Es ist Boulevardjournalisten-Prosa aus dem Lehrbuch, mit der die Hamburger Regionalausgabe von “Bild” heute einen Artikel beginnen lässt:
Blauer Himmel über der Alster, doch die Stadt trägt Trauer: Lorenz ist tot. Neun Tage, nachdem der Ruderer († 13) an Boje 5 kenterte und versank, wurde nun seine Leiche gefunden. Um 10.45 Uhr gab die Alster den Körper des Schülers frei!
Bild.de hat den Artikel mit einer 22-teiligen Bildergalerie garniert, die sich dem “Fund des toten Ruder-Jungen” in allen Facetten widmet.
So erfährt der Leser zum Beispiel, dass eine (genauer: “die”) japanische Zierkirsche “prächtig blüht”. Sie sei “die Gedenkstätte des Unglücks”, was Bild.de mit ein paar Fotos verdeutlicht, auf denen “ein letzter Gruß von Freunden” zu sehen ist (“Trauernde haben einen Brief, einen Teddy, Grablichter und Blumen abgelegt”). Den Brief zeigt Bild.de dann auch noch mal in Großaufnahme und schreibt von “Worte[n], die für sich sprechen”.
An der Zierkirsche gibt es aber auch das:
Vorausgesetzt, das Pärchen wusste, dass der Baum als Trauerort fungiert, kann man es in der Tat unangemessen und “respektlos” finden, dort “Romantik-Fotos” zu machen.
Aber der Vorwurf wöge vielleicht etwas schwerer, wenn er nicht von einem Medium käme, dessen Fotografen es an gleicher Stelle mit dem Respekt auch nicht ganz so ernst nehmen:
Die Fotos zeigen ziemlich exakt das, was die Bildunterschriften beschreiben. Immerhin ist der Leichnam abgedeckt und die Köpfe der Eltern sind verpixelt.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “FREELENS verklagt Google” (freelens.com, Lutz Fischmann)
Der Fotojournalisten-Verband Freelens verklagt Google, weil “Aufnahmen bei Anklicken in bildschirmfüllender Größe gezeigt” werden, “ohne auf die Ursprungswebsite weiter zu leiten”. Siehe dazu auch “Dreist und dumm: die neue Bildersuche von Google” (stefan-niggemeier.de, 4. Februar).
2. “Die Wahrheit im Netz” (heise.de/tr, David Talbot)
Die Plattform Verily will Informationen aus sozialen Medien verifizieren.
4. “Medienkrise: Wer im Glashaus sitzt…” (blogs.taz.de/hausblog, Karl-Heinz Ruch)
Karl-Heinz Ruch, “Taz”-Geschäftsführer: “Die Verlage müssen sich beeilen, wenn sie die digitale Zukunft noch erreichen wollen. Dabei ist Größe beim notwendigen Wandel keineswegs ein Vorteil. Auch Marktführer können abstürzen. Wichtiger als Größe für das Überleben ist die Frage, ob ein Verlag heute mit diversifizierten Geschäftsmodellen antritt und nicht einseitig abhängig ist.”
Wir sind ja nicht die einzigen, die Fehler in deutschsprachigen Medien aufschreiben. Die Medien machen das auch gerne mal selber — wobei sie sich deutlich lieber den Pannen ihrer Mitbewerber widmen, als den eigenen.
Gestern Morgen konnte “Focus online” mit einem spektakulären Problem anderer Leute aufwarten:
Okay, die Ausgabe der “Tagesschau”, die ausgefallen ist, war die um 8 Uhr und nicht die um 7.30 Uhr. Und es war auch nicht ganz “zum ersten Mal”, dass eine “Tagesschau” nicht gesendet werden konnte, wie der zuständige NDR in einer Pressemitteilung am Vormittag erklärte:
Einen Tagesschau-Ausfall gab es u. a. vor rund zehn Jahren. Damals war an einem Sonntagmorgen ein Verteiler für die öffentliche Stromversorgung in der Nähe des ARD-aktuell-Studios bei Bauarbeiten beschädigt worden.
Diese Nachricht hat sich im Laufe des Vormittags auch zu “Focus Online” rumgesprochen. Dort lautet die Formulierung inzwischen:
Heute Morgen um 8 Uhr ist die Tagesschau ausgefallen – zum ersten Mal in ihrer 60-jährigen Geschichte aus redaktionsinternen Gründe [sic!].
Auch die Deutsche Presse Agentur (dpa), die sich in ihrer ersten Meldung weitgehend auf die Angaben von “Focus Online” verlassen hatte, musste die falsche Uhrzeit der ausgefallenen Sendung korrigieren.
Anfangs hatte dpa geschrieben:
Laut “Focus” ist es das erste Mal in der 60-jährigen Geschichte der “Tagesschau”, das [sic!] eine Sendung ausgefallen ist.
Später schrieb die Agentur:
Ausfälle der “Tagesschau” sind selten. Unter anderem konnte nach Angaben des NDR vor etwa zehn Jahren eine Nachrichten-Sendung wegen eines Stromausfalls nicht gesendet werden. Damals war bei Baggerarbeiten in der Nähe des Sendezentrums ein Verteiler geschädigt worden.
“Tagesschau”-Chefredakteur Kai Gniffke konnte diesen Ausfall uns gegenüber dann auch noch konkretisieren:
Am 26.11.2006 fiel eine Kurzausgabe am Sonntagvormittag aus, weil die Stromversorgung für das gesamte Stadtviertel durch einen Bagger lahmgelegt wurde.
Womit diese Überschrift von “Spiegel Online” im Nachhinein auch eher halbrichtig ist:
Dann lese ich auf einer News-Website von einem “peinlichen Moment für die ARD”. Ehrlich gesagt fand ich das nicht peinlich, sondern habe mich um die Mitarbeiterin gesorgt. Ihr galt meine erste Frage. Sie wurde mit dem Notarztwagen in die Klinik gebracht und untersucht. Glücklicherweise wurde sie mittags entlassen – es geht ihr wieder besser.
(Das mit dem “peinlichen Moment” war auch “Focus Online”.)
Und dann war da natürlich noch jemand, der immer verlässlich zur Stelle ist, wenn bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern irgendwas schiefgeht.
Bild.de hatte zunächst geschrieben:
Wenige Wochen nach der fiesen Lotto-Panne hat heute Morgen im Ersten schon wieder etwas nicht geklappt. Zum ersten Mal in der 60-jährigen Geschichte konnte die ARD-“Tagesschau” nicht gesendet werden.
Das war ziemlicher Quatsch. Bei der “fiesen Lotto-Panne” vor drei Wochen, auf die Bild.de anspielte, hatte die Ziehung der Lottozahlen wiederholt werden müssen, weil zwei Kugeln nicht in die Lostrommel gefallen waren. Allerdings im ZDF.
Bild.de hat den Satz mit der Behauptung, dass “im Ersten schon wieder etwas nicht geklappt” hätte, ziemlich schnell und sehr unauffällig aus dem Artikel entfernt.
Doch auch der zweite Satz war ja, wie wir inzwischen wissen, so nicht richtig. Und so hat Bild.de den Artikel noch mal unauffällig überarbeitet, jeden Verweis auf einen “historische[n] Ausfall im Ersten” entfernt und sich für diesen eher sachlichen Anfang entschieden:
Die ARD-“Tagesschau” konnte am Freitag um 8 Uhr nicht gesendet werden. Die Sendung im Rahmen des “Morgenmagazins” musste ausfallen, weil eine wichtige Mitarbeitern kurz zuvor zusammengebrochen war!
Verglichen mit der sensationsheischenden Berichterstattung mancher Medien dürfte der Ausfall der “Tagesschau” der am wenigsten peinliche Teil dieser Geschichte gewesen sein.
Mit Dank an Benjamin K., Helge, Benjamin G. und Volker G.
Selbst, wenn Sie sich nicht für Fußball interessieren, könnten Sie in den letzten Tagen mitbekommen haben, dass ein Spieler namens Mario Götze von einem Verein namens Borussia Dortmund zu einem Verein namens Bayern München wechselt.
Weil die Meldung, die Ablösesumme und der Zeitpunkt der Bekanntgabe allein noch nicht spektakulär sind, bemühen sich die Medien um Zitate von zumeist maximal indirekt beteiligten Personen, mit denen sie ihre vielen, vielen Artikel zum Thema aufpeppen können. Früher musste man dafür bei diesen Personen anrufen, heute scheinen sich Zitatgeber und -nehmer einvernehmlich darauf geeinigt zu haben, andere Wege zu beschreiten.
Die “B.Z.” schrieb jedenfalls am Dienstag auf ihrer Webseite:
Sportreporter-Ikone Fritz von Thurn und Taxis twittert: “Ich weiß ihr wartet alle darauf, also gut: #Götze zum #FCBayern? #HUIHUIUHHUI DONNERWETTER, DAS IST EIN DING!!!! #BVB #FCB”.
Und auch die Kollegen von sportbild.de waren von dem Posting so begeistert, dass sie es gleich in zweiKlickstrecken aufnahmen:
Der Twitter-Account, auf dem dieses Posting abgesetzt wurde, trägt den Namen “@TuT_Parody”.* Und für alle jene, die sich dennoch nicht ganz sicher sind, ob der Account nicht vielleicht doch vom echten Fritz von Thurn und Taxis befüllt wird, steht da noch diese Erklärung:
Am Dienstag hat der Betreiber dieses “Parody-Accounts” die Leute von sportbild.de auf ihren Fehler aufmerksam gemacht. Als ob die sich dafür interessieren würden, wessen Äußerungen sie da in ihren Zitatenstrauß einflechten.
Mit Dank an Mathias B.
Nachtrag/Korrektur, 29. April: Offenbar hieß der Twitter-Account zunächst “@Fritze_von_TuT” und wurde erst nach der “Sportbild”-Verwechselung in “@TuT_Parody” geändert. Der Hinweis “(Parody-Account. Nicht der echte Fritz)” stand da aber bereits in der Beschreibung.
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2. “Der Gott heißt Big Brother” (de.ejo-online.eu, Kurt W. Zimmermann)
Kurt W. Zimmermann fragt sich anlässlich der Offshore-Leaks, was aus der Abwehrhaltung der Journalisten gegen die Obrigkeit geworden ist. “Zu meiner aktiven Zeit in den achtziger und neunziger Jahren waren wir Journalisten der Staatsmacht gegenüber äußerst skeptisch eingestellt. Man verbrüderte sich nicht mit Staatsbeamten, Staatsanwälten und Staatssekretären.”
3. “So schnell es geht” (jetzt.sueddeutsche.de, Johannes Boie)
Johannes Boie schreibt zu den vielfältigen Falschmeldungen nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon: “Die Grenze verläuft nicht zwischen den Millionen Nutzern auf Twitter und den Nachrichtenredaktionen, sie verläuft zwischen sauberer Recherche und Unsinn. Doch nur von professionellen Journalisten kann man letztlich verlangen, alles zu tun, um Unsinn zu vermeiden, egal, ob sie ihrem Job gerade auf Twitter, im TV oder in einer Zeitung nachgehen.”
4. “Die irrationale Jagd auf Apple” (heute.de, Giesbert Damaschke) Apple meldet Milliardengewinne, “doch ganz gleich, welche Zahlen Apple meldet – die Analysten und Experten nörgeln, mäkeln und sehen das Ende schon in greifbarer Nähe”.
5. “Bassem Youssef Extended Interview” (thedailyshow.com, Video, 7:49 Minuten, englisch) Jon Stewart spricht mit dem ägyptischen Satiriker Bassem Youssef, gegen den ein Haftbefehl wegen Präsidentenbeleidigung, Verleumdung des Islams und Verbreitung falscher Behauptungen ausgesprochen wurde.
Wir wissen nicht, ob der Schauspieler Charlie Sheen in den vergangenen Jahren Tagebuch geführt hat. Wenn ja: Pech für ihn — er hätte sich eine Menge Arbeit sparen können.
Denn einige tausend Kilometer von seinem Wohnsitz entfernt war eine deutsche Online-Redaktion so freundlich, jeden öffentlich gewordenen Moment seines Lebens haarklein zu dokumentieren. Eine (sicherlich unvollständige) Liste haben wir hier zusammengestellt.
Seit ein paar Wochen klingt die Sheen-Berichterstattung bei Bild.de allerdings ein bisschen anders. Im Mittelpunkt stehen plötzlich nicht mehr die Pornoskandale, Beziehungsskandale und Pornobeziehungsskandale, sondern einzig und allein: “Anger Management”, die neue Serie des Schauspielers (BILDblog berichtete).
Vorbei die Zeiten, wo die Skandalnudel sich tagelang mit Prostituierten im Bett wälzte – jetzt flirtet Charlie wieder auf dem Bildschirm.
Und zwar “exklusiv auf BILD Movies” — wie Bild.de in letzter Zeit hin und wieder mal angedeutet hat:
Mittlerweile hat das Portal sogar eine eigene Themen-Seite für die Serie eingerichtet und veröffentlicht regelmäßig Trailer zu den einzelnen Folgen, dazu Fotostrecken, Infografiken und andere Späßchen.
Diese nicht gerade subtile Vermischung aus Werbung und Redaktion fällt inzwischen auch den Bild.de-Lesern auf:
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1. “War da mal was?” (journal21.ch, René Zeyer)
Die Offshore-Leaks haben Nutzer von Trusts offengelegt, “ohne dass bislang in einem einzigen Fall auch nur der Hauch eines Indizes präsentiert wurde, von Beweisen ganz zu schweigen, dass es dabei zu illegalen Handlungen gekommen wäre”, schreibt René Zeyer. “Es steht dem von der Medieninquisition Angeschuldigten höchstens frei, seine Unschuld zu beweisen. Also zu belegen, dass da nichts ist, wo aber vielleicht etwas sein könnte.”
2. “Hoeneß und die Medien: Wenn Aufklärung zu Abschirmung wird” (carta.info, Wolfgang Michal)
Wolfgang Michal erkennt in der Berichterstattung über die Selbstanzeige von Uli Hoeneß Unterschiede zwischen dem Norden und Süden Deutschlands: “Während die Hamburger also die ‘Doppelmoral’ des Uli Hoeneß geißeln (weil sie froh wären, wenn sie wenigstens 1 Moral hätten), huldigt man in München – wenn’s drauf ankommt – der bewusstseinsvernebelnden Wurschtigkeit des ‘Leben und leben lassen’.”
3. “Rufraub im Piraten-Dossier: Die ‘Zeit’ tritt nach” (stefan-niggemeier.de)
“Wir fassen zusammen: Die ‘Zeit’ veröffentlicht ein Pamphlet über Filmpiraterie, das eine Wissenschaftlerin diffamiert, gibt vor Gericht eine Unterlassungserklärung ab und behauptet dann in einer Pressemitteilung das Gegenteil. Wenn man nicht wüsste, dass es sich um eine der besonders seriösen Adressen des deutschen Journalismus handelt, man käme nicht drauf.”
4. “Aggressive Medienarbeit – Bushido droht Berichterstattern” (ndr.de, Video, 4:41 Minuten)
Zapp über Recherchen im Umfeld des Rappers Bushido. “Zeit”-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo sagt im Beitrag: “Vor zweieinhalb Jahren hab ich mir sehr gewünscht, dass wir da recherchieren und ein Reporter nach dem anderen sprang mir ab aus Angst vor den Konsequenzen, die das haben könnte. Das ist per se schon mal nicht schön auf unserer Seite. Aber es kam noch etwas dazu, was mich sehr irritiert hat: Egal, wo sie angefangen haben zu recherchieren, ob das nun bei der Polizei war oder bei der Justiz, das Erste war: Oh, das ist gefährlich. Da begeben Sie sich in Teufels Küche.” Siehe dazu auch ein Gespräch mit Walter Wüllenweber vom “Stern” (vimeo.com, Video, 7:13 Minuten).
5. “Fürsorgliche Vernichtung” (stern.de, Hans-Ulrich Jörges)
“Ich war Teil der Meute”, schreibt Hans-Ulrich Jörges zum Phänomen Rudeljournalismus: “Die Verirrung von kritischem Journalismus, den es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt, in besinnungslose, lustvoll schmähende Kampagnen. Ohne Widerworte, ohne abweichende Stimmen, ohne Selbstbesinnung.”
6. “Gisela Stelly: ‘Der Spiegel sollte Stefan Aust zurückholen'” (abendblatt.de, Armgard Seegers)
Die Ex-Frau von Rudolf Augstein, Gisela Stelly, im Interview zur Zukunft des “Spiegel”. “‘Im Zweifel links’ war Rudolf Augsteins Markenspruch. Diese Marke ist vom Sohn, der kein Sohn ist, einfach übernommen worden. Der ‘Spiegel’ täte gut daran, die Herausgeberschaft weiter im Geiste von Rudolf Augstein zu belassen, der ein Jahrhundertjournalist war, auch um sich immer wieder an diese hohe Messlatte zu erinnern.”
Seit Beginn der Woche hat “Bild” neue Werbegesichter. Unter anderem ein schwer verletztes dreijähriges Mädchen aus dem syrischen Aleppo wirbt jetzt für die Zeitung.
Oder, wie “Bild” es selbst formuliert:
Andere Motive der neuen Kampagne aus dem Hause Jung von Matt zeigen etwa eine Frau mit Gesichtsschleier und die Aktivistinnen von “Pussy Riot”. Der Slogan lautet jedes Mal: “Wir haben 500 Reporter und ein einziges Versprechen: Wir holen alles für Sie raus.”
Wenn früher ein Verbrechen geschah, schwärmten die Reporter der Boulevardzeitungen aus und versuchten, bei Angehörigen und Nachbarn, teils unter Vortäuschung falscher Tatsachen, an Fotos des Opfers und des Tatverdächtigen zu kommen.
Diese Mühe und schmutzige Arbeit muss sich heute niemand mehr machen, denn es gibt ja das Internet und damit quasi unbegrenzten Zugang zu Fotos von Opfern und Tatverdächtigen — oder Leuten, die so ähnlich heißen.
Die nächste Stufe sieht nun offenbar so aus: Die Leser sollen nicht mehr nur wissen, wie Opfer und Tatverdächtiger (bzw. der Einfachheit halber: “Täter”) aussehen, sie sollen sich auch selbst ein Bild machen können — vielleicht mit der Handykamera als Leserreporter, vielleicht mit Fackeln und Forken als Mob.
“Bild” hatte letzte Woche schon mal vorgelegt und ausführlich die Berliner Umgebung beschrieben und beschriftet, in dem ein Elternpaar lebte, dem vorgeworfen wird, seinen Säugling getötet zu haben (BILDblog berichtete), gestern widmete sich Bild.de neuen Erkenntnissen im Mordfall Peggy K. und garnierte den Text mit einer interaktiven Grafik, in der sich der geneigte Leser den vermeintlichen Tatort, den Wohnort des Opfers, den des bisherigen Tatverdächtigen und den des neuen Tatverdächtigen anzeigen lassen kann:
(Unkenntlichmachungen von uns.)
Laut “Frankenpost” hatte die Polizei bereits am Montag versucht, das Grundstück des neuen Tatverdächtigen mit “mit Tüchern verhängten Bauzäunen vor neugierigen Blicken” zu schützen. Das Grundstück, dessen Lage die “Frankenpost” selbst einigermaßen klar nennt. “Spiegel Online” nennt die Straße, in der das Haus steht, und seine auffällige Farbe — und falls da noch Verwechselungsgefahr bestehen könnte, ist in der Bildergalerie auch noch ein Foto des Hauses zu sehen. Auch dpa nennt die Straße und liefert ein Foto des Hauses mit.
Für die Anwohner dürfte das nicht Neues sein: Sie leben in einer kleinen Stadt mit nicht mal 1.100 Einwohnern, wo eh jeder jeden kennt und wo seit Montag zahlreiche Medienvertreter vor dem betreffenden Haus campieren. Aber die Empörten und Gestörten aus der ganzen Republik, die müssen sich heute nicht mehr durch Telefonbücher wühlen oder in zwielichtigen Webforen rumtreiben: Sie bekommen ihre Informationen direkt von vermeintlich seriösen Nachrichtenwebsites geliefert.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Sex, Armut, Hitler” (thegap.at, Jonas Vogt und Thomas Weber)
Helge Fahrnberger (Kobuk.at) und Wolfgang Ainetter (Ex-“Bild”-Ressortleiter) reden über Boulevardmedien. Das Bildblog habe “unheimlich viel” bewirkt, sagt Ainetter: “Es ist ein unheimlicher Multiplikator und erreicht die Meinungsmacher. Es schadet dir als Boulevardmedium einfach sehr wenn du dort jedesmal vorkommst.”
2. “Sprungbrett oder Krise? Das Erlebnis Castingshow-Teilnahme” (lfm-nrw.de)
Für eine Studie wurden 59 Teilnehmer von Musik-Castingshows befragt: “Eine ehemalige DSDS-Kandidatin, deren Bewerbung vielfach und über Jahre hinweg wiederholt wurde und zudem jeder Zeit über das Internet anzusehen ist, berichtet, wie jedes Mal wieder ‘der ganze Scheiß von vorne anfängt, dass man von jedem angesprochen wird’. Im Nachhinein stellt sie für sich fest: ‘Ich hätte mich niemals dort beworben, wenn ich gewusst hätte, was die mit den Leuten da alles machen, nur um sie blöd darzustellen, nur damit die Leute was zu lachen haben.'”
3. “Autorisierungen von Interviews” (zdf.de, Video, 8:17 Minuten)
Interviews, die nur zustande kommen, wenn Journalisten “Gegenlesvereinbarungen” und “Interviewvereinbarungen” unterschreiben.
4. “Reiche Esel: Der SPIEGEL hetzt langsam, aber dafür irre” (pantelouris.de)
Der “Spiegel”-Titel “Die Armutslüge”: “In der Realität ist es gerade eher so, dass Menschen in Südeuropa mit ‘klassischer Vermögensbildung’ bei einer Bank Gefahr laufen, ihr Geld nicht wieder zu sehen, aber beim SPIEGEL behauptet man, Südeuropäer wären reicher als Deutsche, weil die deutsche Rentenversicherung und Pensionskassen nur ein Versprechen sind, dessen Einlösung fraglich ist? Was genau ist dann eigentlich nicht fraglich? Jedenfalls ganz offensichtlich nicht die Immobilienpreise in Südeuropa, denn den Immobilienbesitz rechnet ja DER SPIEGEL voll ein – obwohl es zum Beispiel in Athen gerade fast völlig unmöglich ist, eine Wohnung zu verkaufen.”