So macht man einen Zeugen zum Komplizen

Das muss ein ziemlicher Schock gewesen sein für den preisgekrönten Regisseur Torsten C. Fischer, als er gestern in die “Welt” gesehen hat. Denn die Zeitung hat ihn kurzerhand zum Komplizen in einem krimireifen Fall gemacht, der den NDR und die deutsche Fernsehspiel-Branche gerade erschüttert.

Die langjährige NDR-Fernsehspielchefin Doris J. Heinze hat ihrem Mann offenbar heimlich Drehbuchaufträge verschafft. Er soll in den vergangenen acht Jahren fünf Fernsehfilme unter dem Pseudonym “Niklas Becker” geschrieben haben und bekam für die Pressehefte sogar eine erfundene Biographie. Die “Süddeutsche Zeitung”, die den Fall aufgedeckt hat, sieht viele weitere Ungereimtheiten und spricht davon, Heinze habe “jahrelang ein System der Vetternwirtschaft betrieben”.

Die “Welt”-Chefreporterin Martina Goy aber schreibt in der Samstagsausgabe des Blattes leichthin:

Dass es (…) Mitwisser gegeben haben muss, zeigt die Co-Autorenschaft beispielsweise des Regisseurs und Drehbuchautors Thorsten [sic] C. Fischer am TV-Film “Katzenzungen” aus dem Jahr 2003, den er gemeinsam mit “Niklas Becker” schrieb.

Ja, das könnte man vermuten. Die “Süddeutsche Zeitung” hat sich aber, im Gegensatz zur “Welt”, nicht auf den bloßen Anschein verlassen. Sie schrieb am selben Tag über den Regisseur:

Als er den Film “Katzenzungen” drehte, fand er das Drehbuch des ihm unbekannten Autoren Niklas Becker miserabel, schrieb es völlig um. Kein Satz blieb. Das sei in Ordnung, versicherte Doris Heinze. Auch Fischer wollte mit dem Autoren reden, doch der war nie zu sprechen oder in Übersee verschollen. Wer sich nach Becker erkundigte, hörte oft, Becker lebe sehr einsam und habe kein Telefon.

Das wäre — insbesondere da andere Regisseure ähnliche Erfahrungen gemacht haben sollen — zumindest eine plausible Erklärung, die die “Welt” nicht zu kennen scheint. Doch nachdem sie Fischer schon für mitschuldig hält, fügt sie noch hinzu:

Pikant dabei: Fischer war zuvor von Doris J. Heinze in einem Brancheninterview als Talent gelobt worden. “Wir haben insbesondere norddeutsche Talente immer gefördert und sehr früh darauf hingearbeitet, ihre Filme primetimefähig zu machen”, sagte sie dort. “Das ist häufiger als gedacht auch gelungen. Angelina Maccarone, Hans-Erich Vieth und Thorsten [sic] C. Fischer sind nur einige Beispiele.”

Was ist daran “pikant”? Dass der Mann Talent hat, findet nicht nur Heinze. Torsten C. Fischer ist ein angesehener Regisseur, war Assistent bei Dominik Graf, wurde schon in den Jahren 2000 und 2003 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.

So leichtfertig macht die “Welt” offenbar ohne Recherche einen Mann zum Komplizen und erledigt ihn als Regisseur gleich mit.

Mit Dank an Bernd Kling!

Heinze, Finanzen100, Kuba

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Tatort ARD”
(sueddeutsche.de, Nicolas Richter und Hans Leyendecker)
Der NDR trennte sich am Donnerstag von Doris J. Heinze, gemäss “Süddeutscher Zeitung” eine “sehr einflussreiche Leiterin der Fernsehfilmabteilung”: “Die 60-Jährige hatte jahrelang ein System der Vetternwirtschaft betrieben.”

2. “Wir machen es (uns zu) einfach”
(print-würgt.de, Michalis Pantelouris)
Michalis Pantelouris hat “noch nie so viel Gejammere gehört wie in der letzten Zeit”: “Wir sind nicht auf Kuba. Kein Staat, kein Verleger und keine materielle Not hindern uns daran, geilen Journalismus zu machen. Und wenn ich als Freier mir angucke, wie früh manche festangestellte Redakteure nach Hause gehen, dann fehlt uns nicht einmal die Zeit.”

3. “Sterbende Zeitungen: Verschwindet endlich die Journaille?”
(konkret-verlage.de, Michael Hahn)
“Konkret”, nach eigenen Angaben “die einzige linke Publikumszeitschrift Deutschlands”, schreibt über die Zeitungskrise: “Daß Journalisten massenhaft entlassen werden, hat schon in den boomenden neunziger Jahren begonnen, als immer mehr Verlage an die Börse gingen oder von großen Konzernen aufgekauft wurden. So ist die Redaktion der ‘Los Angeles Times’ heute nur noch halb so groß wie vor 15 Jahren.”

4. “Finanzen100: Was Google kann, können wir auch”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Finanzen100, ein neues Finanzportal der Burda-Tochter Tomorrow Focus, wird als “Kernangebot zunächst aggregierte Informationen aus fremden Quellen” anbieten. Thomas Lückerath fragt nach der Doppelmoral – hatte doch Verleger Hubert Burda noch letzten Monat derartige Vorgehensweisen bei Google angeprangert und sogar Geld dafür gefordert.

5. “Online-Kommentare: Mehr löschen oder nicht?”
(30jahre.taz.de, Sebastian Heiser)
Die “taz” weiß nicht recht, ob sie mehr oder weniger Leser-Kommentare online gehen lassen soll und stellt Meinungen von Lesern dazu zur Diskussion. Eine lautet: “Gustave Flaubert habe einmal gesagt, er sei gegen die Einführung der Eisenbahn, weil sie es noch mehr Leuten gestatte, zusammenzukommen und zusammen dumm zu sein. Womit alles wesentliche zum Internet (und erst recht zu all seinen Mitmachfunktionen) gesagt ist.”

6. Der geduldigste Reporter
(break.com, Video, 2:20 Minuten)
Aus Prag berichtet ein Journalist mit Nerven aus Stahl. Ein echter Profi.

Vor dem Spiel ist nach dem Spiel

Wenn Sie Fan von Hertha BSC Berlin sind, kann man nur hoffen, dass Sie sich heute Abend nicht bei stern.de über den Ausgang des Europa-League-Qualifikationsspiels gegen Bröndby Kopenhagen informiert haben:

Holpriger Start in Bundesliga, tiefe Enttäuschung in der Europa League: Hertha BSC Berlin ist in der Qualifikation zur lukrativen Gruppenphase an Bröndby Kopenhagen gescheitert. Werder Bremen qualifizierte sich dagegen souverän.

Diese Nachricht hat stern.de nicht nur weltexklusiv, sie widerspricht sogar der Überschrift, die direkt darüber steht, und dem Text direkt darunter:

Europa League:  Hertha siegt im Schluss-Spurt, Werder weiter. Erfolg auf der ganzen Linie: Nachdem Werder Bremen sich souverän für die lukrative Gruppenphase der Europa League qualifiziert hat, zog am frühen Abend in einem dramatischen Spiel auch Hertha BSC Berlin nach.

Aber nun gut: 75 Minuten lang sah es schlecht aus für die Hertha. In der Zeit kann man so einen Vorspann natürlich schon mal fertig machen.

Mit Dank an Daniel L.

Nachtrag, 23:46 Uhr: stern.de hat den Vorspann durch einen neuen ersetzt:

Drei Teams, drei Erfolge: Werder Bremen, der Hamburger SV und Hertha BSC Berlin sind für die lukrative Gruppenphase der neuen Europa League qualifiziert. Nur Hertha machte es spannend – und kam nur dank eines fulminanten Endspurts eine Runde weiter.

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Die Springers bei der Ackermann-Sause (3)

Wer so flexibel mit der Wahrheit umgeht wie die “Bild”-Zeitung, kann Widersprüche nicht immer vermeiden.

“Bild”, 16. Januar 2009:

Es war einer der gesellschaftlichen Höhepunkte im Leben des Josef Ackermann: Seinen 60. Geburtstag feierte der Deutsche-Bank-Chef im 8. Stock des Kanzleramts – auf Einladung von Angela Merkel. Sogar die 25 Gäste für das Abendessen im April 2008 durfte der Jubilar selber aussuchen. So viel Ehre wurde wohl noch keinem anderen Manager zuteil.

“Bild”, 26. August 2009:

Merkel gab am 22. April 2008 ein festliches Essen — zu Ehren des zwei Monate zuvor 60 Jahre alt gewordenen Josef Ackermann. Und wie das bei Einladungen im Kanzleramt häufiger der Fall ist, durfte der Geladene Vorschläge für die Gästeliste machen. (…)

Essen wie dieses finden häufig statt. Die Kanzlerin trifft sich mit Managern wie Gewerkschaftern, Künstlern wie Autoren. (…) Und öfters bittet Merkel den einen oder anderen Geladenen um Vorschläge für weitere interessante Gäste.

Ein und dieselbe Veranstaltung ist einzigartig, wenn es darum geht, dem Deutsche-Bank-Chef und Springer-Großaktionär zu schmeicheln, und alltäglich, wenn die Kanzlerin aus der Schusslinie gebracht werden muss. Aber das ist ja nicht das erste Mal, dass “Bild” seine Darstellung abrupt ändert, wenn es der guten Sache dient.

Die Online-Ausgabe der “Süddeutschen Zeitung” fügt der Geschichte, wie die Springer-Zeitungen mit dem Fall Ackermann umgehen, noch weitere Details hinzu. Zum Beispiel, was passiert sei, als herauskam, dass an Merkels Empfang für Ackermann nicht weniger als drei hochrangige Springer-Mitarbeiter teilnehmen durften:

Von diesem Zeitpunkt an scheinen sämtliche Springer-Blätter das Interesse an der Geschichte schlagartig verloren zu haben. Ein Abgeordneter der Opposition berichtet, am Dienstagmorgen hätten ihn die Vertreter der Springer-Presse noch “die Bude eingerannt”, als dann aber die Liste mit den Teilnehmern raus war, “wollte keiner mehr was wissen”.

“Welt”, “Berliner Morgenpost”, “Hamburger Abendblatt”* und “B.Z.” haben die Leser ihrer Zeitungen bis heute nicht informiert, dass ihr Vorstandsvorsitzender und ihre Verlegerin bei dem umstrittenen Abend dabei waren — dabei trägt der Kommentar von “Welt”-Chef Thomas Schmidt zum Thema sogar den vielversprechenden Titel “Villa Merkel und ihre Gäste”.

*) Korrektur, 18:15 Uhr. Das “Hamburger Abendblatt” hat die Teilnehmer aus dem eigenen Haus gestern genannt. Entschuldigung!

Millionen: “Kein Schwein ruft mich ab”

Bild.de berichtet heute (vier Tage nach “Welt Online” und fünf Tage nach “Spiegel Online”), dass die Auszahlung der Mittel aus dem Konjunkturpaket II der Bundesregierung laut Bundesrechnungshof nur schleppend anläuft. Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Thüringen hätten bis Mitte August “keinen einzigen Cent” abgerufen.

Auch in Hessen ist bisher kaum Geld geflossen. Das Land und die Kommunen haben aus dem Konjunkturpaket bisher gerade einmal 60 000 Euro abgerufen. Das entspricht lediglich 0,02% der für 2009 zur Verfügung stehenden Mittel von 360 000 Euro.

Lassen Sie sich nicht irritieren: 60.000 Euro wären natürlich eher 16,67% von 360.000 Euro. Aber 360.000 Euro wären natürlich auch etwas wenig für ein Land wie Hessen. In Wirklichkeit erhält Hessen 720 Millionen Euro Konjunkturhilfen vom Bund — aber auch davon wären 60.000 Euro keine 0,02%. Dieses Zahlenchaos ist aber für den weiteren Verlauf der Geschichte unerheblich. *

FDP-Verkehrsexperte Patrick Döring darf bei Bild.de erklären, dass die Zahlen zeigten, dass die Konjunkturpakete “generell zu langsam und zu schleppend” wirkten.

Die Agenturen AFP, AP und dpa verbreiteten die Zahlen ungeprüft unter Berufung auf Bild.de, wo man sich ja auf den Bericht des Bundesrechnungshofs bezog, und Onlinemedien wie “Focus Online”, heute.de und stern.de bastelten aus den Agenturmeldungen eigene Artikel. Alle beriefen sich auf Bild.de, viele zitierten den FDP-Mann.

Am Vormittag veröffentlichte das hessische Finanzministerium eine Pressemitteilung, in der Finanz-Staatssekretär Thomas Schäfer erklärte:

Nicht 60.000 Euro wurden in Hessen aus dem Konjunkturpaket II des Bundes bislang abgerufen, sondern 4,5 Mio. Euro. Die unter Berufung auf den Bundesrechnungshof genannte Summe entspricht dem Auszahlungsstand vom 15. Juni 2009. […] Der von “bild.de” erweckte Eindruck, Hessen hinke bei der Umsetzung der Konjunkturpakete hinterher, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.

Schäfer gibt den nicht ganz unwichtigen Hinweis, dass die Bundesmittel erst nach Vorlage der Handwerker-Rechnungen rückwirkend vergeben würden. So erklärten auch Vertreter anderer Bundesländer die bisher zögerlichen Auszahlungen: sueddeutsche.de zitiert einen Sprecher des thüringischen Innenministeriums damit, dass in seinem Land bereits ein großer Teil des Geldes verplant sei, und die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern stellte auf Anfrage von n-tv.de klar, dass mittlerweile bereits 2,55 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket abgerufen worden seien.

Der Bundesrechnungshof wollte sich auf unsere Anfrage zu keinen Zahlen aus dem nicht-öffentlichen Papier äußern, erklärte aber, dass man über den wahren Erfolg oder Misserfolg des Konjunkturpakets ohnehin erst befinden könne, wenn das Geld auch an die Handwerksbetriebe ausgezahlt sei.

PS: sueddeutsche.de scheint übrigens nicht so ganz verstanden zu haben, worauf sich die Stellungnahme bezieht:

Und auch der hessische Finanz-Staatssekretär Thomas Schäfer stört sich an dem Bericht des Bundesrechnungshof. “Dieser Bericht verzerrt die Umsetzung der Konjunkturpakete des Landes und des Bundes in Hessen völlig.”

Mit “Bericht” meinte Schäfer allerdings den bei Bild.de — nicht den des Rechnungshofs.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

*) Nachtrag/Korrektur, 14:52 Uhr: Aus den “360.000 Euro” hat Bild.de inzwischen “360 Mio. Euro” gemacht — und das scheint auch tatsächlich die Zahl der für 2009 zur Verfügung stehenden Mittel zu sein. Die von uns genannten 720 Mio. Euro bezogen sich auf die Jahre 2009 und 2010. Und so ergeben natürlich auch die 0,02% einen Sinn.

Jackson, Landesbanken, Pollmer

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “RTL trickst ‘Bild’ & Co. mit Michael-Jackson-Fake-Video aus”
(bartlspielt.de)
Am Dienstag war auf YouTube ein Video zu sehen, in dem jemand, der an Michael Jackson erinnert, aus einem Leichenwagen steigt. Das Video online gestellt hat der TV-Sender “RTL” für einen Bericht des Boulevard-Magazins “Explosiv” namens “Wie leichtgläubig sind Verschwörungstheoretiker?”, der heute Abend um 18 Uhr gezeigt wird. Bild.de berichtete darüber und zeigt sich nun enttäuscht.

2. “Kaum Auskünfte – Sonderzahlungen bei den Landesbanken”
(ndr.de, Video, 6:49 Minuten)
Ein Report der medienkritischen Sendung “Zapp” über das große Schweigen bei den deutschen Banken.

3. Udo Pollmer besucht Journalistenschüler
(axel-springer-akademie.de, Nina Trentmann)
Der Ernährungsexperte Udo Pollmer warnt Journalistenschüler der Axel-Springer-Akademie vor “Skandal-Studien” und bringt ihnen bei, “wie manipulierbar wissenschaftliche Untersuchungen sind”. “Quatsch” sei zum Beispiel “der von Journalisten viel zitierte Body Mass-Index” – “genauso gut könne man bei einer Frau die Körbchengröße mit dem Schädelumfang verrechnen, um den IQ zu bestimmen.”

4. “Der neue alte Journalismus”
(kaliban.de)
“Ich sorge mich nicht um den Journalismus. Bedarf gibt es in dieser komplexen Welt genug. Man wird, jetzt und in Zukunft, seine Zielgruppen finden, wenn man Journalismus als Service versteht. Wenn man seinen Lesern objektiv und verständlich die Welt erklärt. Wenn man sich vorurteilsfrei bemüht, die Stärken jedes Medienkanals zu nutzen. Wenn man die Leser ernst nimmt und auf sie hört.”

5. “Briefkasten leer”
(presseverein.ch/blog)
Als hätten die Schweizer Zeitungsverlage nicht schon genügend Probleme, erhalten sie jetzt auch noch ein Ultimatum der Verträger ihrer Blätter. Rund 60 Zeitungsverträgerinnen und -verträger versammelten sich um 4 Uhr morgens vor dem Zürcher Volkshaus und verlangten eine Rücknahme der angekündigten Lohnsenkungen von bis zu 20 Prozent.

6. “25 things journalists can do to future-proof their careers”
(econsultancy.com/blog, englisch)
Was Journalisten tun können, um ihre Karriere in Zukunft zu sichern.

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Was Gerhard Schröder alles sagte

Die Ackermann-Sause ist nach einigen Anlaufschwierigkeiten inzwischen auch ein größeres Thema für “Bild”:

Das Abendessen für Josef Ackermann im Kanzleramt: Schröder und Steinbrück unterstützen Merkel!

Überraschend erhielt die Kanzlerin gestern Beistand von ihrem Vorgänger. Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD): “Mit der Veranstaltung für Herrn Ackermann habe ich kein Problem!”

Schröder verteidigte auch die gestiegenen Ausgaben im Kanzleramt für Bewirtungen: “Die Erhöhung ist in Ordnung. Schließlich leben wir nicht in einer Bananenrepublik und man sollte seine Gäste ordentlich bewirten.”

Gesagt hat der Altkanzler das bei “Spiegel Online”.

Laut gleichem Artikel sagte Schröder mit Blick auf die Vorwürfe, er habe in zwei Jahren “533.000 Euro Spesen” gemacht, übrigens auch:

“Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass sich die ‘Bild’-Zeitung in Wahlkampf-Zeiten vor den Karren der Union spannen lässt”, sagt Schröder. “Das ist ein durchsichtiges Manöver.”

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Die Springers bei der Ackermann-Sause (2)

Übrigens ist die Deutsche Bank seit vergangenem Dezember Großaktionär der Axel-Springer-AG.

Das ist vielleicht keine ganz unwesentliche Information, um zu verstehen, wie “Bild” mit dem Abendessen umgeht, das Bundeskanzlerin Angela Merkel im vergangenen Jahr zum 60. Geburtstag des Deutsche-Bank-Chefs Josef Ackermann ausrichtete. (Unter den 25 Gästen waren zufällig auch drei hochrangige Springer-Vertreter.)

Anders als ungefähr immer bei ähnlichen Anlässen mag “Bild” die Empörung diesmal nicht teilen oder sich gar an die Spitze der Entrüstungskarawane stellen. Gestern hat sie das Thema (wie berichtet) ganz ignoriert. Heute räumt sie ihm breiten Raum ein.

Im Leitartikel kommentiert Einar Koch haarscharf am Thema vorbei:

Wenn die Kanzlerin der größten Wirtschaftsnation Europas nicht einmal mehr 25 wichtige Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zum Abendessen einladen darf — dann gute Nacht, Deutschland!

(Der Name Ackermann und die Tatsache, dass sein Geburtstag Anlass für die Einladung gewesen sein soll, kommt in dem Kommentar nicht vor.)

Hugo Müller-Vogg fragt:

Wer darf auf Steuerzahlers Kosten im Kanzleramt dinieren*? *festlich essen

Er beantwortet die Frage nicht, sagt aber, Gäste wie Verlegerin Friede Springer, “FAZ”-Herausgeber Frank Schirrmacher, “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann und der Präsident des Goethe-Instituts Klaus-Dieter Lehmann kämen “häufiger ins Kanzleramt”.

Und “Bild”-Autor Dirk Hoeren enthüllt, dass “auch Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder (SPD) die Möglichkeit [solcher Bewirtungen] häufig nutzte” und rechnete vor, dass dessen “Spesen” sich 2004 und 2005 auf insgesamt 533.000 Euro beliefen. Dass der entsprechende Etat unter Merkel offenbar erhöht wurde, erfährt der “Bild”-Leser nicht.

Anders als bei, sagen wir: der Dienstwagen-Affäre von Ulla Schmidt oder Wolfgang Thierses 60. Geburtstag vor sechs Jahren, scheinen “Bild” die konkreten Kosten, die bei dem umstrittenen Empfang für Ackermann anfielen und die das Kanzleramt bislang nicht nennen wollte, nicht einmal zu interessieren.

Das ist einerseits erstaunlich für “Bild”, eine solche Chance zur (gerechtfertigten oder ungerechtfertigten) Skandalisierung nicht zu nutzen. Und andererseits vielleicht auch nicht — für ein parteinahes Stieftochterblatt der Deutschen Bank.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

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Den Falschen zum Todesschützen gemacht

Nicht weniger als drei Autorenkürzel stehen unter dem “Bild”-Artikel über das Familiendrama, bei dem ein Mann am vergangenen Samstag in Sundern seine Frau auf offener Straße erschoss. Aber es waren entweder nicht genug — oder einfach zu viele “Bild”-Autoren beteiligt, um einen gravierenden Fehler zu verhindern: Den Täter mit seinem Bruder zu verwechseln.

“Bild” hat zwar den Nachnamen der Eheleute abgekürzt, aber sich — wie üblich — keine Mühe gemacht, die Beteiligten tatsächlich zu anonymisieren. Das Blatt nennt den ungewöhnlichen Vornamen des vermeintlichen Täters, schreibt, wo er arbeitet und zeigt ein Foto des Hauses der Familie.

Das ist in diesem Fall besonders dramatisch, denn die Namen sind nicht die von Täter und Opfer, sondern vom Bruder des Täters und seiner Frau. Auch die “Hintergründe” des Artikels basieren teilweise auf dem Leben des Bruders.

Man kann sich ausmalen, wie sehr das das Leid der überlebenden Verwandten vergrößert hat, dass sie in ihrer Situation nun auch noch als Täter und Todesopfer dargestellt wurden. Und das nur, weil eine große Boulevardzeitung nicht anonymisieren will und nicht recherchieren kann.

PS: Heute korrigiert sich “Bild” am Ende eines weiteren Artikels zum Thema:

Durch eine bedauerliche Namensverwechslung war der engagierte Trainer des Fußballvereins […] bei BILD.de als Täter und seine Frau als Opfer bezeichnet worden. Beide haben mit dem Verbrechen nichts zu tun.

Beckedahl, Baumann, Marzahn

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Eine Erwiderung auf Detlef Esslingers Kritik an der Journalistik”
(journalistiklehrbuch.wordpress.com, Klaus Meier)
Klaus Meier nennt den Artikel “Journalistik, ein Leerfach” von Detlef Esslinger zuerst hasserfüllt, dann doch lieber nur polemisch und meint: “Joseph Pulitzer würde sich im Grabe umdrehen, könnte er die ‘Süddeutsche Zeitung’ lesen.”

2. “Markus Beckedahl, Deutschlands wichtigster Blogger”
(upload-magazin.de, Jan Tißler)
Ein Porträt des Machers von netzpolitik.org: “Er ist nicht die Rampensau, nicht der Showtyp. Er greift zum Mikro, wenn es die Sache erfordert und er wenn er es macht, dann merkt man: Er ist es selbst. Der Mensch, dem man dort zuhört, der ist echt.”

3. Rede von Udo Di Fabio
(solinger-tageblatt.de)
Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio kann sich nicht vorstellen, dass die Lokalzeitung jemals verschwindet: “Eine demokratische Bürgergesellschaft, echte Zivilgesellschaft entsteht nur über Räume, in denen lebensnahe Identitäten in Vereinen, im Sport, im Ambiente von Kunst, Kultur und Unterhaltung gepflegt und politische Entscheidungen beobachtet werden können: Welches Medium sollte die Lokalzeitung dabei auf kommunaler Ebene ersetzen?”

4. “Was passiert mit unserer Online-Identität, wenn wir tot sind?”
(blog.jacomet.ch, Andi Jacomet)
Andi Jacomet schreibt über den Tod des Journalisten Eric Baumann, der im Magazin eine lesenswerte Kolumne über seinen Hirntumor führte.

5. “Marzahner Plattenkritik”
(tagesspiegel.de, Andre Görke und Carl-Friedrich Höck)
Der “Tagesspiegel” prüft anlässlich der Aussagen von ZDF-Reporter Wolf-Dieter Poschmann in zehn Punkten die Vorurteile über den Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf.

6. “Hoffentlich lernen das die Schüler besser”
(blick.ch)
Rechtschreibfehler kann man nicht nur auf Papier drucken oder ins Internet stellen, man kann sie auch groß auf die Straße schreiben.

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