Wohin hinkt Brüderles Vergleich?

“Stasivergleiche machen immer was her”, muss sich Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) gedacht haben, als er gestern auf dem fünften nationalen IT-Gipfeltreffen in Dresden folgende Worte sagte:

Manches, was ich bei Wikileaks da entnehme, erinnert mich an die Sammelwut, die früher Institutionen im Osten hatten, die Stasi dabei.

Beim absehbaren kollektiven Aufschrei, etwa auf Twitter, hinterher gab es allerdings ein Problem: Wen oder was genau hat Brüderle denn jetzt eigentlich mit dem berüchtigten DDR-Geheimdienst verglichen?

Für die “Financial Times Deutschland” war ganz klar die US-Botschaft gemeint:

Wikileaks-Enthüllungen Brüderle vergleicht US-Sammelwut mit Stasi Die Enthüllungen auf Wikileaks erregen noch immer die Gemüter der Liberalen. Der Wirtschaftsminister sieht Parallelen zwischen der US-Botschaft und dem Überwachungsapparat der früheren DDR. Das geht selbst Parteifreunden zu weit. Brüderle rudert zurück.

Ähnlich berichteten gestern die Nachrichtenagentur dpa und “Focus online”, sowie in jeweils abgeschwächter Form “Spiegel Online” und die “Süddeutsche Zeitung”.

Auch Brüderles Parteifreund Wolfgang Kubicki, der den Wirtschaftsminister nach dessen Rede heftig kritisierte, sah hier einen Affront gegen die Amerikaner. Der “Leipziger Volkszeitung” sagte er laut Vorabbericht:

Die Depeschen der US-Botschaften mit Stasi-Unterlagen zu vergleichen, heißt erstens das Unrecht der DDR zu relativieren und heißt zweitens, einen Rechtsstaat mit einem Unrechtsstaat zu vergleichen. Beides sollte sich von selbst verbieten.

Dennoch hatte eine ganze Reihe anderer Medien und Blogs aus Brüderles Aussage einen ganz anderen Adressaten herausgehört — nämlich die Enthüllungsplattform Wikileaks selbst.

Bild.de etwa titelte:

Internet-Portal: Brüderle vergleicht Wikileaks mit Stasi. Minister: Eine "Sammelwut, die früher Institutionen im Osten hatten"

Im Artikel heißt es:

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) hat die Internet-Plattform Wikileaks scharf attackiert. Das Vorgehen der Enthüllungsplattform bereite ihm Unbehagen und erinnere ihn an die DDR-Staatssicherheit!

Ähnlich sehen das die Presseagentur dapd, “Welt online” und zunächst auch netzpolitik.org und “Carta”. Beide Blogs schwächten allerdings im Laufe des gestrigen Abends ihre Artikel noch ab.

Aber wer ist denn nun wirklich gemeint? BILDblog hat beim Wirtschaftsministerium nachgefragt und von Pressesprecherin Beatrix Brodkorb die Bestätigung erhalten: Brüderle habe tatsächlich nicht die US-Botschafter mit der Stasi vergleichen wollen, sondern den Überbringer der Nachricht, Wikileaks. Der Wirtschaftsminister sei unter anderem wegen der Ankündigung weiterer Veröffentlichungen zu den Geschäftspraktiken amerikanischer Großbanken in Sorge.

Alle Unklarheiten beseitigt? Dann empören Sie sich jetzt!

Wikileaks, Beckedahl, Kochshows

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Wetten dass..?’-Unfall: Wie das ZDF die Probenstürze herunterspielt”
(faz-community.faz.net/blogs, Peer Schader)
Peer Schader geht es nicht darum, den Verantwortlichen die Schuld am Unfall in der Sendung “Wetten, dass..?” zuzuschieben: “Aber ganz so einfach, wie man es sich beim ZDF derzeit mit der Behauptung macht, bei der Vorbereitung habe nichts dafür gesprochen, dass die Wette furchtbar schiefgehen kann, ist die Angelegenheit wohl nicht.”

2. “Wikileaks’ Julian Assange verhaftet”
(perlentaucher.de, Anja Seeliger)
Für Anja Seeliger hat die Veröffentlichung der Diplomatendepeschen “die ganze Welt irgendwie durchsichtiger gemacht”: “Diese Depeschen haben fast alle Nationen beschämt. Und das ist gut! Kann man nicht plötzlich ganz neu reden, wenn auf jeden ausgestreckten Zeigefinger zurückgezeigt werden kann? Soll doch jeder erst Mal vor der eigenen Haustür kehren!”

3. “Chaos Computer Club fordert Informationsfreiheit im Netz”
(ccc.de)
“Die Verbreitung der von Wikileaks veröffentlichten Dokumente stellt nach Auffassung des CCC einen legitimen Akt der öffentlichen Meinungsbildung dar und ist eine Wahrnehmung des Grundrechts auf Publikationsfreiheit.”

4. “Defend WikiLeaks or lose free speech”
(salon.com, Dan Gillmor, englisch)
Dan Gillmor ruft Journalisten zur Einsicht auf, dass Angriffe auf Whistleblower auch Angriffe auf sie selbst sind.

5. Interview mit Markus Beckedahl
(epd.de)
Ein ausführliches Gespräch mit Markus Beckedahl von netzpolitik.org. Er glaubt, dass das Klickverhalten der Nutzer auf sie selbst zurückfällt: “Die Nutzerwelt sollte sich nicht beschweren, wenn überall nur Polemiken zu finden sind, denn das wird letztendlich geklickt oder geflattred. Aber vielleicht führen ja solche Dienste und die Evaluation der Nutzungsverhalten allmählich dazu, dass sich das verändert.”

6. “Deutschlands größte Fans von TV-Kochshows werden jetzt künstlich ernährt”
(kojote-magazin.de)

Halbgares zu Wikileaks

Julian Assange, der mit seiner Online-Plattform Wikileaks die USA und die internationale Diplomatie in Atem gehalten hat, wurde am Mittag in London festgenommen. Es ist ein Showdown wie aus dem Bilderbuch. Die Medien tragen aber ihren Teil dazu bei, den Konflikt noch mehr zuzuspitzen, durch Missverständnisse, Schludrigkeiten und simple Fehler.

So weiß zum Beispiel “Spiegel Online” von einer Trotzreaktion der Wikileaks-Aktivisten zu berichten:

"Die heutigen Aktionen gegen unseren Chefredakteur Julian Assange werden unseren Betrieb nicht beeinflussen", twitterten Vertreter der Enthüllungsplattform gegen 13 Uhr. "Wir werden heute Nacht mehr Botschaftsdepeschen veröffentlichen als normal."

In Wahrheit lautete die Twitter-Nachricht jedoch ein wenig anders:

Today's actions against our editor-in-chief Julian Assange won't affect our operations: we will release more cables tonight as normal

Zu deutsch:

Die heutigen Maßnahmen gegen unseren Chefredakteur Julian Assange werden unseren Betrieb nicht beeinflussen. Wir werden wie üblich heute Nacht weitere Botschaftsdepeschen veröffentlichen.

Weniger eilig, aber weitaus exklusiver hatte das Handelsblatt am Morgen eine Meldung mit mehr Lokalbezug veröffentlicht:

Geldgebern von Wikileaks drohen Sanktionen  Die Aufsichtsbehörde in Kassel verlangt eine Stellungnahme der Wau-Holland-Stiftung, einer der weltweit größten Geldgeber des Enthüllungsportals. Im schlimmsten Fall droht der Stiftung die Aberkennung des Steuerprivilegs – damit würde eine der wichtigsten Geldquellen für Wikileaks versiegen.

Hier war der Autor etwas voreilig: Zwar ist das Steuerprivileg des Vereins tatsächlich gefährdet, in der Folge muss aber die Geldquelle von Wikileaks nicht zwangsläufig versiegen — zumal sich die Gründungsvorsitzende Ursula Kooke für die Förderung von Wikileaks ausspricht. Der Verlust der Steuerprivilegs bedeutet nämlich zunächst einmal, dass Spenden nicht steuerlich abgesetzt werden können. Sollte es dazu kommen, kann der Verein Wikileaks dennoch weiter unterstützen.

Die “Neue Zürcher Zeitung” hatte bereits am Montag mit der Meldung für Aufsehen gesorgt, dass der Schweizer Finanzdienstleister Postfinance das Konto von Julian Assange gekündigt habe. Auch das ist richtig, nur schaffte es die NZZ nicht, die Begründung von Postfinance richtig wiederzugeben:

Grund sei, dass Assange bei der Kontoeröffnung falsche Angaben zu seinem Wohnort gemacht habe, schreibt PostFinance in der Mitteilung vom Montag. Als Domizil habe Assange Genf angegeben, was sich bei einer Überprüfung der Daten als unwahr herausgestellt habe. Assange könne keinen Schweizer Wohnsitz nachweisen. Voraussetzung für ein Konto bei Postfinance ist ein Schweizer Domizil.

Auch hier erwischte der Autor wieder nur die halbe Wahrheit: Zwar begründet Postfinance die Kündigung mit den falschen Angaben von Assange bei der Kontoeröffnung. Ein Wohnsitz in der Schweiz wäre für ein solches Konto hingegen nicht nötig — wie auch Leser bei der NZZ korrekt kommentieren.

Dies sind an sich nicht besonders schwere Fehler. Im Kollektiv mit hunderten und tausenden Meldungen gleicher Bauart entsteht jedoch ein Gemisch aus Halbwahrheiten, das kaum noch eine wirklich informierte Debatte um Wikileaks zulässt.

Mit Dank auch an Christoph H.

Nachtrag, 17 Uhr: “Spiegel Online” hat die Übersetzung der Twitter-Nachricht inzwischen korrigiert.

Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP hat ein Sprecher des Regierungspräsidiums Kassel den Bericht des “Handelsblatts” relativiert: Die Mahnung wegen eines fehlenden Geschäftsberichts habe nichts mit Wikileaks zu tun, eine Prüfung des Stiftungszwecks und damit des Steuerprivilegs stehe jedoch noch nicht an.

Kanak Sprak

Heute wurden die Ergebnisse einer neuen PISA-Studie vorgestellt, die sich vor allem mit der Lesekompetenz der Schüler beschäftigt. Grund genug für Bild.de, den Chef des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, zu dem Thema zu befragen.

Meidinger sagt, dass der relativ hohe Migranten-Anteil an unseren Schulen “mitverantwortlich” für das schlechte Abschneiden der Deutschen sei. Er bemängelt “die gescheiterte Integrationspolitik in Deutschland, die über mehr als zwanzig Jahre lang versäumt hat, das Problem der Sprachkenntnisse bei Einwanderern zu thematisieren und systematisch anzugehen”, fordert eine flächendeckende Sprachförderung von Kleinkindern und hebt den Einfluss des Elternhauses hervor:

Doch in vielen Einwanderer-Familien sei “die Sprachkompetenz der Eltern noch schlechter als die ihrer Kinder”.

Das führt laut Meidinger im Ergebnis dazu, dass Kinder aus sozial schwachen, bildungsfernen Migranten-Familien deutlich schlechtere Chancen auf einen erfolgreichen Schulabschluss haben als Kinder aus sozial bessergestellten, bildungsnahen Familien. “Dasselbe gilt natürlich auch für Kinder ohne Migrationshintergrund”, sagt der Bildungs-Experte weiter.

Also alles in allem durchaus differenzierte Antworten, die der “Bildungs-Experte” da gegeben hat. Bild.de fasst seine Aussagen so zusammen:


Philologen-Chef Heinz-Peter Meidinger: Migranten ziehen Pisa-Ergebnisse nach unten

In der gedruckten “Bild” war für Ausdifferenzierungen dann gar kein Platz mehr:

Philologen-Chef: Migranten ziehen Pisa-Ergebnisse nach unten. Berlin - Die Ergebnisse der jüngsten Pisa-Studie belegen, dass deutsche Schüler besonders bei der Lesekompetenz schlecht abschneiden. Der Chef des Deutschen Philologenverbandes (DPhV), Heinz-Peter Meidinger, sagte BILD.de: "Der relativ hohe Migranten-Anteil an unseren Schulen ist mitverantwortlich für das schlechte Ergebnis der Deutschen bei der Pisa-Studie." Für den Bildungs-Experten sind vor allem "ihre Sprachdefizite das Problem".

Mit Dank an Vincent und Christian S.

Bild  

“Warum?”

Hiermit eröffnen wir unsere neue Serie “Fragen, wie sie nur ‘Bild’ stellen kann”:

BILD: Sie haben auch nach einem Tuch gerufen. Warum? Hunziker: "Ich wollte, dass die Sicht auf Samuel verdeckt ist. Es war so schlimm: Samuel lag da und bewegte sich nicht. Das ganze Publikum stand auf und guckte, ich war so besorgt und wollte, dass er vor den Blicken geschützt wird."

Und so kam “Bild” dem Wunsch von Michelle Hunziker nach:

Mit einem fast halbseitigen Foto von hinter den Tüchern.

Mit Dank an Robert W.

Angst essen Hirn auf

Man fragt sich langsam, was die Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) an sich haben, dass sie so gerne falsch verstanden werden.

Als vergangene Woche in Hannover die “Zentralen Befunde des zweiten Forschungsberichts des Projekts ‘Gewalt gegen Polizeibeamte’ zu den Tätern der Gewalt” (PDF) vorgestellt wurden, in denen es in genau einem von zehn Punkten auch um Täter nichtdeutscher Herkunft ging, titelte die Hannoveraner Regionalausgabe von “Bild” reißerisch:

Gewalt gegen Polizisten! Fast jeder 2. Täter ist ein Migrant

… und liegt damit klar daneben. Denn während “Bild” behauptet, “42,9 Prozent der Schläger sind Migranten, vor allem Muslime, Russen”, heißt es im KFN-Bericht unter Punkt 2:

Von allen berichteten Tätern hatten laut Angaben der Polizeibeamten 37,8 % eine eindeutig benennbare nichtdeutsche Herkunft.

Wo “Bild” die 42,9 Prozent her hat, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Im KFN-Bericht, der sich übrigens auf eine wenig repräsentative Polizistenbefragung aus dem Jahr 2009 bezieht (BILDblog berichtete), findet sich diese Zahl jedenfalls nirgends, sodass von “fast jeder 2.” nur noch etwas mehr als ein Drittel übrig bleibt.

Auch handelt es sich bei den besagten Tätern nicht um “Migranten”, wie von “Bild” behauptet, sondern um Personen, die von betroffenen Polizisten für “Nichtdeutsche” gehalten werden. Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler würde bestimmt dazugehören. Im KFN-Bericht heißt es dazu etwas schwammig:

Dabei wurde “Herkunft” im Fragebogen nicht definiert; aufgrund des deutlich über den in der [Polizeilichen Kriminalstatistik] ausgewiesenen Anteil nichtdeutscher Täter (2009: 18,6 %) liegenden Wertes in der Stichprobe ist aber davon auszugehen, dass sich die Beamten beim Beantworten der Frage nach der Herkunft eher auf einen vorhandenen Migrationshintergrund und nicht auf das Vorliegen einer nichtdeutschen Staatsangehörigkeit bezogen haben.

Vielleicht hat die Unfähigkeit von “Bild”, was die Auswertung von Studien angeht, aber auch weniger mit dem Institut zu tun, das sie anfertigt, sondern vielmehr mit dem Thema “Islam”.

Eine andere Studie des Exzellenzclusters “Religion und Politik” ergab kürzlich, dass 58 Prozent der Westdeutschen und 62 Prozent der Ostdeutschen dem Islam gegenüber kritisch eingestellt sind. Bemerkenswert an diesen Ergebnissen ist vor allem, dass die Deutschen nichtchristlichen Religionen gegenüber – also etwa auch dem Judentum oder dem Hinduismus – im europäischen Vergleich am intolerantesten abschnitten.

Bild.de interpretierte das dennoch ganz einfach so:

Neue Studie Jeder zweite Deutsche hat Angst vor dem Islam

Der dazugehörige Artikel beginnt mit den Worten:

Ehrenmorde, Zwangsehen, religiöse Fanatiker – sie prägen das Bild vieler Deutscher vom Islam. Die Folge: Angst. Über die Hälfte der Deutschen steht dem Islam kritisch gegenüber.

Abgesehen davon, dass es in der Studie nicht um “Angst” ging, sondern darum, ob Menschen ein negatives oder ein positives Bild von verschiedenen Religionen haben, weiß man jetzt wenigstens, wo Intoleranz gegenüber und Angst vor dem Islam herkommen.

Wetten, dass..?, Regierungsapparate, Menschen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Erfundene ‘Wetten, dass…?’-Berichte”
(sueddeutsche.de, Christina Maria Berr)
Nicht nur in “Österreich”, auch in “Bild am Sonntag” war in Teilen der Ausgabe über Ereignisse zu lesen, die sich nicht ereignet hatten. Die “Bild am Sonntag” wird so zitiert: “Hollywood-Schauspielerin Cameron Diaz (38), Tennie-Star Justin Bieber (16) Take That und Altmeister Gérard Depardieu (61) nahmen gestern gut gelaunt auf Thomas Gottschalks Sofa Platz.”

2. “Wunschkonzert mit offenem Ende”
(medienpiraten.tv, Peer Schader)
Peer Schader dokumentiert, was “ausgewiesene Fernsehexperten” nach der abgebrochenen Sendung fordern.

3. “Trommelfeuer der Dauerkritikaster”
(querblog.de, Horst Schulte)
“Können wir es nicht dem Einzelnen überlassen, ob er sich solchen Risiken aussetzt oder nicht?”, fragt Horst Schulte zur Diskussion über die Gefährlichkeit der Wette. “Ob die, die sich da so empört haben, den Fernseher auch gleich ausgeschaltet haben, als ihnen mitgeteilt wurde, wie diese Wette ablaufen würde?”

4. “Wikileaks und wir”
(stern.de/blogs, Hans-Martin Tillack)
Hans-Martin Tillack erstaunt es, dass viele seiner Kollegen die Bedeutung der Wikileaks-Enthüllungen herunterspielen. Es sei die oberste Pflicht von Journalisten, “verfügbare Quellen zu nutzen, um die Leser zu informieren”. “Man muss schon sehr blind oder sehr autoritätsverliebt sein, wenn man ausgerechnet in diesen Tagen meint, Regierungsapparate müssten nur ungestört arbeiten können, dann werde alles gut.”

5. “Warum ich Migranten nicht als Menschen bezeichne”
(blogs.taz.de/hausblog, Sebastian Heiser)
Die “taz” sucht für ihre Deutschland-Sonderausgabe ein “neues Wort für die Bezeichnung ‘Migrant’ beziehungsweise ‘Mensch mit Migrationshintergrund'”. Die von den Lesern gefundene Lösung “Mensch” passt dann aber doch nicht, “weil es dann nicht mehr möglich wäre, die Realität zu beschreiben”.

6. “Hätt’ ich mal den Schienenersatzverkehr genommen!”
(volkerstruebing.wordpress.com)
Volker Strübing trifft in einer verschneiten Nacht in Berlin auf eine Frau, die sich nicht mehr sehr sicher ist, wo sie hin will.

Was von “Wetten dass … ?” übrig blieb

Nur für den Fall, dass Sie die letzten 43 Stunden abgeschnitten von der Außenwelt oder in der Redaktion einer österreichischen Boulevardzeitung zugebracht haben: Am Samstag wurde die ZDF-Sendung “Wetten dass … ?” erst unter- und dann abgebrochen, nachdem sich ein Wettkandidat beim Sprung über ein fahrendes Auto schwer verletzt hatte. So etwas hat es in der 29-jährigen Geschichte der Show noch nie gegeben, wie ebenfalls überall nachzulesen ist.

Während die Bildregie des ZDF geistesgegenwärtig reagierte und der am Boden liegende Kandidat nur für Sekundenbruchteile im Bild zu sehen war, sahen die zahlreichen in der Düsseldorfer Messehalle anwesenden Pressefotografen ihre große Stunde gekommen. So war es etwa “Spiegel Online” möglich, einen Artikel über den Quotendruck im Fernsehen mit einer 18-teiligen Bildergalerie zu versehen. Bilder von der Unfallstelle und von Sanitätern im Einsatz wurden völlig ironiefrei mit den Worten untertitelt: “Für den Bruchteil einer Sekunde sah man K. regungslos am Boden liegen, dann zeigte die Kamera nur noch das geschockte Publikum.”

Schon wenige Minuten nach dem Unfall war ein Video des Hergangs auf YouTube zu sehen, bis 21 Uhr war es mehrere Hundert Male angeklickt, was vielleicht mit Sensationslust zu tun hatte, vielleicht auch mit dem Interesse derer, die über Facebook und Videotext nachträglich mitbekommen hatten, dass etwas passiert war.

schreibt das “Hamburger Abendblatt” neben einer Fotoserie, die fast ein Drittel der Seite einnimmt und den Unfall in fünf Schritten zeigt — und auf der sehr viel mehr zu sehen ist, als in dem Videoausschnitt der Livesendung.

Verschiedene Medien, darunter “Spiegel Online” und taz.de hatten sich nach dem Unfall entschieden, den Nachnamen des jungen Mannes, den Thomas Gottschalk zunächst genannt hatte, zu anonymisieren, und haben ihn dann bei der Übernahme von Agenturmaterial doch wieder genannt.

Aber das sind alles sicher nur die üblichen Begleiterscheinungen jenes “Höher, Schneller, Weiter”, das nun in vielen Presseartikeln gegeißelt wird — und das sich interessanterweise fast immer nur auf Fernsehsendungen bezieht.

In einer eigenen Liga spielt – wie so oft – “Bild”:

Gottschalks Kandidat: Not-OP! Koma! Lähmungen!

Die Titelseite, die den verletzten Kandidaten mit einer Halsmanschette auf der Trage zeigt (und damit an einen berüchtigten Michael-Jackson-Titel erinnert) ist nur der Anfang: Auf einer Doppelseite schreibt “Bild” das “Protokoll von Gottschalks Horror-Sendung”, zeigt den Unfall in gleich acht Bildern und druckt Statements von Prominenten, Stuntleuten und Gottschalk selbst. In einem Kurzporträt wird der verunglückte Kandidat vorgestellt (irritierenderweise vollständig im Präteritum, als sei er nicht mehr unter den Lebenden), in einem weiteren Text minutiös dokumentiert, was auf den Gängen des Düsseldorfer Uniklinikums vor sich ging.

“Bild” schreibt, dass Mutter und Schwester barfuß durch die Klinik gelaufen seien, dass die Mutter vor der Notaufnahme gebetet und “Oh Gott, lass ihn nicht sterben!” gerufen habe. Dazu Fotos, auf denen zu sehen ist, wie der Verletzte im Krankenhaus eingeliefert wird und wie seine Eltern die Uniklinik verlassen.

Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber!

Österreich, Jahrtausendwinter, Udo Reiter

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Wetten dass’: Geheimauftritt von ‘Take That'”
(politblogger.eu)
Die Sonntagsausgabe der Boulevardzeitung “Österreich” titelt “So rockte Robbie Gottschalk” und “Gottschalk: Robbie holte Show aus Koma”, obwohl Robbie Williams am Samstagabend gar nicht in der Sendung “Wetten, dass..?” auftrat. Wegen eines Unfalls bei einer Wette wurde die Sendung vorzeitig abgebrochen. Siehe dazu auch “‘Österreich’: Wenn Kaltschreiben pietätlos wird” (kobuk.at, Yilmaz Gülüm)

2. “Die Jahrtausendwinter – Ente”
(wissenslogs.de, Stefan Rahmstorf und Olivia Serdeczny)
Der polnische Wissenschaftler Michał Kowalewski sieht von ihm getätigte Aussagen zu einem Artikel vermengt, “der so geschickt seine Worte mit einigen meiner Sätze ohne ihren Kontext vermischte, dass eine ganz neue Bedeutung entstand. Eine absolut absurde These. Meine Zitate sind für sich genommen aber korrekt, daher konnte ich keine Richtigstellung verlangen.” Stefan Rahmstorf und Olivia Serdeczny zeigen auf, wie sich die Meldung fortpflanzt.

3. “Reiter: MDR-Intendant löscht Twitter-Account, Nachspiel im Rundfunkrat”
(flurfunk-dresden.de, owy)
Peter Stawowy kommentiert den Rückzug von MDR-Intendant Udo Reiter (@mdrreiter) aus Twitter: “Es war ein schlechter Witz, ja, Reiter hat sich gleich darauf entschuldigt – so what? Diese und ähnliche Erfahrungen werden eins zur Folge haben: Wir werden in Deutschland noch sehr lange warten müssen, bis sich Politik und andere Entscheiderkreise an Twitter und Co. herantrauen.”

4. “Niebel: ‘Spiegel’ hat keinen verantwortungsvollen Journalismus betrieben”
(lvz-online.de, Dieter Wonka)
Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel ist unzufrieden mit der Aufarbeitung der ihn betreffenden Wikileaks-Diplomatendepeschen durch den “Spiegel”: “Nachdem ich den Originalbericht über meine Person gelesen habe, kann ich die Aufarbeitung des ‘Spiegel’ nicht als verantwortungsvollen Journalismus bezeichnen. Auch durch Weglassen kann man falsche Informationen streuen.”

5. “Facie prima”
(ad-sinistram.blogspot.com, Roberto J. De Lapuente)
Roberto J. De Lapuente beschreibt von den Medien ausgewählte Bilder von Julian Assange: “Die Manipulationsmacht, die ein Bild verströmen kann, selten ist sie so zielgerichtet, wie im Falle Assanges; selten wird so manipulativ auf solche Fotos zurückgegriffen, auf denen die Person, über die man berichtet, so unvorteilhaft zur Geltung kommt.”

6. “Medien machen Geschichte(n)”
(heise.de/tp, Wassilis Aswestopoulos)
Nicht nur in Neapel stapelt sich der Müll, sondern auch in Griechenland. Wassilis Aswestopoulos über den aktuellen Zustand des Lands.

Anmerkung: Wegen Serverüberlastung ist Link 1 zwischenzeitlich deaktiviert.

Schlagzeilen aus einer anderen Welt

Der Medienzirkus um Wikileaks geht weiter. Am Freitag antwortete Wikileaks-Gründer auf der Webseite der britischen Zeitung “Guardian” auf Leserfragen. Julian Assange erläuterte, dass er derzeit nicht in sein Heimatland Australien zurückkehren könne, erklärte die Wikileaks-Quellen zu Helden und wies eine Frage nach der Verantwortung für diplomatische Kollateralschäden zurück. Ach ja — ein ganz anderes Thema kam auch zur Sprache:

achanth: Mr Assange, have there ever been documents forwarded to you which deal with the topic of UFOs or extraterrestrials? Julian Assange: Many weirdos email us about UFOs or how they discovered that they were the anti-christ whilst talking with their ex-wife at a garden party over a pot-plant. However, as yet they have not satisfied two of our publishing rules. 1) that the documents not be self-authored; 2) that they be original. However, it is worth noting that in yet-to-be-published parts of the cablegate archive there are indeed references to UFOs.

Zu deutsch:

achanth: Herr Assange, wurden ihnen jemals Dokumente übermittelt, die sich mit UFOs oder Außerirdischen befassten?

Julian Assange: Viele Wirrköpfe schicken uns E-Mails über UFOs oder wie sie erkannten, dass sie der Antichrist sind, als sie sich mit ihrer Ex-Frau über eine Topfpflanze unterhielten. Wie dem auch sei, erfüllen diese Einsendungen zwei unserer Veröffentlichungeregeln nicht. Erstens: Dokumente dürfen nicht selbst geschrieben sein. Zweitens: Die Dokumente müssen Originale sein.
Aber es ist erwähnenswert, dass in einigen noch zu veröffentlichenden “Cablegate”-Dokumente auch auf unidentifizierte Flugobjekte Bezug genommen wird.

Angesichts von andauernden Drohnen-Einsätzen und Spionageflugzeugen sind unbekannte Objekte am Himmel kein besonders überraschendes Thema für die internationale Diplomatie, aber Assange verriet nicht wirklich, was in den Dokumenten zu lesen sein wird. Doch das Wort “Wirrköpfe” macht auch deutlich: Enthüllungen über außerirdisches Leben sind von Wikileaks nicht zu erwarten.

Für Schlagzeilen-Schreiber, die ihre Superlative in den letzten Tagen verschossen hatten, war es jedoch mehr als genug.

Bild.de:

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“Welt Online”:

Julian Assange kündigt Enthüllungen über Ufos an  Der Wikileaks-Aktivist bricht sein Schweigen: Julian Assange stellt sich Lesern des "Guardian". Der Ansturm legte zwischenzeitlich die Seite lahm.

abendblatt.de:

WikiLeaks: Assange will UFO-Dokumente veröffentlichen

augsburger-allgemeine.de:

Enthüllungs-Plattform Assange: WikiLeaks hat Dokumente, in denen es um Ufos geht

Und sueddeutsche.de:

Julian Assange chattet beim Guardian Todesangst und Ufo-Akten - 2010-12-03 16:48:52   Wikileaks-Kopf Julian Assange beantwortet Fragen von Lesern des "Guardian" - und macht Verschwörungstheoretiker mit einem Hinweis auf Außerirdische neugierig.

Mit Dank an Ralf D. und Tobi R.

Nachtrag, 6. Dezember: Süddeutsche.de hat die Außerirdischen aus dem Vorspann entfernt und fragt auf Twitter: “War die Schlagzeile tatsächlich zu sehr aufgebrezelt?”

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