Artenschutz, Huffington Post, Froh!

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Nirgends dumme Nutzer, kein Artenschutz”
(carta.info, Gisela Schmalz)
Gisela Schmalz glaubt, dass sich die Printverlage grundlegend verändern müssen, um im Internet Erfolg zu haben. “Sie stellen freud- und phantasielose Dubletten von Printprodukten ins Netz, rufen nach Webwerbekunden und folgen ansonsten ihrem Trott, darauf hoffend, in der digitalen Welt gehe alles so weiter wie in der analogen. Doch jedes surfende Kind weiß, dass das Netz ganz anders aussieht und weder starr ist, noch Starre zulässt. Die Technologien verändern sich permanent und mit ihnen die Aktivitäten der Nutzer.”

2. “Die Not der freien Journalisten”
(ndr.de, Video, 8:08 Minuten)
“Zapp” schildert die zunehmenden Mühen von drei freien Journalisten, mit ihrem Beruf ein Einkommen zu erwirtschaften, von dem sie leben können.

3. Interview mit Michael Schmidt
(utopia.de, Sabine Letz)
Michael Schmidt ist Mitherausgeber des Magazins “Froh!”, ein “Gesellschaftsmagazin”: “Wir wünschen uns, das ganze Leben ehrlich und in seiner Fülle abzubilden. Und dass Menschen, die ‘Froh!’ lesen, denken: So bin ich auch. Das kann ich auch! Und nicht: Das habe ich nicht. So werde ich nie sein.”

4. Drei G+J-Titel im Kurztest
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Kurz getestet: die neuen Magazine “Beef”, “Gala Men” und “Business Punk” aus dem Verlag Gruner+Jahr.

5. “How The Huffington Post uses real-time testing to write better headlines”
(niemanlab.org, Zachary M. Seward, englisch)
Die “Huffington Post” testet wahlweise Artikelüberschriften. Verwendet wird nach fünf Minuten die besser geklickte Version: “Readers are randomly shown one of two headlines for the same story. After five minutes, which is enough time for such a high-traffic site, the version with the most clicks becomes the wood that everyone sees.”

6. “85 wordpress plugins for blogging journalists”
(onlinejournalismblog.com, Paul Bradshaw, englisch)
Paul Bradshaw stellt erweiterte Funktionen der Blog-Software WordPress vor, die für bloggende Journalisten von Nutzen sein könnten.

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Eislinger Mordprozess: Träumen vom Pool

Das Interesse der Medien ist riesig, aber die meisten müssen draußen bleiben. Das Ulmer Landgericht hat nur neun Journalisten erlaubt, im Gerichtssaal dabei zu sein, wenn in diesen Tagen der Vierfachmord von Eislingen verhandelt wird (Verfügung des Vorsitzenden als PDF). Die Entscheidung fiel per Losentscheid: Neben der örtlichen “Südwest-Presse” dürfen unter anderem “Spiegel”, “Stern”, RTL und dpa dabei sein. Einige der Ausgeschlossenen, die “Süddeutsche Zeitung” sowie die Nachrichtenagenturen AP und ddp, legten dagegen Verfassungsbeschwerde ein. Die wurde vom Bundesverfassungsgericht heute jedoch abgewiesen: Dadurch, dass die Presse zu einem eigentlich nicht-öffentlichen Prozess nur begrenzt zugelassen werde, sollten die Persönlichkeitsrechte der beiden 19-jährigen Angeklagten geschützt werden. Die Beschränkung habe erzieherische Gründe, diene aber auch der Wahrheitsfindung und sei zulässig.

Medien wie die “Süddeutsche” und die “Stuttgarter Zeitung” stützen sich in ihren Artikeln über das Geschehen im Gerichtssaal notgedrungen auf die Meldungen von dpa und machen das auch transparent. Für eine große deutsche Boulevardzeitung, die ebenfalls kein Losglück hatte, scheint diese Möglichkeit hingegen nicht ausreichend zu sein: Die “Bild”-Zeitung erwartet von den akkreditierten Pressevertretern, dass sie ihr zuarbeiten, und glaubt, dass die Kollegen dazu juristisch sogar verpflichtet seien.

Der Chefreporter von “Bild”-Stuttgart, Robin Mühlebach, forderte die Medien in einer E-Mail an Reporter und Chefredakteure am Dienstagabend auf, ihm “unverzüglich nach Beendigung der jeweiligen Verhandlung … sämtliche Information über den Verlauf des Verfahrens zur Verfügung zu stellen. Hierzu gehören natürlich auch Hintergrundinformationen sowie kleinere Details und Stimmungsbilder.” Dazu seien sie als “Poolmitglieder” verpflichtet.

Doch von einem sogenannten “Pool”, bei dem etwa nur ein Kamerateam zu einem Termin zugelassen wird und seine Aufnahmen allen anderen zur Verfügung stellen muss, ist in diesem Prozess gar nicht die Rede: Es ist bloß die Anzahl der Plätze für Journalisten beschränkt.

Ein Empfänger der Mail fühlt sich durch Mühlebachs Schreiben an eine “Nötigung” erinnert, ein anderer nennt sie “mehr als unverschämt”. Sehr groß scheint die Bereitschaft der akkreditierten Journalisten jedenfalls nicht zu sein, sich als Hilfs-“Bild”-Autoren zu betätigen.

Das “Bild”-Schreiben im Wortlaut:

Sehr geehrte […],

Durch die Mitteilung des Pressesprechers des Landgerichtes Ulm vom 6.10.2009 haben wir erfahren, dass Sie Mitglied des Pressepools sind, der vor Ort den Strafprozess gegen [falsch geschriebener Name eines Angeklagten] und [Name des anderen Angeklagten] verfolgt und hierüber berichtet. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes sind die Poolmitglieder — wenn es um Fotos oder Filmaufnahmen geht — verpflichtet, diejenigen Medienvertreter, die nicht im Saal anwesend sind, unverzüglich mit den entstandenen Aufnahmen zu versorgen. Nichts anderes gilt dann, wenn es — wie in diesem Fall — um die Weitergabe von Informationen über den Verlauf des Verfahrens geht.

Wir müssen Sie deshalb bitten, uns unverzüglich nach Beendigung der jeweiligen Verhandlung, uns sämtliche Information über den Verlauf des Verfahrens zur Verfügung zu stellen. Hierzu gehören natürlich auch Hintergrundinformationen sowie kleinere Details und Stimmungsbilder. Da wir um 18 Uhr Redaktionsschluss haben, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns die Informationen bis 16 Uhr zur Verfügung stellten.

Wir bedanken uns für Ihre kollegiale Unterstützung und verbleiben

Mit freundlichen Grüßen

Robin Franz Mühlebach

Chefreporter

BILD-Stuttgart

[…]

Eine Anfrage von BILDblog ließ Mühlebach unbeantwortet.

niiu, Nido, Nachtmagazin

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Personalisierte Zeitung niiu: Wegweisend oder zum Scheitern verurteilt?”
(medialdigital.de, Ulrike Langer)
Ulrike Langer zweifelt daran, dass die personalisierte Tageszeitung “niiu” Erfolg haben wird. Die Inhalte finde man größtenteils kostenlos im Netz und sie seien von gestern.

2. Interview mit Karl Lüönd
(tagesanzeiger.ch, Erwin Haas und Maurice Thiriet)
Heute feiert die Schweizer Boulevardzeitung “Blick” ihren 50. Geburtstag mit einem Relaunch. Publizist Karl Lüönd antwortet auf die Frage “Kann man denn als Boulevardblatt anständig bleiben?”: “Ja. Qualität und Integrität sind auf jedem Niveau möglich.”

3. Interview mit Timm Klotzek und Michael Ebert
(tagesspiegel.de, Sonja Pohlmann, Dominik Bardow und Johannes Gernert)
Timm Klotzek vom Elternmagazin “Nido” erklärt seine Themenauswahl gleich drei Journalisten: “Themen, über die man sich privat länger unterhält, die wandern eher auf den Zettel.” – Doch es gibt Grenzen: “Blöd wäre da: ‘Bundestagswahl? Habe ich gar nicht mitgekriegt. Die kleine Leonie schläft so unruhig in letzter Zeit …’“

4. “Ätzt bloß nicht gegen das Netz, sonst droht der Aufstand im Kindergarten!”
(falter.at, Susanne Gaschke)
“Zeit”-Journalistin Susanne Gaschke glaubt, dass durch die Individualisierung “ein riesengroßes Kommunikationsdefizit entstanden” ist. Sie fürchtet, dass alle durch den “Spätkapitalismus” zu “Kind-Erwachsenen” verzwergen: “Das Netz verheißt solchen in Frustrationstoleranz und Bedürfnisaufschub wenig geschulten Kind-Erwachsenen die tröstliche Stillung ihres Kommunikationshungers, überall, zu jeder Zeit. Wenn jemand droht, ihnen dieses herrliche Spielzeug, dieses beruhigende Milchfläschchen wegzunehmen – ja, dann gibt’s halt Aufstand im Kindergarten.”

5. “Panne: Nachtmagazin auf Drogen”
(youtube.com, Video, 1:14 Minuten)
Grafiken verschiedener Koalitionsmöglichkeiten übernehmen das ARD-Nachtmagazin.

6. “Jetzt auf einmal”
(hermsfarm.de)
Fußball: Herm erhält ein Angebot per SMS.

Castingshowskandale: Sex, Drugs & Interviews

Der Titel ist vielversprechend: “Sex, Drugs und Castingshows” haben Martin Kesici und Markus Grimm ihr Enthüllungsbuch genannt, in dem sie erzählen, was es bedeute, vom Fernsehen zum “Star” gemacht zu werden, und den Verantwortlichen Manipulationen und Verantwortungslosigkeit vorwerfen. Kesici hatte 2003 die Sat.1-Sendung “Star Search” gewonnen, Grimm wurde ein Jahr später bei “Popstars” auf Pro Sieben zum Mitglied der Gruppe Nu Pagadi gemacht.

Das Online-Jugendmagazin der “Süddeutschen Zeitung”, jetzt.de, hat ein Interview mit den beiden geführt, das aufgrund einer Kooperation auch auf “Spiegel Online” zu lesen ist. Die “Spiegel Online”-Version ist allerdings, wie es unter dem Text heißt, “(leicht gekürzt)”. Das stimmt tatsächlich: Es fehlen nur ein paar Sätze, und ein paar Wörter sind anders. Zum Vergleich:

jetzt.de “Spiegel Online”
Markus: Ich glaube nicht, dass den Zuschauern klar ist, wie sie manipuliert werden. Wie bei einem Kartenspielertrick lassen sie sich da hinlenken, wo die Produktionsfirma es will. Die Leute, die dem Sender gefallen, werden in’s rechte Licht gerückt, bekommen Homestorys. Statt die Musik sprechen zu lassen, zählt vor allem das Private. Bei uns hieß es eines Tages, wir dürften alle mit einem Psychologen sprechen. Als wir dann gegangen sind, hab’ ich das Türschild gesehen. Da stand “Heilpraktiker”. Markus: Ich glaube nicht, dass den Zuschauern klar ist, wie sie manipuliert werden. Wie bei einem Kartenspielertrick lassen sie sich da hinlenken, wo die Produktionsfirma es will. Die Leute, die dem Sender gefallen, werden ins rechte Licht gerückt, bekommen Homestorys. Statt die Musik sprechen zu lassen, zählt vor allem das Private.
jetzt.de: Glaubst du, er hat das, was ihr ihm im Vertrauen erzählt habt, weitergegeben?
Markus: Ich hab’ natürlich keine Beweise, aber wir sind danach auf Dinge angesprochen worden, die wir niemand anderem erzählt hatten.
Martin: Bei mir hat die Produktionsfirma offenbar gezielt Informationen an die BILD weitergegeben. Es war mir eh schon unangenehm genug, denen gegenüber zuzugeben, dass ich vorbestraft war. Kurz darauf hat mich dann ein Reporter angerufen und gesagt, wenn ich das Viertelfinale gewinne, würden sie alles bringen. Ich solle mich besser dazu äußern. Martin: Bei mir wurden offenbar gezielt Informationen an Medien weitergegeben. Es war mir eh schon unangenehm genug, denen gegenüber zuzugeben, dass ich vorbestraft war. Kurz darauf hat mich dann ein Reporter angerufen und gesagt, wenn ich das Viertelfinale gewinne, würden sie alles bringen. Ich solle mich besser dazu äußern.

“Spiegel Online” hat das Interview entschärft und die konkreten Vorwürfe gegen die Produktionsfirma (Grundy Light Entertainment) und die “Bild”-Zeitung entfernt. Grund dafür sind, wie Jochen Leffers, Ressortleiter des “UniSpiegel” auf Anfrage erklärt, juristische Bedenken der Rechtsabteilung des “Spiegels”. Kesici sagt zwar im Interview, ihm sei es inzwischen egal, wenn die Autoren “eine rechtliche Backpfeife” für ihre Darstellungen im Buch kriegen. Dem “Spiegel” war das allerdings nicht ganz so egal.

Und die deutsche Rechtsprechung kennt das Prinzip der Verbreiterhaftung: Das heißt, dass Grundy oder Springer im Zweifel nicht nur gegen Kesici und Grimm vorgehen könnten, sondern gegen jeden, der ihre Vorwürfe publiziert, ohne sich eindeutig davon zu distanzieren. Das gilt auch bei Interviews, wie ausgerechnet Helmut Markwort, der “Erste Journalist” der Verlagsgruppe Burda und “Focus”-Herausgeber, mit einer erfolgreichen Klage gegen die “Saarbrücker Zeitung” bewies.

Nach den Worten von Leffers lehrt die Erfahrung, dass das Risiko, dass Kläger gegen “Spiegel Online” vorgehen, “wegen der großen Reichweite deutlich größer” sei “als bei den meisten anderen Online-Medien”. Deshalb habe man sich in Absprache mit der eigenen Rechtsabteilung und der jetzt.de-Redaktion für die Änderungen entschieden — das hätte man auch getan, wenn es nicht konkret um die “Bild”-Zeitung gegangen wäre.

Und wir halten pflichtschuldig fest, dass wir nicht wissen, ob die Vorwürfe von Martin Kesici gegenüber der Produktionsfirma und der “Bild”-Zeitung stimmen, fügen aber hinzu, dass sich unsere Überraschung in Grenzen hielte, wenn es so wäre.

Übrigens erschien am 21. Juli 2003 folgender Artikel in der “Bild”-Zeitung:

Darf so einer Deutschlands neuer Superstar werden? Verurteilt wegen Drogen!

Von Dittmar Jurko

Berlin — Muss ein Superstar nicht auch ein Super-Vorbild sein?
Anlagen-Mechaniker Martin Kesici (30) rührte am Samstag alle in der SAT1-Talentshow “Star Search”, voller Hingabe sang er den Schmusesong “She’s like the wind”. Zuschauer und Jury gaben ihm Höchstnoten.

Wie BILD erfuhr, ging auch ein deutscher Richter bei ihm bis an die Obergrenze! 1998 wurde der Nachwuchssänger aus Berlin wegen Drogenbesitzes verurteilt! Ein Jahr Gefängnis, ausgesetzt auf zwei Jahre Haft auf Bewährung!

Martin Kesici zu BILD: “Ja, es stimmt. Ich bestellte damals oft per Telefon Haschisch bei einem Bekannten.” (…)

Mit Dank an Claus H.!

Von Dreckschweinen und Wiederholungstätern

Vor etwa zwei Monaten hatte das Bundeskriminalamt in einer bis dato einzigartigen Aktion in verschiedenen Medien nach einem Mann gefahndet, dem mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wurde. Als sich der mutmaßliche Täter aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit nach einem Tag stellte, bat das BKA, die zur Fahndung veröffentlichten Fotos nicht weiter zu verwenden und aus dem Internet zu entfernen. Dieser Bitte kamen die deutschen Medien mit unterschiedlichem Eifer nach (BILDblog berichtete).

Heute nun hat die Staatsanwaltschaft Trier Anklage gegen den Tatverdächtigen erhoben — eine Nachricht, die Bild.de natürlich gerne aufgreift.

Zum Beispiel so:

Die jeweils amtierenden “schlimmsten Kinderschänder Deutschlands” von “Bild” und “BamS”:

“Schlimmster Kinderschänder frei!”
(Gestand Missbrauch von 150 Mädchen)
(16.11.1997)

“Der Ehrendoktor der Universität […] ist Deutschlands schlimmster Kinderschänder.”
(Vergewaltigte mehrere Mädchen auf den Philippinen.)
(12.12.1999)

“Das Rekord-Schwein: Deutschlands schlimmster Kinderschänder.”
(Missbrauchte seine Stieftochter in 3586 Fällen.)
(7.5.2004)

“Deutschlands schlimmster Kinderschänder sitzt im Knast und jammert!”
(Hatte eine 13-Jährige 36 Tage lang eingesperrt und 100 Mal vergewaltigt und missbraucht.)
(7.8.2007)

“Grinst hier Deutschlands schlimmster Kinderschänder?”
(Soll in 20 Jahren 28 Jungen und Mädchen missbraucht haben.)
(3.3.2008)

“Mittwochabend zeigte ‘Aktenzeichen XY”‘ (ZDF) die Bilder des schlimmsten Kinderschänder Deutschlands.”
(Der aktuelle Fall.)
(7.8.2009)

Anklage erhoben: Schlimmster Kinderschänder vor Gericht

(Wie genau Bild.de auf den Superlativ “Deutschlands schlimmster Kinderschänder” kommt, ist nicht ganz klar — von der Staatsanwaltschaft Trier stammt er jedenfalls nicht.)

Im Artikel selbst werden munter alte und neue Bildergalerien verlinkt, in denen der Mann, den Bild.de konsequent als “Kinderschänder” bezeichnet — ganz so, als sei er schon verurteilt worden –, immer gut zu erkennen ist. Ganz zu oberst: Ein Clip, in dem die Videosequenzen zu sehen sind, deren weitere Veröffentlichung das BKA sich ebenfalls verbeten hatte.

Video auf Bild.de

Aber selbst für den (eher unwahrscheinlichen) Fall, dass das BKA die Bild.de-Redakteure mit vorgehaltenen Waffen zur Löschung der ehemaligen Fahndungsfotos zwingt, hätte die Seite noch was in petto: zum Beispiel ein Foto, das die “Sex-Bestie” bei einem Turnfest “mit seinen jungen Schützlingen” zeigt. Die Kinder auf dem Bild sind anonymisiert, der Angeklagte natürlich nicht. Darunter steht der Hinweis “Foto: Alexander Blum”, was zumindest einige Mutmaßungen darüber zulässt, wie “Bild” diesmal an das Foto gekommen sein könnte.

Aber all das ist wie gesagt nichts Neues für Bild.de. Auch die Bildunterschrift “Mit diesem Bild fahndete das BKA nach dem Dreckschwein” (“Dreckschwein” ist in diesem Fall keine vom BKA verwendete Formulierung) gab es in ähnlicher Form schon in der gedruckten “Bild”. Es ist nur erstaunlich, mit welcher Vehemenz die Redaktion Bitten des Bundeskriminalamts und Missbilligungen des Deutschen Presserats ignorieren zu können meint.

Nachtrag, 14. Oktober: Und so behandelt die gedruckte “Bild” heute das Thema (alle gelben Flächen von uns):

Deutschlands schlimmster Kinderschänder: Die Anklage

Bei der Quellenangabe der Fotos war “Bild” übrigens besonders zynisch dreist genau: “Fotos: BKA” steht dort.

Heidi Klums schwere Geburt

Jetzt wissen es alle: Heidi Klums viertes Kind hat die Welt erblickt — und das bereits am vergangenen Freitag, wie das Model auf seiner Homepage bekannt gibt. Drei Tage mussten sich die Medien in Ungewissheit wiegen, drei Tage gab es keinen Kommentar von der Familie, drei Tage schwankte die Promi-Presse zwischen Euphorie und Selbstzweifeln.

Schon am Freitag hatte das Celebrity Paparazzi-Magazin radaronline.com die Geburt gemeldet. In zwölf kurzen Zeilen verriet der Dienst Zeitpunkt der Geburt und den Namen des Babys. Quelle: unbekannt. Verlässlichkeit: gering.

Doch ein Internet-Gerücht ist ein Internet-Gerücht — also muss man die Leser schnell informieren. So sieht das zumindest die Redaktion von “Bild am Sonntag” und schickte prompt die ersten Geburtstagsglückwünsche:

BamS gratuliert zu Töchterchen Lou! Die Kleine soll Freitagnacht auf die Welt gekommen sein

Da nun ein deutsches Medium mit Millionenauflage berichtet hatte, durfte das Gerücht natürlich in die vermeintlich seriöseren Medien vordringen. So fand sich in der “Welt am Sonntag” diese Meldung:

Model Heidi Klum ist laut Medienberichten zum vierten Mal Mutter geworden. Das berichtete

“Unter Berufung auf amerikanische Internetseiten” kann man offenbar jedes Gerücht ins Blatt heben — vorausgesetzt, jemand anderes hat es vor einem getan.

Doch Heidi Klum ließ sich von dieser Eile nicht beeindrucken: Sie gab weder eine Bestätigung, noch ein Dementi heraus. Gleichzeitig widersprach zum Beispiel das Klatschblatt Usmagazine.com dem Bericht von radaronline, was die Redakteure von Bild.de in eine Sinnkrise stürzte. Wenn zwei unterschiedliche Meldungen im Internet kursieren, welcher soll man glauben?

Und so legte Bild.de am Sonntag nach:

Heidi Klum und Seal - Rätselraten um Heidis Baby

Darin hieß es:

Offiziell bestätigt hat das Topmodel das aber noch nicht. Mit Gerüchten auf Internetseiten “habe ich nichts zu tun”, steht auf Heidis Homepage. “Meine Anmerkungen finden ausschließlich hier statt und nirgendwo sonst.”

Dass die Autoren dieser Meldung nach anderthalb Tagen auf die Idee gekommen sind, auf Heidi Klums Homepage nachzusehen, ist zwar schon ein Fortschritt — mit dem Lesen haperte es aber etwas. Denn das zitierte Dementi hat mit der Geburt von Heidi Klums Tochter nichts zu tun. Wie man der Überschrift des Statements entnehmen kann, ging es nicht um die Geburt, sondern um Nachrichten auf Twitter, MySpace und Co. Dort hatte ein Virus Nachrichten mit angeblichen Videos von Heidi Klum verbreitet.

Ein Gerücht, ein gegenteiliges Gerücht und ein Dementi zu einer völlig anderen Geschichte. Wer denkt, daraus sei keine journalistische Meldung zu machen, arbeitet offenbar nicht für den ORF, die Münchner “Abendzeitung”, gala.de oder Focus.de, die sich (häufig über den Umweg der Nachrichtenagentur ddp) alle der Baby-Spekulationen von Bild.de und “Bild am Sonntag” anschlossen.

Den Vogel schoss freilich das “Hamburger Abendblatt” ab, indem es die Meldung noch etwas ausschmückte:

Doch bisher ist die Ankunft des Kindes offiziell nicht bestätigt. Auf ihrer eigenen Homepage dementiert Heidi Klum die Gerüchte um die Geburt und erklärt, sie habe keinen dieser Berichte bisher bestätigt. Alle aktuellen Informationen liefen ausschließlich über ihre offizielle Homepage.

Doch hatten die Redakteure des “Abendblatts” offenbar Hemmungen, bei Bild.de etwas abzupinnen, was alleine auf den Angaben eines US-Klatschmagazins beruhte. Also recherchierten sie nach googelten sie flüchtig und fanden tatsächlich eine Bestätigung für die Geburtsmeldung:

Der amerikanische Internetdienst RadarOnline.com berichtete exklusiv über die angebliche Geburt des vierten Klum-Sprösslings und auch Indien gratulierte via oneindia.in dem Model zur Geburt ihrer zweiten Tochter.

Woher ganz Indien das wohl wusste? Das “Abendblatt” hat den Bericht sogar verlinkt:

Supermodel Heidi Klum has become a proud mum for the fourth time, giving birth to her first daughter with husband Seal, according to reports. The supermodel welcomed baby Lou Samuel on Friday morning, according to RadarOnline.com.

(Supermodel Heidi Klum ist zum vierten Mal stolze Mutter geworden und hat nach Berichten ihre erste Tochter mit Ehemann Seal bekommen. Das Supermodel begrüßte Baby Lou Samuel am Freitagmorgen, berichtete RadarOnline.com)

Als Beleg für das Gerücht verwendet das “Abendblatt” die Wiedergabe des gleichen Gerüchts. Wie soll man das nennen? Möbius’sche Quellenvermehrung?

Gerdemann, Brigitte, Irre

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1. “Präsentation: gewaltig. Beweislage: lausig”
(faz.net, Michael Eder)
Die ARD-Sportschau stellt Radprofi Linus Gerdemann aufgrund von Schwankungen bei den Hämoglobinwerten unter Dopingverdacht. Anti-Doping-Experte Klaus Pöttgen hält das für “absolut unseriös”: “Zwei solche Werte einfach in die Öffentlichkeit knallen, das geht nicht, das ist eine Katastrophe für den betreffenden Sportler.”

2. “Times Metro Desk Cancels All Newspaper, Magazine Subscriptions”
(observer.com, John Koblin, englisch)
Die Stadtredaktion der “New York Times” muss sich die Konkurrenzblätter auf Papier zukünftig selbst kaufen. Das eingesparte Geld soll für die Bezahlung von freien Journalisten verwendet werden.

3. “Tipps für Journalisten”
(stigma-videospiele.de)
Ein Dossier über “Killerspiele” für Journalisten, das “Autoren ein bisschen Recherchearbeit abnehmen und einige allgemeine Schwachstellen bei Artikeln” aufzeigen soll. “Ich hoffe, dass diese Ratschläge für den einen oder anderen eine Hilfe darstellen und vielleicht zu einer sachlicheren Berichterstattung über gewaltdarstellende Videospiele führen.”

4. “Perfide Aktion”
(epd.de, Katrin Schuster)
Katrin Schuster nennt die Aktion “Ohne Models” der Zeitschrift “Brigitte” eine perfide PR-Aktion, die “schon wieder die (und nur die)” treffe, “die in dieser Branche ohnehin keine Stimme haben, weil sie tatsächlich die seelenlosen, rechtlosen und charakterlosen Geschöpfe sind, die die Designer und Produzenten sich heranziehen”. Frauenzeitschriften wie die “Brigitte” seien jahrelang darum bemüht gewesen, “Frauen auf Stromlinienform zu trimmen – und dann werfen sie ihnen genau das vor.”

5. “Jamaika steht für Einfalt bei den Symbolfotos im Online-Journalismus”
(pottblog.de, Jens)
Abendzeitung.de, faz.net, stern.de und focus.de berichten mit den gleichen Symbolfotos über die Jamaika-Koalition im Saarland.

6. “IRREIRRE!”
(irreirre.tumblr.com)
Die Website irreirre.tumblr.com sammelt “irre” Schlagzeilen von Bild.de.

Berge versetzen

Es ist offenbar gar nicht falsch, was Bild.de heute schreibt:

Der Winter kommt! Auf dem Fichtelberg (Sachsen) ist der erste Schnee gefallen. Auch auf dem Brocken (Sachsen-Anhalt) gab es die ersten Flocken.

Es ist aber schon falsch, wenn Bild.de aus diesen Informationen folgende Überschrift ableitet:

Skandinavische Kaltfront bringt den Winter: Erster Schnee im Fichtelgebirge

Das Fichtelgebirge befindet sich nämlich im Nordosten Bayerns — und damit etwa 80 Kilometer vom Fichtelberg (Sachsen) entfernt.

Um die Verwirrung einerseits zu erklären, andererseits zu vergrößern: Es gibt im Fichtelgebirge die Gemeinde Fichtelberg, die allerdings am Berg Ochsenkopf gelegen ist.

Mit Dank an Stefan H., Christian F., Ralph F., Andreas H. und Alex G.

Nachtrag, 13. Oktober: Seit heute Morgen ist die Überschrift etwas allgemeiner gehalten:

Skandinavische Kaltfront bringt Schnee: Wintereinbruch in Teilen Deutschlands

Anti-Journalismus-Demonstration

Um was, denken Sie, geht es bei “Islam-Demonstrationen” …

Bei Islam-Demonstrationen in Manchester sind am Samstagabend 48 Menschen festgenommen worden

… deren Teilnehmer “Islam-Demonstranten” sind?

Polizei nahm 48 Islam-Demonstranten in Manchester fest

Man könnte vermuten, dass es sich bei einer “Islam-Demo” um eine Versammlung von Moslems handelt. Und bei so einer Veranstaltung wurde der Hitler-Gruß gezeigt?

Manchester: Hitler-Gruß auf Islam-Demo

Nein. Die Auflösung kommt erst weiter unten, in den zwei Absätzen, die man früher mal Artikel nannte:

Rund 700 Anhänger der rechtsextremen Anti-Islam-Gruppe English Defence League (EDL) protestierten gegen radikalen Islamismus und die Scharia; einige zeigten den Hitler-Gruß und riefen Nazi-Parolen.

Mit Dank an R.A.

Blau, Ahmadinedschad, tz

6 vor 9

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1. Interview mit Wolfgang Blau
(carta.info, Doris Raßhofer)
Lesenswertes Gespräch mit dem Chefredakteur von zeit.de, Wolfgang Blau: “Die Leser lernen gerade, zu unterscheiden, welche Redaktion sauber zwischen Werbung und Journalismus trennt, wer am saubersten recherchiert, wer integer ist und wer nicht.”

2. “Reporter meldete Obama-Ehrung vorab”
(taz.de, Reinhard Wolff)
Peter Lindholm vermeldete die Verleihung des Friedensnobelpreises an Barack Obama schon am Freitagmorgen, Stunden vor der offiziellen Bekanntgabe, in der Gratiszeitung “Metro”. “Er hatte es mit Hilfe der Liste der Gäste der Nobelgala, die am Tag nach der Preisverleihung stattfindet und zur persönlichen Huldigung des Preisträgers gedacht ist, selbst herausgefunden.”

3. “Irans Präsident ein jüdischer Konvertit?”
(nzz.ch, Kristina Bergmann)
Kristina Bergmann arbeitet die von “Daily Telegraph” ausgelöste Story, der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad “stamme aus einer jüdischen Familie”, auf. Ein Artikel, der auf bild.de unter dem Titel “Hat der Irre von Teheran jüdische Vorfahren?” stand, wurde wieder zurückgezogen.

4. “Offener Brief der User von torwart.de im Fall Burchert”
(torwart.de)
Fußball: Der von “Bild” als “Kopfball-Torwart-Trottel” bezeichnete Torhüter Sascha Burchert wird von Nutzern des Forums der Website torwart.de in Schutz genommen: “Sascha Burchert hat nach unserer Auffassung in den jeweiligen Spielsituationen alles getan, um die Gegentreffer zu verhindern und mit seinen beiden Flugkopfbällen nicht nur sein torhüterisches Können bewiesen, sondern auch vorbildlichen Einsatz für seine Mannschaft gezeigt.”

5. “tz: die nachrichtenfreie Zeitung”
(dirkvongehlen.de)
Dirk von Gehlen zeigt mit einem Bild eines Zeitungsaushangs der Münchner Boulevardzeitung “tz” den Trend auf, nicht mehr mit Nachrichten, sondern mit Ratgeber- und Servicethemen aufzumachen.

6. “Höchstrichterlicher Schutz für den Gastro-Journalismus”
(presseverein.ch/blog)
Ein Journalist, der 2001 am Weltwirtschaftsforum WEF “von der Polizei weggewiesen, und somit an der Ausübung seines Berufs gehindert” wurde, klagte dagegen und erhält nun Recht: “Die Strassburger Richter argumentierten, das Polizeigesetz erlaube Einschränkungen der Grundrechte nur für potenzielle Unruhestifter. Der Journalist habe nicht zu dieser Kategorie gehört. Die Schweiz muss dem Kläger nun gut 1500 Franken Schmerzensgeld zahlen.”

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