Wie Politiker Köder auslegen und Medien anbeißen. Ein Schauspiel in drei Akten.
I. Akt.
Sabine Bätzing, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, hat ein Problem: Ihr Drogen- und Suchtbericht 2009 [pdf] enthält fast nur gute Nachrichten. Die Zahl der Jugendlichen, die mindestens einmal pro Woche Alkohol trinken, sei zurückgegangen. Und die Zahl der Jugendlichen, die im letzten Monat mindestens einmal mehr als vier Gläser mit Alkohol hintereinander getrunken haben, auch.
Nur gute Nachrichten sind aber nicht so gut, um in die Medien zu kommen und sich im Wahlkampf zu profilieren, und so betonte Bätzing in ihrer Pressemitteilung gestern einen negativen Aspekt:
2007 wurden 23.165 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 20 Jahren aufgrund einer Alkoholvergiftung stationär im Krankenhaus behandelt. Das ist die höchste Zahl seit der Ersterhebung im Jahr 2000 und entspricht einer Zunahme um 143 %.
Das ist allerdings, genau genommen, keine schlechte Neuigkeit, sondern gar keine. Diese Zahlen hatte Bätzing schon Ende Januar bekannt gegeben. Bätzing hat sie einfach noch einmal veröffentlicht und mit Vorwürfen gegen den Koalitionspartner verbunden.
II. Akt.
Wir erinnern uns: Es trinken weniger Jugendliche Alkohol, es betrinken sich weniger Jugendliche. Und was schreiben die Nachrichtenagenturen?
AP meldet:
Der Alkoholkonsum unter Jugendlichen hat dramatisch zugenommen. (…) Vergangenes Jahr kamen mehr als 23.000 Kinder und Jugendliche mit Vollrausch und teils bewusstlos ins Krankenhaus.
Nein. Der Alkoholkonsum ist zurückgegangen. Und die Zahl der Krankenhauseinweisungen stammt aus 2007.
dpa:
Das Koma-Trinken von Jugendlichen in Deutschland wird immer exzessiver. Mehr als 23.000 Kinder seien im Jahr 2007 “zum Teil bewusstlos in die Notaufnahmen eingeliefert worden”, sagte die Bundesdrogenbeauftragte Sabine Bätzing (SPD) am Montag bei der Vorstellung des neuen Drogenberichts in Berlin. Das waren so viele wie nie zuvor.
Immerhin: dpa hat erkannt, dass die Zahl aus dem Jahr 2007 stammt.
AFP:
Exzessives Trinken unter Jugendlichen hat im vergangenen Jahr abgenommen, bleibt aber weit verbreitet. Laut dem am Montag in Berlin vorgelegten Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung sank der Anteil der Jugendlichen, die sich einmal im Monat in den Rausch trinken, 2008 um fünf Punkte auf gut 20 Prozent. Bei jedem Zwölften sei die getrunkene Menge reinen Alkohols allerdings riskant oder regelrecht gefährlich. (…)
Auch die bereits früher veröffentlichte Zahl der Jugendlichen mit Alkoholvergiftung illustriere das Ausmaß des Problems, erklärte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Sabine Bätzing (SPD). 2007 waren mehr als 23.000 junge Leute im Alter zwischen zehn und 20 Jahren wegen einer Alkoholvergiftung stationär im Krankenhaus behandelt worden — anderthalb Mal mehr als noch 2000.
AFP weist sogar darauf hin, dass diese Zahl schon “früher” veröffentlich wurde. Vorbildlich.
Aber welche der drei Varianten ist die attraktivste für die Medien?
III. Akt.
“Bild” titelt auf Seite 1:
Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” beginnt ihren Artikel mit dem höchst irreführenden Satz:
Immer mehr Minderjährige in Deutschland haben ein Alkoholproblem.
Die vermeintlich seriöse “Tagesschau” formuliert:
Immer mehr Kids geben sich die Kante bis zum Krankenhaus.
(Und Sabine Bätzing behauptet danach vor der Kamera, die entsprechenden Zahlen seien aus dem vergangenen Jahr.)
Peter Kloeppel sagt am Anfang von “RTL aktuell”:
Im vergangenen Jahr haben sich schon mehr als 23.000 Teenager ins Krankenhaus getrunken. Besonders gefährdet sind inzwischen junge Mädchen.
Das mit den Mädchen stimmt — ist aber auch eine Erkenntnis, die vier Monate alt ist.
Online-Angebote wie heute.de melden:
Ernüchternde Bilanz: Trotz Aufklärungsbemühungen gehört Koma-Saufen bei immer mehr Jugendlichen in Deutschland zum Alltag. Über 23.000 Zehn- bis Zwanzigjährige wurden 2007 teils bewusstlos betrunken ins Krankenhaus gebracht – so viele wie nie zuvor.
…und merken nicht, dass sie genau das schon im Januar gemeldet haben.
Die “Welt” titelt heute:
Komasaufen bei Jugendlichen so verbreitet wie nie
Grundlage dafür sind die selben Zahlen, die die “Welt” schon vor vier Monaten titeln ließen:
Mehr Jugendliche mit Alkoholvergiftungen als je zuvor
Keine Frage: Die Zahl jugendlichen Komasäufer ist erschreckend hoch, und es spricht einiges dafür, dass sie auch im vergangenen Jahr zugenommen hat. Noch schneller steigt allerdings die gefühlte Zahl der jugendlichen Komasäufer — mit jedem Mal, das die Medien dieselben Zahlen als “mehr denn je” und “soviel wie nie” verkaufen.
Mit großem Dank an Klaus!