Wir unterbrechen unser Sommerloch für eine wichtige Durchsage:
Auf der A2 Richtung Köln kam es gestern zu einem schweren Unfall! Jeanette B. (27) mit ihrem roten Mazda unterwegs zu ihren Eltern. Hinter ihr in seinem Lieferwagen: Mathieu C. (57). Dann plötzlich – STAU! Jeannette B. kann gerade noch rechzeitig bremsen. Doch da ist es für Hintermann Mathieu C. schon zu spät… Der Kleintransporter kracht ins Heck des Wagens vor ihm, verfehlt ihn nur um wenige Meter! Wie durch ein Wunder bleiben beide unverletzt! Augenzeugen berichten atemlos, im Rückspiegel hätte es wie ein Unfall ausgesehen.
Und damit zurück zu “Bild”.
Denn wir waren nicht dabei, als Jeanette Biedermann und Mathieu Carrière in Berlin eine neue TV-Serie vorstellten. Die “Bild”-Reporter Martina Kleinke und Mark Pittelkau vielleicht schon. Und so berichteten die beiden bereits gestern online über eine “Busen-Attacke von Mathieu Carrière auf Jeanette Biedermann”, die es als “Grapsch-Attacke” heute sogar auf Seite 1 der gedruckten “Bild” geschafft hat:
Mathieu Carrière begrapscht Jeanette Biederman (…). Bei einem Termin in Berlin grapschte ihr Schauspieler Mathieu Carrière (57) einfach an die Brust! (…) Er griff der schönen, 30 Jahre jüngeren Blondine mit voller Hand an den Busen!
“Sommerloch”, das sagt sich so leicht. Irgendjemand muss das Ding schließlich Jahr für Jahr ausheben, befestigen und bepflanzen. Zum Glück übernimmt das in Deutschland ein Medium zentral für fast alle anderen.
Hauptdarsteller der Geschichte ist ein CDU-Politiker namens Peter Trapp, der als Polizeibeamter dafür zuständig war, Strategien zur Bekämpfung der Straßenkriminalität in Spandau zu entwickeln und umzusetzen und seit fast neun Jahren den Spandauer Wahlkreis 5 (Kladow, Gatow, Pichelsdorf und die südliche Wilhelmstadt) im Berliner Abgeordnetenhaus vertritt, wo er den Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung leitet.
“Bild” zitiert ihn heute mit dem Satz: “Die Abschaffung der Ortsziffern auf dem Nummernschild ist (…) zu überdenken.” Tatsächlich will er die Kürzel für die Orte aber offenbar nicht retten, sondern abschaffen. Weil “Autofahrer aus bestimmten Regionen aufgrund ihres Kennzeichens” dadurch diskriminiert würden, dass andere sie für Deppen hielten.
Im nordrhein-westfälischen Landtag fand “Bild” einen grünen Abgeordneten namens Johannes Remmel, der den Vorschlag zu unterstützen schien und einen “Ideenwettbewerb zur kreativen Gestaltung von Nummernschildern für sinnvoll” erklärte.
Die “Bild”-Meldung fand guten Absatz.
Der Hessische Rundfunk lieferte als Service sieben Kennzeichenwitze aus der Region, der “Kölner Stadtanzeiger” zwei aus dem näheren Umkreis und drei aus dem Ferne; bei n-tv.de hat man die vier Nummernschild-Ulk-Übersetzungen aus “Bild” freundlicherweise um fünf weitere Ideen ergänzt.
n-tv.de fand aber auch, die Nachricht klinge “wie ein verspäteter Aprilscherz”, fragte bei den von “Bild” zitierten Politikern selbst nach und erfuhr, dass Johannes Remmel relativ egal ist, welche Buchstaben auf den Kennzeichen stehen, solange sie schön bunt sind.
“Stern”-Autor Wolfgang Röhl nutzte die Gelegenheit der “Bild”-Meldung, in einem Beitrag für die sich für politisch unkorrekt haltende “Achse des Guten” ein ausländerfeindliches Witzchen zu machen.
De Nachrichtenagentur AP schließlich fand erstaunlicherweise zwischen der Nennung von nicht weniger als zehn Kennzeichenwitzen noch Platz, eine Reaktion von Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee zu zitieren, der den Forderungen “umgehend eine Absage” erteilt habe: “Ich glaube, wir haben ein sehr gut funktionierendes System in Deutschland, das sich bewährt hat.”
“Wir haben keine Veranlassung, von den regionalen und merkbaren Kennzeichen Abstand zu nehmen. Das System hat sich bewährt”, waren übrigens die Worte, die auch ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums gegenüber derselben Nachrichtenagentur gewählt hatte — vor vier Jahren. Damals hatte ein CDU-Bundestagsabgeordneter namens Albrecht Feibel gefordert, die Orts-Kennungen in den Kennzeichen abzuschaffen, immerhin mit der weniger originellen Begründung, dass sie soviel Bürokratie produzierten. Feibels Vorschlag wurde am 20. Juli 2004 bekannt, weshalb der Ministeriumssprecher laut AP von einem typischen Sommerloch-Vorschlag sprach.
Verbreitet wurde er auch damals von der dafür zuständigen Zeitung auf Seite 1:
1. Interview mit Focus-Online-Chefredakteur Jochen Wegner (meedia.de, Alexander Becker)
Jochen Wegner erzählt, dass es “Standard in den deutschen Nachrichtenredaktionen” ist, sich “eigene SEO-Experten” zu halten: “Gegen den Zukauf von Traffic ist nichts einzuwenden. Mich stört lediglich die oft eher verschämte Kommunikation in diesem Zusammenhang.” Ausserdem: “Helmut Markwort liest jeden Leserbrief.”
2. Interview mit TV-Journalist Ulrich Tilgner (tagesanzeiger.ch, Philipp Mäder)
Ulrich Tilgner wird genötigt, über sein “versteinertes Gesicht” zu reden: “Dieser Gesichtsausdruck hat nichts mit meinem Beruf zu tun. Ich lache auch auf Kinderfotos nicht.” Zudem verrät er, wie man als Journalist in Krisengebieten am besten überlebt.
3. “Ein Blick hinter die Kulissen von Zattoo” (infoweek.ch, Marcel Wüthrich)
Ein Hintergrundbericht über das P2P-TV Zattoo: “Zattoo hat das Potential, zum Inbegriff für Internetfernsehen zu werden und die Welt zu erobern.”
4. “Wir machen das Magazin nicht, weil grün ‘cool’ ist” (persoenlich.com, Stefan Wyss)
Das deutsche Ivy wurde vom deutschen Verlag Burda am 25.07.2008 eingestellt, da “keine ausreichende wirtschaftliche Basis” vorhanden war – kein Grund für schweizer Verlage, mit nicht weniger als drei grünen Lifestyle-Magazinen ihr Glück zu versuchen. Ein Gespräch mit “ecoLife”-Chefredaktor Paul Stierli.
5. “Mona wird auf eBay verramscht” (blick.ch, Peter Padrutt)
“Wer in diesen Tagen eBay anklickt, glaubt an einen Sonnenstich. SF verhökert Kram, den Mona Vetsch auf ihrer ‘Fernweh’-Reise eingekauft hat.” (Link: medienlese.com)
6. “Neger gesucht” (spiegel.de, Petra Bornhöft)
“Ein Grüppchen Parlamentarier fühlte sich nicht genug hofiert auf der Dienstreise nach Amerika. Ihre Beschwerden sind ein Dokument der Peinlichkeit.”
2. “Die Selbstdekonstruktion des Josef Joffe” (blog.handelsblatt.de/indiskretion, Thomas Knüwer)
Dass es auch 2008 noch immer intelligente Menschen gibt, die glauben, der Wert von Buchstabenfolgen sei abhängig von der Wahl ihres Trägers, stimmt nachdenklich. Thomas Knüwer analysiert einen Zeit-Artikel und erzählt zudem etwas Klatsch über Andrew Keen.
3. “Deckname Moser” (netzjournalist.twoday.net, Thomas Mrazek)
“Soziale Netzwerke wie StudiVZ, MySpace oder Xing können eine ergiebige Quelle für Journalisten sein. Doch sollte die Recherche mit Fingerspitzengefühl erfolgen.”
5. “Is Jon Stewart the Most Trusted Man in America?” (nytimes.com, Michiko Kakutani)
Die New York Times fragt, ob es sich beim derzeit vertrauenswürdigsten Mann der USA tatsächlich um den Moderator einer Satiresendung handelt.
6. “Schluss mit den obligaten drei Küsschen zur Begrüssung” (sonntagszeitung.ch, Steffi Hibber)
Endlich fordert jemand die Abschaffung des seit Jahren in der Schweiz grassierenden Begrüssungsrituals: “Die Hölle, die eigene Wange an verschwitze, mit Denim-Aftershave imprägnierte Buben-Backen drücken zu müssen, dazu erwachsene ‘mwah mwah MWAH!’-Geräusche zu machen. Um dann den ganzen Abend kein einziges Wort mehr mit ihm zu reden.”
Es war eine dieser Meldungen, die erschüttern: Viele Ehen, die in Las Vegas geschlossen werden, berichtete Bild.de in dieser Woche, halten nicht für immer.
Woran mag das liegen? Bild.de ist diese mögliche Erklärung eingefallen:
Holla, darauf wären wir jetzt nicht gekommen. Aber dafür hat man ja Experten, dass sie einen warnen, vor Orten und Gegenständen, die verwunschen sind, von irgendeiner übersinnlichen Macht.
Und wir nutzen die Gelegenheit, als Service für unsere Leser die wichtigsten der potentiellen Flüche, über die “Bild” in diesem Jahr berichtete, in einer Übersicht zusammenzufassen:
Verflucht
Name und Art des Fluchs
Bär Bruno
“Liegt ein Fluch über dieser Bärenfamilie?” (zwei Jahre nach Bruno wurde auch sein Bruder erschossen)
“Pleiten-Fluch”
(scheitern in der Vorrunde der Play-Offs)
*) Korrektur, 23.20 Uhr(mit Dank an die vielen Hinweisgeber): Verflucht, da hatten wir den Schalker doch zunächst tatsächlich versehentlich zum Bayern-München-Torwart gemacht. Sorry.
Die Newsnetzer stärken den Boulevard und finden Maddie in Brüssel, außerdem wieder großer Stellenabbau bei amerikanischen Zeitungen. Unser Rückblick auf die 33. Kalenderwoche.
Das Bild der Woche: Drei amerikanische Zeitungen, denen möglicherweise Entlassungen bevorstehen. Gannett, der größte Zeitungsverlag der USA, will 1000 Stellen bei kleineren Blättern streichen, rund 3 Prozent der Belegschaft. Bis zu 600 Mitarbeiter könnten entlassen werden, berichtet das US-Branchenblog Gawker. Seit Anfang Juli reißen die schlechten Nachrichten nicht ab. In der “blutigsten Woche des Jahres” wurden rund tausend Stellen abgebaut, Verlage melden Millionenverluste, Zeitungen stehen zum Verkauf.
Newsnetz, “das bisher ambitionierste journalistische Projekt im Internet” setzte, wie angekündigt, erste neue Standards. Am 11. August 2008, 16:17 Uhr, wurde gemeldet, dass ein “kleines Mädchen” in Brüssel von einer Überwachungskamera gefilmt wurde (“Videobilder: Ist das wirklich Madeleine McCann?“). Eingebunden in die Meldung wurde ein YouTube-Video der englischen Boulevardzeitung Sun, das offenbar veröffentlicht wurde, weil ein Sicherheitsangestellter meinte, darauf die vermisste Madeleine McCann erkannt zu haben. Doch:
“Liebes Model! Bitte melde Dich! Bewirb Dich als ‘BILD Girl’ für die Seite 1! Kontakt: BILDFotoredaktion (…)” (Bild.de vom 17.4.2008)
“War der Frau etwa zu warm? Oder wurden ihr die Klamotten gestohlen? Oder suchte sie einfach nur den ultimativen Kick? BILD.de bleibt dran.” (Bild.de vom 10.7.2008)
“Top-Abrufzahlen bei BILD.de. Und jetzt gewann die Unbekannte auch noch das große Online-Voting. (…) Doch wer ist sie? Wie heißt sie? Gibt es Freunde, Bekannte, die die Frau kennen? Hinweise per Email an [email protected].” (Bild.de vom 23.7.2008)
Wenn irgendwo junge Frauen “nackt”, “komplett nackt”, “völlig nackt”, “splitternackt”, “hüllenlos”, “ohne irgendetwas am Leib”, “wie Gott sie schuf” bzw. “NACKT!” in der Öffentlichkeit gesichtet werden, gibt man bei “Bild” alles.
Da werden dann nicht nur wahllos “BILD-Leser-Reporter”-Fotos von ihnen veröffentlicht und Online-Votings veranstaltet, sondern auch Psychologen befragt (“Neudeutsch wird dieses Phänomen ‘nude in public’ genannt”) und öffentliche Aufrufe gestartet (siehe Kasten).
Und was fällt der “Bild”-Redaktion ein, wenn mitten am Tag ein ca. 50 Jahre alter Mann nackt und auf allen Vieren über eine belebte Kreuzung kriecht?
Na, sehen Sie selbst:
“Geheimnis”? Der Berliner “Tagesspiegel” hat es gelüftet:
Denn wie die Polizei problemlos bestätigt hätte, wurde der Mann kurz nach dem Vorfall in die Psychiatrie eingeliefert. Offenbar gab es noch ein paar Passanten, die Hilfe holten, statt das Elend eines Verwirrten auszuschlachten.
Nicht, dass jemand der “Bild”-Zeitung nachsagt, sie trenne nicht ordentlich zwischen Werbung und redaktionellen Inhalten. Das hier zum Beispiel in der “Bild”-Zeitung von gestern war Werbung:
Und das hier war redaktioneller Inhalt:
Und die Unterscheidung ist ganz leicht. Werbung ist das, über dem “Anzeige” steht:
Und wenn Ihnen das ein bisschen inkonsequent erscheint, müssen wir antworten: Nein, das ist für “Bild” totalkonsequent.
Man muss dazusagen: Nicht nur von Bild.de wird die Enthüllung der kleinen Berliner “Bild”-Schwester “B.Z.” gerade weiterverbreitet. Nein, auch die Nachrichtenagenturen dpa und AP vermelden unter Berufung auf die heutige “B.Z.”-Ausgabe Busses “heimliche” Hochzeit.
Und wenn Bild.de “… und keiner kriegt’s mit” schreibt, ist das gar nicht mal so falsch. Denn die Münchner “Abendzeitung” berichtete bereits am 13. Oktober 2007:
Jochen Busse traut sich zum vierten Mal – Im November heiratet er seine große Liebe Constanze
Jochen Busse – Wiederholungstäter in Sachen Heirat. Zum vierten Mal wandert er zum Ja-Wort-Wechseln auf ein Standesamt – diesmal in Berlin am 5. November. Constanze Volkner ist – noch – der Name der Braut (…) und ihr Ehemann in Spe ist sich sicher: “Sie ist die Richtige. Ich bin ihretwegen schon nach Berlin gezogen.” (…)
Ach ja: Und wenn Bild.de, dpa, AP und alle, die die Meldung in die Welt tragen (Bunte.de: “Wie erst jetzt bekannt wurde…”), tatsächlich keine 2,38 Euro ausgeben wollten, um den “Abendzeitung”-Artikel z.B. bei Genios zu finden und zu kaufen – sie hätten auch einfach mal bei Wikipedia vorbeischauen können. Da nämlich steht, dass Busse “im November 2007 ein viertes Mal” geheiratet hatte, immerhin schon seit April.
Mit Dank an Torsten R. für den Hinweis.
Nachtrag, 16.8.2008: Ach, hätte die “Bild”-Redaktion doch gestern bloß noch mal BILDblog gelesen, dann wäre ihr wenigstens nebenstehende Peinlichkeit erspart geblieben.
Kürzlich berichtete “Bild” über die im März verstorbene 23-jährige Sara L. – unter Berufung auf einen Artikel des “Tagesspiegel” aber gegen den ausdrücklichen Willen der Eltern von Sara. Die “Bild”-Zeitung hatte den Artikel zudem mit diversen Fotos von Sara illustriert, die sie sich im Internet besorgt hatte, und an denen sie keinerlei Rechte besaß (wir berichteten).
Seit kurzem ist der “Bild”-Artikel aus dem Online-Angebot von Bild.de verschwunden. Bild.de hat den Text, wie üblich, nicht freiwillig entfernt, sondern Saras Eltern haben Anfang der Woche einen Anwalt eingeschaltet, der den Axel Springer Verlag aufforderte, wegen der Berichterstattung eine Unterlassungserklärung abzugeben. Das hat Springer getan.
Saras Eltern überlegen derzeit, ob sie noch weiter rechtlich gegen “Bild” vorgehen.