Mensch irgendwo Probleme hat, hat man immer auch gleich die Gründe: Wenn jemand alt ist, sind es die Erkrankungen, die angeblich schuld sind, bei anderen ist es die Entlassung oder was auch immer. Das sind aber meistens gar nicht die entscheidenden Faktoren, sondern eben die Depression, die dazu führt, dass die bestehenden Probleme als unüberwindbar und riesengroß wahrgenommen werden.
Wenn nun ein Betroffener solche Berichte liest, kann es also passieren, dass sie etwas in ihm auslösen, es also zu Nachahmungen kommt?
Ja, das ist der sogenannte Werther-Effekt. Er bezieht sich auf den Roman „Die Leiden des jungen Werther“ von Goethe, in dem sich ein junger Mann das Leben nimmt. In der Folge gab es andere junge Männer, die das gelesen und sich dann in gleicher Weise das Leben genommen haben. Seitdem ist dieses Phänomen des Nachahmungssuizids bekannt.
Sie haben dieses Phänomen am Fall von Robert Enke ausführlicher untersucht, über dessen Suizid ja auch massiv berichtet wurde. Was haben Sie herausgefunden?
Es kam zu Nachahmungstaten, und zwar nicht nur in den ersten Tagen nach der Berichterstattung (die Zahl der Suizide auf Bahnstrecken verdoppelte sich schlagartig, Anm. d. R.), sondern auch längerfristig. Und das zeigt eben, wie wichtig es ist, dass man sehr verantwortungsvoll berichtet.
Man kann also sagen, Journalisten können im schlimmsten Fall dazu beitragen, dass sich Menschen das Leben nehmen?
Das kann man in jedem Fall sagen, ja.
Wie sollten sich die Medien denn am besten verhalten?
Sie sollten zum Beispiel den Suizid als Ausdruck einer Depression oder anderen psychiatrischen Erkrankung darstellen und nicht als nachvollziehbare Reaktion, auch auf Hilfsangebote hinweisen. Es gibt einen Leitfaden für Journalisten, in dem wir solche Empfehlungen ausführlich darstellen.
***
Diesen Leitfaden kann man sich hier herunterladen. Auch die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention hat Empfehlungen für Journalisten herausgegeben (hier), ebenso wie die Weltgesundheitsorganisation (hier).
Sie alle sind sich einig, dass die Gefahr von Nachahmungstaten sinkt, wenn:
der Suizid als Folge einer Erkrankung (z.B. Depression) dargestellt wird, die erfolgreich hätte behandelt werden können
alternative Problemlösungen und Fälle von Krisenbewältigung aufgezeigt werden
Expertenmeinungen eingeholt werden
Hintergrundinformation zum Krankheitsbild Depression gegeben werden
über die Arbeit professioneller Helfer berichtet wird
Helplines und Hilfekontakte angegeben werden (etwa die Nummern der Telefonseelsorge — 0800-1110111 oder 0800-1110222 –, unter denen sich Betroffene rund um die Uhr kostenfrei und anonym beraten lassen können)
Erfreulicherweise gibt es immer mehr Medien, die sich zumindest an einige dieser Punkte halten (wobei es in manchen Fällen doch sehr alibimäßig wirkt, wenn wenige Zeilen über dem Kasten mit den Hotlines dann doch die genaue Suizid-Methode beschrieben wird).
Denn die Gefahr von Nachahmungstaten steigt, wenn:
durch Titelgeschichten, Schlagzeilen und Fotos Aufmerksamkeit erregt wird
die Begriffe Selbstmord, Suizid und Freitod in der Überschrift vorkommen
die Suizid-Methode detailliert beschrieben wird
ein leicht zugänglicher Ort beschrieben oder gar mystifiziert wird
das soziale Umfeld, die Identität und die Motive ergreifend beschrieben werden
der Suizid positiv bewertet, glorifiziert oder romantisiert wird
der Suizid als völlig unverständlich oder als einziger Ausweg bezeichnet wird
das Opfer eine prominente Person ist
Mindestens sechs dieser acht Punkte treffen auf die aktuelle Berichterstattung der „Bild“-Zeitung zu. Auch die „B.Z.“, der „Berliner Kurier“ und der „Express“ berichten ohne große Rücksicht, stark emotionalisiert und detailliert. Und selbst seriösere Medien wie die „Berliner Zeitung“, der „Kölner Stadt-Anzeiger“ oder die „Augsburger Allgemeine“ beschreiben die Suizid-Methode ganz genau.
Im November vergangenen Jahres wurde bei Berlin ein 14-jähriges Mädchen mit mehreren Messerstichen getötet. Der mutmaßliche Täter wurde kurz darauf festgenommen.
“Bild” berichtete damals — wie gewohnt — ohne Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte des Opfers …
… oder die des Verdächtigen:
(Alle Unkenntlichmachungen von uns.)
Die Fotos stammten offensichtlich von Facebook. Dem Verdächtigen spendierte “Bild” zwar einen schwarzen Augenbalken, nannte aber gleichzeitig so viele persönliche Informationen, dass sich an der Identifizierbarkeit kaum etwas geändert haben dürfte.
Beim Durchstöbern des Facebook-Profils des jungen Mannes stießen die Reporter aber noch auf etwas anderes, woraufhin die Berichterstattung (auch in der “B.Z.”) plötzlich eine ganz neue Stoßrichtung bekam — sie fanden nämlich: Manga-Zeichnungen.
“Bild” beschrieb den mutmaßlichen Täter fortan konsequent als “Manga-Killer” oder “Manga-Freak”, als “dicklichen” “Außenseiter”, als “Einzelgänger” und “versponnenen Sonderling”, der in einer “Wahn-Welt” lebe, wie man ja schon an den “brutalen Manga-Bildern” erkennen könne.
Die Freunde, die [M.] (20) zu Hause in seinem Jugendzimmer besuchen, haben riesige Kulleraugen und Kindchen-Gesichter. Sie kämpfen mit Schwertern, es geht um Leidenschaft und Tod. […]
In seiner Internet-Welt ist [M.] so wie seine Manga-Helden. Gut aussehend, groß, bewundert. Verlässt er das Haus seiner Eltern in einer Kleinstadt im [Kreis XY], schrumpft er wieder zum Außenseiter.
Und auf der anderen Seite das “bildschöne und intelligente” Mädchen, das “Kulleraugen-Girl”, das ausgesehen habe, “wie aus der Fantasie-Welt” des mutmaßlichen Täters entsprungen.
Vor allem auf diese angebliche “auffällige Ähnlichkeit” zwischen den Zeichnungen und dem mutmaßlichen Täter bzw. dem Opfer wiesen die Boulevardmedien immer wieder hin:
Das passt natürlich hervorragend: Der “Manga-Killer”, der sein Opfer wenige Wochen vor der Tat als “düstere Comic-Figur” zeichnet — mit Wunden, die später auch bei dem getöteten Mädchen gefunden werden.
Doch so sehr es sich die Medien auch wünschen: Es stimmt nicht. Die Bilder, die den Täter und das Opfer zeigen sollen, stammen aus dem Kunstportal “deviantArt” und wurden von einer Frau gezeichnet, die mit der Tat nicht das Geringste zu tun hat. Die sogenannten Fan-Arts zeigen auch keine realen Personen, sondern Figuren aus den Mangas “Black Rock Shooter” und “Naruto”.
Die Zeichnerin beschwerte sich schon im November darüber, dass ihre Bilder ohne Genehmigung abgedruckt und als “persönliche Mord-Motive” missbraucht worden waren. Sie erstattete auch Strafanzeige gegen “Bild” und “B.Z.”, doch die Staatsanwaltschaft Berlin stellte das Ermittlungsverfahren ein.
In ihrer Begründung verwies die Staasanwaltschaft auf §50 UrhG, wonach in der “Berichterstattung über Tagesereignisse” auch die Vervielfältigung von Werken erlaubt ist, “die im Verlauf dieser Ereignisse wahrnehmbar werden”. Diese Vorschrift trage, so die Staatsanwaltschaft, dem Umstand Rechnung, dass “die rechtzeitige Einholung bei aktuellen Ereignissen kaum möglich” sei und gestatte daher “ausnahmsweise eine zustimmungsfreie Nutzung”.
Eine seltsame Begründung. Denn die Zeichnungen wurden auch mehrere Tage nach dem Mord noch gedruckt; die Redaktionen hätten also durchaus Zeit gehabt, den Ursprung der Bilder zu klären und eine Zustimmung einzuholen. Dass sie später nicht mehr behaupteten, der Mann habe die Figuren selbst gezeichnet, sondern lediglich schrieben, er habe sie “auf sein Internet-Profil geladen”, deutet außerdem darauf hin, dass sie sich im Klaren darüber waren, dass er nicht der Urheber der Zeichnungen ist. Und: Die Staatsanwaltschaft schreibt selbst, dass mit “Berichterstattung” die “sachliche Schilderung tatsächlicher Geschehnisse” gemeint sei. Was an “Die schwarze Kunst des Mädchen-Killers” sachlich sein soll, schreibt sie allerdings nicht.
Wie dem auch sei: Spätestens seit Ende November — damals wandte sich die Mutter der Zeichnerin mit einer Beschwerde direkt an “Bild” und “B.Z.” — wissen die Redaktionen, dass die Zeichnungen nicht vom mutmaßlichen Täter stammen. Sie wissen auch, dass die angeblichen Ähnlichkeiten höchstens Zufall sein können. Und dass die Zeichnerin nicht mit der Verwendung ihrer Bilder einverstanden ist.
Tatsächlich hat die “B.Z.” die Zeichnungen mittlerweile aus ihren Online-Artikeln gelöscht, und auch als vor wenigen Tagen der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter begann, verzichtete die “B.Z.” auf den Abdruck der Manga-Bilder.
Die “Bild am Sonntag” nicht.
Diese Zeichnung hat der Täter auf sein Internet-Profil geladen. Die Manga-Figur sieht [dem Opfer] ähnlich, zeigt ein zierliches Mädchen mit traurigem Blick. Auf seinem Bauch hat es zwei lange Narben
Darüber, dass die Zeichnung von jemand anderem stammt und die Figur — inklusive Narben — ein gängiges Motiv in der Manga-Szene ist, verliert die Redaktion mal wieder: kein Wort.
Erinnern Sie sich an die große Petition, die “Bild” und “B.Z.” gestartet hatten, um die “Russen-Panzer” loszuwerden, die am sowjetischen Ehrenmal in der Nähe des Brandenburger Tors stehen?
Die “B.Z.” hatte dafür unter anderem auf ihrer Titelseite getrommelt; die “Bild”-Zeitung hatte ihre Seite 2 freigeräumt — und am nächsten Tag an derselben Stelle stolz über die “große Zustimmung” berichtet, die die Aktion erfahren habe: “Viele Bundesbürger” hätten unterschrieben.
Stolz wurden prominente und nicht-prominente Unterstützer gezeigt (Wolfgang Joop! Erika Steinbach!). “Bundesliga-Legende” Charly Körbel unterschrieb, weil er “solche Aktionen mit Panzern in Deutschland nicht sehen will”. Die “B.Z.” präsentierte den “ersten” (von mutmaßlich vielen noch zu erwartenden) Bundestags-Abgeordneten, der unterschrieben hatte.
Das war, wie gesagt, Mitte April. Was ist daraus eigentlich geworden? Wie groß wurde die Welle der Zustimmung noch? Welche Wucht entwickelt eine Petition, die in größter Aufmachung und inklusive eines fertigen Vordrucks von zwei Zeitungen angeschoben wird, die gemeinsam angeblich über 12 Millionen Leser täglich erreichen?
4101 Menschen haben die Petition von “Bild” und “B.Z.” unterschrieben. 118 online, 3983 offline. Die Mitzeichnungsfrist endete schon am 21. Mai.
Ausweislich ihrer Online-Archive haben beide Blätter über den Fortgang und Ausgang ihrer Petition kein Wort mehr verloren.
Auf meine Nachfrage (für die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung”), warum das so war und wie man sich die geringe Resonanz auf eine so große Aktion erklärt, antwortete die Pressestelle, mit Bitte um Verständnis:
Alles, was wir über eigene Aktionen zu berichten haben, verhandeln wir auch im eigenen Blatt.
Wenn eine politische Leser-Aktion misslingt, hat sie für “Bild” und “B.Z.” also einfach nicht stattgefunden. Aber immerhin hat man nun mal eine Ahnung, was “Bild” meint, wenn “Bild” von “vielen Bundesbürgern” und “großer Zustimmung” spricht. Konkret also: weniger als 0,35 Promille der Leserschaft.