In der vergangenen Nacht deutscher Zeit gewannen die Boston Bruins im entscheidenden siebten Spiel der Playoff-Finals nach einem 4:0-Sieg gegen die Vancouver Canucks den Stanley Cup, die legendäre Trophäe der nordamerikanischen Eishockeyliga NHL.
Da jeder Spieler der Siegermannschaft den Pokal anschließend für einen Tag mit nach hause nehmen darf und Dennis Seidenberg als zweiter deutscher Spieler den Stanley Cup gewonnen hat, freut sich sueddeutsche.de:
Schon im Vorspann des Artikels heißt es:
Dank Bruins-Spieler Dennis Seidenberg gastiert damit im Sommer der Stanley Cup in Schwenningen – und kommt zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder nach Deutschland.
Der Text selbst schließt dann mit den Worten:
Uwe Krupp hatte 1996 mit der Colorado Avalanche als erster Deutscher die begehrteste Eishockey-Trophäe der Welt gewonnen und den Stanley Cup anschließend für einen Tag nach Deutschland gebracht.
Diese Behauptung ist offensichtlich falsch.
In einem Interview mit dem Internetmagazin Hockeyweb antwortete Uwe Krupp vor zwei Wochen auf die Frage, was er denn mit dem Pokal, den er 1996 und 2002 gewonnen hatte, gemacht hätte:
1996 hatten wir eine Party bei mir zu Hause in Colorado, so dass Freunde und Familie den Pokal bewundern konnten. Das zweite Mal wohnte ich bereits in Montana. Da der Cup noch nie dort war, habe ich ihn in Seeley Lake ausstellen lassen. Er wurde in der Stadt präsentiert, unter anderem in der Turnhalle. Doch im Nachhinein tut es mir leid, den Cup nie nach Deutschland mitgenommen zu haben. Aber das können ja jetzt Christian [Ehrhoff, Vancouver Canucks] oder Dennis nachholen.
Sollte Dennis Seidenberg den Stanley Cup also tatsächlich in seine Schwarzwälder Heimat bringen, wäre der Pokal damit zum ersten Mal auf deutschem Boden.
Mit Dank an Michael W.
Nachtrag, 15.50 Uhr: Den Fehler hat sueddeutsche.de offenbar von der Deutschen Presse Agentur (dpa) übernommen, die heute in mehreren Meldungen schreibt:
Uwe Krupp hatte 1996 mit der Colorado Avalanche als erster Deutscher die begehrteste Eishockey-Trophäe der Welt gewonnen und den Stanley Cup anschließend für einen Tag nach Deutschland gebracht.
2. Nachtrag, 19.45 Uhr: dpa hat eine Berichtigung ihres Artikels verschickt und mit einem Hinweis versehen:
Der zweite Satz und der vierte Absatz wurden neu formuliert. Damit wird klargestellt, dass Krupp zwar 1996 die Trophäe gewonnen, den Pokal aber nicht rpt nicht mit nach Deutschland gebracht hat.
sueddeutsche.de bleibt bisher bei ihrer Darstellung.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. Ein Cyber-Märchen (spox.com, Fatih Demireli)
Die medientaugliche Erfolgsgeschichte des 17-jährigen Fußballspielers Serdar Mete Coban, der schon für Galatasaray Istanbul, Inter Mailand und West Ham United gespielt hat und nun nach Real Madrid wechseln soll, hat einen Haken: Es gibt ihn nicht.
2. Warum Gottschalks letzte Sendung nicht die letzte ist (dwdl.de, Alexander Krei)
Moderiert Thomas Gottschalk am kommenden Samstag zum letzten Mal “Wetten dass…?”, wie Bild.de und andere schreiben? Das ZDF versucht seit Monaten vergeblich, diesen Irrtum aus der Welt zu schaffen.
3. Wer ist diese Frau? (klatschkritik.de, Antje Tiefenthal)
Ein Gruppenfoto von schönen, jungen, reichen Frauen auf der Kunst-Biennale in Venedig fasziniert “Bild”, “Bunte” und “Gala” — aber wen es eigentlich zeigt, wissen sie nicht.
4. Corrections and clarifications (guardian.co.uk)
Eine Richtigstellung aus dem britischen Königshaus: “The Prince of Wales does not employ and has never employed an aide to squeeze his toothpaste for him. This is a myth without any basis in factual accuracy.”
5. Uebermorgen.TV: Content-Farmen (elektrischer-reporter.de, Video)
Mario Sixtus zeigt in einer düsteren Vision, wie industriell produzierte Texte in Zukunft das Internet überwältigen könnten.
6. Wulst (damaschke.de, Giesbert Damaschke)
Stammt das Zitat “Kunst kommt von Können, nicht von Wollen, sonst hieße es Wullst” wirklich von Karl Kraus (oder Friedrich Nietzsche, Karl Valentin, Joseph Goebbels)?
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Bild”-Zeitung, Nationalelf und viele Abhängigkeiten (zeit.de, Roger Repplinger)
In dem Buch “Die Nationalmannschaft: Auf der Spur zum Erfolg” schildert der Autor unter anderem das Verhältnis zwischen “Bild” und der Fußball-Nationalmannschaft: “Es geht bei diesen Kampagnen, die zu Kampagnen werden, weil die seriösen Blätter, das Fernsehen, Magazine und Illustrierte, einsteigen, nie darum, die beste Lösung für den deutschen Fußball zu finden, sondern um die Interessen des Verlags.”
2. “Kino.to ist noch nicht zu Ende.” (netzfeuilleton.de, Pëll)
Am Donnerstag wurde von der Polizei das bekannte Streaming-Portal kino.tolahmgelegt. In diesem Interview spricht ein anonymer Insider über Arbeitsweise, Werbeeinnahmen und Unrechtsbewusstsein.
3. Journalismus zwischen Leichenbergen (sueddeutsche.de, Camilo Jiménez und Inga Rahmsdorf)
Interview mit der Polizeireporterin Lucy Sosa, die täglich über die Toten des Drogenkriegs in Mexiko berichtet. “Viele der kriminellen Banden hinterlassen Botschaften bei den Leichen. Sie setzen darauf, dass die Medien diese Botschaften verbreiten. Wir müssen also sehr aufpassen, dass wir nicht benutzt werden. Wir können aber eben auch nicht zulassen, dass die Regierung nur ihre Version verbreitet.”
4. Carta macht Pause (carta.info Robin Meyer-Lucht)
Herausgeber Robin Meyer-Lucht verabschiedet das Blog-Projekt in eine Sommerpause von unbestimmter Dauer. “Carta ist in seiner derzeitigen Form aber leider kein Projekt, das ‚mal eben nebenbei‘ weiterführt. Ein Gruppenblog braucht einen gewissen Veröffentlichungsdurchsatz, eine gewisse Grundpflege, um zu gedeihen. Carta hat aber als Konzept Problemzonen bei der Skalierbarkeit und Refinanzierung gezeigt – auch deshalb, weil es nie groß genug war, um sich selbst zu vermarkten.”
5. Wohin mit den Edelfedern? taz.de, Steffen Grimberg
Bei der Zusammenlegung von “Frankfurter Rundschau” und “Berliner Zeitung” gibt es Schwierigkeiten. “Derzeit wird in Berlin wie Frankfurt allerdings weniger die Frage, ob eine FR von der Spree funktioniert, als vielmehr über das Wie diskutiert wird: Zwei in Sachen Format und Konzept ganz unterschiedliche Blätter aus einer Redaktion, die mit ein paar FR-Gewächsen garniert wird, bedeuten zumindest für die Berliner deutlich mehr Arbeit.”
Wenn Journalisten schreiben, sie hätten etwas “aus Kreisen” erfahren, dann entweder, weil sie ihre Quellen schützen wollen, oder, weil ihre “Quelle” die Schwägerin des Nachbarn des Hausmeisters ist.
Das “Handelsblatt” konnte gestern mit “exklusiven” Neuigkeiten aus gleich zwei Kreisen aufwarten:
Die Deutsche Fußball Liga (DFL) geht bei der Vergabe der Fernsehrechte der Fußball-Bundesliga ab der Saison 2013/14 neue Wege. Eines der beiden Modelle sieht ein exklusives Ausstrahlungsfenster für Internet- und Mobilfunkfernsehen am Samstag bis 21.45 Uhr vor. Damit droht der populären “Sportschau” der ARD am frühen Samstagabend das Aus. Das erfuhr das Handelsblatt aus Unternehmenskreisen. Die DFL will durch attraktive Exklusivrechte für Web- und Mobil-Übertragungen neue Bieter anlocken und damit höhere Preise erzielen. “Der Markt wird entscheiden, ob die ‘Sportschau’ verschwinden wird”, erfuhr das Handelsblatt aus Kreisen der Profiklubs. Die DFL wollte gestern keine Stellungnahme abgeben.
Nun sind so “Unternehmenskreise” natürlich besonders nebulös. Es könnte aber gut sein, dass das “Handelsblatt” damit einfach einen Blick ins eigene Archiv meint.
Vom 2. März findet sich dort ein extrem launiger Kurzkommentar unter der Überschrift:
Von 2013 an könnten Internetunternehmen die ARD ablösen und die kurzen Zusammenfassungen der Ligaspiele anbieten. Bewegte Fußballbilder im Fernsehen gebe es dann erst ab 21.45 Uhr. (…) Noch ist die Internet-Sportschau nur eine von mehreren Ideen der DFL. Aber der Fußballfan weiß, dass das, was möglich ist, auch irgendwann gemacht wird. Und dass für die DFL – anders als für den Fan – beim Geld der Spaß aufhört.
Auslöser war wohl eine Meldung der “Süddeutschen Zeitung” vom Vortag, nach der die Deutsche Fußball Liga (DFL) erwog, “eine Art Web-‘Sportschau'” zu etablieren: “Web-TV und mobiles TV, also das Streaming im Internet und über mobile Endgeräte (iPad, iPhone)”.
Am 2. März berichtete auch “Die Welt”, einen Tag später der Kölner “Express” in kurzen Meldungen über die Pläne für eine “Web-Sportschau”.
Am 22. April tauchte das Thema dann wieder bei handelsblatt.com auf. In einem Artikel vom Sportinformationsdienst (sid) wurde unter anderem eine Umfrage zitiert, nach der “die Bundesliga durch einen Wechsel von der ARD- zur Internet-Sportschau keine Zuschauer verlieren” würde.
Der Grund für die Umfrage waren auch damals die Pläne der DFL:
Anstelle der Free-TV-Highlight-Verwertung in der ARD samstags um 18.30 Uhr soll bei dem Alternativmodell ab der Saison 2013/2014 eine Art Web-Sportschau um 19.00 Uhr den frei empfangbaren Markt bedienen. Im Free-TV soll die Zusammenfassung des Spieltags dann erst ab 21.45 Uhr zu sehen sein.
An der Nachrichtenlage hat sich seit Anfang März wenig verändert: Das Bundeskartellamt, das durch eine Befragung von Vereinen und Sendern die Spekulationen über die “Web-Sportschau” ausgelöst hatte, prüft die Vorschläge der DFL noch und die DFL selbst will sich dazu nicht äußern.
Aber wen interessiert das schon, wenn die “Sportschau” (in ihrer heutigen Form) womöglich, unter Umständen wieder mal (oder immer noch) bedroht ist?
Die Totengräberstimmung ist übrigens (auch) unnötig, wie Roland Peters in seinem Kommentar auf n-tv.de bemerkt:
Wenn “der Markt” tatsächlich unabhängig vom Zuschauer entscheidet, die Erstverwertungsrechte ins Internet wandern und die Bundesliga aus der regulären Sportschau verschwindet: Insgesamt gab es die Sendung 50 Jahre lang. Auch zwischen 1992 und 2003, als Privatsender die Rechte besaßen. Aus einem einfachen Grund: Sport ist eben nicht nur Fußball.
Bundeskanzlerin Angela Merkel ist heute zum Staatsbankett im Weißen Haus geladen und bringt neben etlichen Ministern auch Menschen wie Thomas Gottschalk und Jürgen Klinsmann mit. Doch einer fehlt: Franz Josef Wagner Dirk Nowitzki.
Dem deutschen Basketballspieler in Diensten der Dallas Mavericks wurde dafür eine andere Ehre zuteil: Franz Josef Wagner schreibt ihm heute einen Brief. Wagner ist zwar offensichtlich verzückt von Nowitzki (“Sie werfen Bälle, wie sie nur ein Zauberer werfen kann.”), hat aber andererseits eher wenig Ahnung von dem Sport, den dieser so betreibt.
So schreibt Wagner:
Amerika sieht, wie Sie hochsteigen, unglaublich hochsteigen, fast 4 Meter hoch und den Ball versenken.
Warum Nowitzki, der (wie Wagner richtig schreibt) 2,13 Meter groß ist, “fast 4 Meter” hochsteigen soll, um den Ball in 3,05 Metern Höhe im Korb zu versenken, weiß nur Wagner.
Dirk, 32, Deutscher, der höher springt als alle anderen, der aus 30 Metern Bälle wirft – ohne Nerven, ohne zittern.
Womöglich kann Nowitzki auch aus 30 Metern Bälle werfen, allerdings ist ein Basketballfeld in der amerikanischen Profiliga NBA eh nur 94 Fuß (28,65 Meter) lang.
In Teilen der heutigen Auflage ist Nowitzkis Alter darüber hinaus mit “33” angegeben. So alt wird er aber erst in 12 Tagen.
Was für eine schöne Geschichte: Mario Gomez, Stürmer der deutschen Fußballnationalmannschaft, hat beim gestrigen EM-Qualifikationsspiel gegen Österreich in Wien genau auf das Tor getroffen, vor dem er bei der EM 2008 eine Großchance vergeben hatte, die ihn danach jahrelang verfolgte.
Auch sueddeutsche.de räumt dieser Geschichte viel Raum ein und erinnert noch mal an jenen verhängnisvollen 16. Juni 2008:
Deutschland musste gegen Österreich das blamable Vorrundenaus bei der Europameisterschaft abwenden. Ein Spiel um die Ehre des Landes. Und da erlaubte sich Gomez, drei Meter vor dem leeren Tor, sich eine lächerliche Bogenlampe. Er schrumpfte in einem Augenblick vom neuen Bomber der Nation, vom 35-Millionen-Rekordtransfer des FC Bayern, zum Chinakracher, zum teuersten Tollpatsch des Landes. Im weißen Adler-Trikot des DFB konnte sich der Schwabe lange nicht davon befreien. Und nun solch eine Rückkehr an den Ort der Schande.
Gomez wechselte allerdings erst ein Jahr später, zur Saison 2009/10 für die unglaublichen 35 Millionen vom VfB Stuttgart zu Bayern München. Was beim “teuersten Tollpatsch des Landes” natürlich so ein bisschen die Luft raus lässt.
Der brasilianische Abwehrspieler Rafinha wechselt vom FC Genua zum FC Bayern München.
Doch wer ist dieser Rafinha überhaupt? Bild.de erklärt es uns:
Während seiner Zeit auf Schalke (2005 bis 2010) wurde Rafinha als “Rüpel” und “schlimmster Profi der Liga” tituliert, zur Symbolfigur eines egoistischen Haufens stilisiert.
Dass er zu den Eifrigsten im Training gehörte, einen außergewöhnlichen Ehrgeiz hat und seit Jahren mit seiner dynamischen Spielweise zu den Stammkräften in seinen Teams gehörte, wurde darüber vergessen.
Und wer ha… Ach, Sie wissen ja eh, was jetzt kommt:
Bei der geballten und systematischen Bösartigkeit der Bildzeitung und ihrer Spin-offs mag es ein wenig kleinlich erscheinen, sich über ein eher randständiges Possenspiel aus Sprachnörgelei und Scheinheiligkeit aufzuregen, das BILD.de letzte Woche aufgeführt hat. Aber das Aufregen über Sprachnörgelei ist nun einmal Beruf und Berufung für mich, und die Scheinheiligkeit der BILD kann man nicht oft genug entblößen.
Public Viewing (soll vermieden werden, da es angeblich nur “Leichenschau” bedeuten kann).
Sympathie (soll nur in seiner “ursprünglichen” Bedeutung “Mitleid” verwendet werden).
Busen (soll nur für seine angebliche Ursprungsbedeutung, “das Tal zwischen den Brüsten”, verwendet werden).
Reifenwechsel (da wir das ganze Rad wechseln, sollen wir Radwechsel sagen).
Kult (sollen wir nur in seiner ursprünglichen Bedeutung “religiöses Ritual” verwenden).
für etwas sorgen (sollen wir nur mit der Bedeutung “sich um jemanden kümmern” verwenden).
männliche Berufsbezeichnungen wie Arzt (sollen nur für Männer verwendet werden).
verstorben (sollen wir nie verwenden, um über etwas zu reden, das den Verstorbenen zu Lebzeiten betraf).
irritiert (sollen wir nur mit der ursprünglichen Bedeutung “gereizt” verwenden).
wollen (sollen wir nicht in Sätzen wie “Ich wollte fragen, ob…” verwenden).
Wenn Sie sich über diese Liste wundern, vielleicht sogar zaghaft anzweifeln, dass es sich dabei überhaupt um “Sprach-Fallen” (geschweige denn um “fiese”) handelt, seien Sie beruhigt: Sie sind nicht allein. Tatsächlich will ich nicht verschweigen, dass mindestens neun dieser zehn Tipps kompletter Blödsinn und durch nichts zu rechtfertigen sind und getrost ignoriert werden können.
Aber hier soll es nicht darum gehen, ob diese Sprachtipps nützlich oder richtig sind. Stattdessen interessiert es mich, ob BILD.de in der Lage ist, sich wenigstens drei Tage lang selbst daran zu halten. Die Liste wurde am Mittag des 23. Mai 2011 veröffentlicht, der Suchraum ist also die Zeit bis zum 26. Mai 2011. Gehen wir die Liste also Wort für Wort durch.
Public Viewing. Es gab zwar Ausschreitungen im Umfeld des Spiels VfL Osnabrück–Dynamo Dresden am 24. Mai 2011, aber zu Tode gekommen ist glücklicherweise niemand. Warum also kündigt BILD.de Public Viewings an, nur einen Tag nachdem man die Leserschaft eindringlich davor gewarnt hat, das Wort für etwas anderes zu verwenden als für eine Leichenschau? Konnte man dieser fiesesten unter den “fiesen Sprach-Fallen” nicht ausweichen — schon allein, um ohnehin gewaltbereite Fußballfans nicht noch auf dumme Ideen zu bringen?
Sympathie. Ich will ehrlich sein: Auch ich bemitleide Menschen, die BILD.de lesen oder an Horoskope glauben, und mit Menschen, die an Horoskope glauben, die sie auf BILD.de gelesen haben, habe ich doppelt Mitleid. Aber ich habe das Gefühl, dass es in diesem Horoskop, das BILD.de am 25. Mai 2011, nur zwei Tage nach den tollen Sprach-Tipps von Busch, veröffentlicht hat, nicht um Mitleid geht sondern darum, dass man Zwillingen — nun ja, Sympathie entgegenbringt. War es zuviel verlangt, dieses immerhin doch am zweithäufigsten falsch verwendete Wort zu meiden und zu ersetzen durch — ja, was denn eigentlich?
Busen. Es ist sonst nicht mein Stil, über die sekundären Geschlechtsmerkmale mir nicht persönlich bekannter Damen zu sprechen, aber ich komme um den Hinweis nicht herum, dass in dieser informativen Bildergalerie vom 24. Mai 2011 eins nicht zu sehen ist: das “Tal” zwischen Lindsey Lohans Brüsten. Denn das verdeckt sie geistesgegenwärtig und gesittet. Was dagegen recht gut zu erkennen ist, sind die Brüste selbst — mit der Überschrift tappt BILD.de also direkt in “Sprach-Falle” Nr. 3.
Reifenwechsel. Über Wechsel von Rädern und Reifen schreibt BILD.de nur, wenn es entweder Zeit ist, Winter- oder Sommerreifen aufzuziehen oder in der Formel-1-Berichterstattung. In den drei Tagen nach der Veröffentlichung der “fiesen Sprach-Fallen” gab es keins von beidem, deshalb musste ich hier auf den Vortag, den 22. Mai 2011, zurückgreifen. Aber dafür bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, dass bei Vettels angeblichen Reifenwechsel in Wahrheit die Räder gewechselt wurden: Wenn Vettels Mechaniker tatsächlich die Reifen neu aufgezogen hätten, hätte der Boxenstopp länger gedauert als das gesamte Rennen, und er hätte es nicht gewinnen können. Ich sage deshalb einfach mal “reingetappt” — wenn in der Berichterstattung über das Rennen von diesem Wochenende plötzlich von Radwechseln die Rede ist, nehme ich natürlich alles zurück.
Kult. Man kann schon den Eindruck bekommen, dass Jimmy Choo zusammen mit Manolo Blahnik und Christian Louboutin eine Art Dreifaltigkeit für Schuhfetischisten darstellen, aber wenn BILD.de Jimmy Choo in Überschrift und Teaser dieser Meldung vom Abend des 23. Mai 2011 gleich zwei Mal als Kult bezeichnet, geht es nicht um eine Verwendung überteuerter High Heels bei rituellen religiösen Handlungen — obwohl man doch nur wenige Stunden zuvor darauf gedrängt hat, das Wort nur zur Bezeichnung solcher Rituale zu verwenden. Im Spiel BILD.de gegen die “fiesen Sprach-Fallen” führen die Sprach-Fallen also mit 0:5.
Sorgen. “Mütter sorgen für Kinder, Lehrer für ihre Schüler, da stimmt das Verb”, erfahren wir aus den Sprachtipps von Sprechtrainer Busch, die BILD.de mahnend an uns weitergibt. Keinesfalls aber stimme es in Sätzen wie “Blitzeis sorgt für Verkehrschaos”, denn Blitzeis könne “für nichts und niemanden sorgen”. Chemikaliencocktails sind demnach in der Vorstellung von BILD.de offenbar eher so etwas wie Mütter, und Großeinsätze der Feuerwehr sind wie deren Kinder — anders lässt sich diese Schlagzeile vom 25. Mai 2011 nicht erklären. Oder ist man bei BILD.de trotz aller guten Vorsätze auch in die sechste “fiese Sprachfalle” getappt? Das ließe dann langsam Fahrlässigkeit vermuten.
Mann statt Frau. Man muss BILD.de zugestehen, dass man sich sehr konsequent an die Regel hält, für Männer die männliche und für Frauen die weibliche Berufsbezeichnung zu verwenden. Das eröffnet übrigens die Möglichkeit zu interessanten Untersuchungen über das dort gepflegte Geschlechterbild: Das Wort Arzt hat über 260 000 Treffer auf bild.de, das Wort Ärztin nur ca. 40 000. Das ist ein Zahlenverhältnis von etwa als 6:1, in der echten Welt kommen auf jede Ärztin aber nur zwei Ärzte. Aber ich schweife ab. BILD.de vergisst diese Regel in dem Moment, in dem man über gemischte Gruppen, z.B. von Ärztinnen und Ärzten, schreibt: Dann wird plötzlich nur noch die männliche Bezeichnung gewählt, wie in diesem Artikel vom 26. Mai 2011 (in dem noch dazu ausschließlich Männer erkrankt scheinen). So tappt man doch noch in die “fiese Sprach-Falle” Nr. 7.
Verstorben. “Frau Müller hat das Lebensmittelgeschäft mit ihrem verstorbenen Mann geführt” — die “fiese Sprach-Falle”, die Sprechtrainer Busch in diesem Satz ausgemacht hat, erklärt er wie folgt:
“Nein, das hat sie nicht. Das wäre ausgesprochen makaber. Natürlich hat sie das Geschäft mit ihrem LEBENDEN Mann geführt.” Man darf seinem Gegenüber anscheinend nicht zumuten, diesen offensichtlichen Schluss selbst zu ziehen. Warum, muss man sich dann fragen, mutet BILD.de seinen Leser/innen genau das in dieser Meldung vom 25. Mai 2011 zu, in der ein Rentner natürlich nicht auf einen Toten, sondern auf einen Lebenden geschossen hat, der erst als Folge dieser Schüsse verstarb?
Irritiert. Es kann sein, dass die Fahne, um die es in der folgenden Meldung, ebenfalls vom 24. Mai 2011, geht, den einen oder anderen gestört hat — der wäre dann irritiert im von Sprechtrainer Busch vorgeschlagenen Sinne gewesen. Aber die Mehrzahl war wohl irritiert in dem angeblich falschen und zu vermeidenden Sinne des Wortes — verwirrt, und ein wenig besorgt. Damit tappt BILD.de ist in die neunte der zehn “fiesen Sprachfallen”. Ich lehne mich mal aus dem Fenster und sage: Das ist kein Zufall. Man nimmt die Sprachtipps von Sprach-Trainer Busch bei BILD.de gerade ernst genug, um die Leser/innen damit zu piesacken, aber keinesfalls ernst genug, um sich selbst daran zu halten (Parallelen im Umgang von BILD.de mit Fakten ganz allgemein mag jeder selbst ziehen, ich bin hier nur für Sprache zuständig).
Wollte. Das Ergebnis 9/10 reicht mir, meine Schlussfolgerung ist gezogen, mein Auftrag erfüllt. Die letzte “Sprach-Falle” bezieht sich auf ein Sprachmuster, das in journalistischen Texten sehr selten und wegen seiner Variabilität allgemein zu schwer zu suchen ist. Ich schenke BILD.de also diesen einen Punkt im sicheren Bewusstsein, dass sich mit etwas Mühe auch dafür ein Beispiel fände.
Wie alle anderen Sprachfallen existiert auch diese, wie eingangs angedeutet, ohnehin nur in den Köpfen von Sprach-Trainer Busch und BILD.de. Ich werde das im Laufe der Woche im Sprachlog für alle sprachlich Interessierten genauer zeigen. Los geht es mit Folge 1, in der es um sorgen, Kult und Busen geht.
Nachtrag, 5. Juni: Inzwischen hat Anatol Stefanowitsch auch Folge 2 und 3 online gestellt.
Perp Walk nennen die Amerikaner den Gang, mit dem Verdächtige vor der Öffentlichkeit bloßgestellt werden. Meist in Handschellen und umringt von Polizisten werden sie medienwirksam abgeführt.
Über dieses Ritual wird gerade wieder heftig diskutiert, weil der zurückgetretene Chef des Internationalen Währungsfonds IWF, Dominique Strauss-Kahn, es über sich ergehen lassen musste, nachdem er in New York festgenommen wurde. Die “Süddeutsche Zeitung” versuchte deshalb vergangene Woche, die Geschichte des Perp Walksnachzuerzählen:
Den längsten “Perp Walk” hatte Timothy McVeigh, der Attentäter von Oklahoma City, zu erdulden. Drei Stunden lang wurde er öffentlich ausgestellt, bevor er dem Richter vorgeführt wurde.
Das kann man sich sehr schlecht vorstellen. Entweder hätte der Transporter viele Kilometer vom Gefängnis entfernt geparkt sein müssen. Oder McVeigh hätte viele Male um das Gebäude herum- oder immer wieder hin- und hergeführt werden müssen. Oder man hätte ihn — ohne Schutzweste — drei Stunden vor einem Pulk aufgebrachter Bürger herumstehen lassen müssen.
In Wahrheit dauerte McVeighs Perp Walk nur wenige Sekunden (Video). Es mag dem SZ-Autor wie Stunden vorgekommen sein, weil diese Aufnahmen so oft wiederholt wurden. Wahrscheinlicher ist, dass er eine leicht missverständliche Formulierung aus dem englischen Wikipedia-Eintrag zu Perp Walk missverstanden hat. Dort heißt es:
In 1995 Oklahoma City bomber Timothy McVeigh, already in Oklahoma State Police custody for a firearms violation, was paraded before television cameras by the FBI nearly three hours before he was officially arrested for the bombing.
Die knapp drei Stunden sind der Zeitpunkt (vor der offiziellen Verhaftung wegen des Attentates), nicht die Länge des Perp Walks. Aber das hat nicht nur die SZ falsch verstanden.
So stellte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EuGH) fest, dass die britische Polizei mit ihrer DNA-Datenbank das Grundrecht auf Datenschutz sehr weitgehend verletzt hat.
Der Fehler liegt hier im Detail, genauer in der Abkürzung: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird kurz mit “EGMR” bezeichnet, “EuGH” ist der Europäische Gerichtshof, der im Gegensatz zum EGMR auch ein EU-Organ ist.
Besonders peinlich, dass der Satz (inkl. falscher Abkürzung) offenbar fast wörtlich aus einem offenen Brief der Kampagne “DNA-Sammelwut stoppen!” und der Piratenpartei kopiert wurde.
Klassisch dagegen dieser Fehler in der “Express”-Berichterstattung über den EGMR:
Mit Dank an Jan T. und Tomek.
Nachtrag, 24. Mai: “Telepolis” hat den Fehler transparent korrigiert, der offene Brief im Wiki der Piratenpartei kürzt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jetzt ebenfalls korrekt mit “EGMR” ab und express.de hat aus dem “EU-Gericht” ein schlichtes “Gericht” gemacht.