Sittenverfall, Quotentest, Falschmeldung

1. Ware Leben
(sueddeutsche.de, Rainer Erlinger)
Reality-TV galt einmal als menschenverachtend, so Rainer Erlinger auf sueddeutsche.de, doch dies sei lange her. Erlinger fragt sich, wo die Empörung geblieben sei und mutmaßt: “Vielleicht ist es so: Nicht die Sitten im Sinne der moralischen Maßstäbe sind verfallen, sondern die Sitten im Sinne des Üblichen.”

2. Meldung über angebliches Geschwister-Ehepaar vermutlich falsch
(spiegel.de)
Ein Ehepaar in Mississippi hat angeblich zufällig festgestellt, dass es ein Zwillingspaar war. Das zumindest berichtete “Spiegel Online”. Nun stellt sich heraus, dass die Geschichte offenbar frei erfunden war. “Spiegel Online” entschuldigt sich für die peinliche Sache, die einen an der vielgerühmten Spiegel-Recherche zweifeln lässt, macht den Vorgang aber immerhin transparent

3. Quotentest im Ersten: Weniger “Tagesschau” für mehr “Brisant”
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Das Erste ist mit seinen Nachmittagsquoten nicht zufrieden. Mit der “Mutlosigkeit der Verzweiflung”, wie Stefan Niggemeier es ausdrückt, hat Programmdirektor Volker Herres darum in den vergangenen Wochen etwas anderes probiert: Er hat die “Tagesschau” gekürzt und die gewonnenen Minuten dem Boulevard zugeschlagen. Die zweifelhafte Programmänderung hat quotentechnisch nichts gebracht. Morgen kehrt man zum gewohnten Programmschema zurück.

4. “CrossCheck”: Die Anti-Fake-News-Koalition
(ndr.de, Daniel Schmidthäussler, Video, 5:50 Minuten)
In Frankreich haben sich mehr als 30 französische Medien unter dem Label “CrossCheck” zusammengeschlossen. Das Ziel: Gemeinsam will man gegen Fake News vorgehen. Daniel Schmidthäussler hat für “Zapp” mit dem Projektmanager und weiteren “CrossCheck”-Beteiligten gesprochen.

5. Wie ich einmal versuchte, eine Zeitung zu abonnieren
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Medienprofi Christian Jakubetz hat sich neulich im Supermarkt zu einem Abo der örtlichen Lokalzeitung überreden lassen. Sechs Wochen hat er das Abo nun schon. Sechs Wochen, in denen ausgiebig Zeit war, sich über die mangelnde Professionalität des Blatts zu ärgern: “Viermal ist die Zeitung seitdem nicht zugestellt worden, davon an zwei Wochenenden, was ja irgendwie besonders ärgerlich ist. Viermal habe ich online eine „Zustellreklamation“ geschickt. Viermal habe ich eine Antwort bekommen, die mich an allem zweifeln lässt. Insbesondere an der technischen Kompetenz des Hauses und ein kleines bisschen auch daran, ob jemand dort schon mal was von Kundenfreundlichkeit gehört hat: eine leere Mail, in der im Betreff „Zustellreklamation“ steht und sonst nix. Keine Anrede, kein Text, kein gar nix.” Doch Jakubetz belässt es nicht bei der Klage, sondern gibt den bedrohten Zeitungsmachern konkrete Tipps zum Überleben.

6. Dad Photoshops Daughter In Dangerous Situations to Scare Grandma
(sadanduseless.com)
Stephen Crowley photoshoppt seine kleine Tochter in gefährliche Szenerien. Um mit den Fakefotos die besorgte Großmutter in Angst und Schrecken zu versetzen, wie er sagt.

Medien diffamieren Gewaltopfer

David Dao wurde in den vergangenen Tagen gleich zweimal zum Opfer. Erst zerrten ihn Sicherheitsleute gewaltsam aus einem Flugzeug, dann machten sich Medien über seine Vergangenheit her, ohne dass er selbst irgendeinen Anlass dazu gegeben hätte.

Dao, ein 69-jähriger Arzt aus Kentucky, hatte ein Ticket für den ausgebuchten “United”-Flug 3411, der am Sonntag von Chicago nach Louisville ging. Doch Dao flog nicht mit. “United” wollte eigenen Mitarbeitern Plätze im Flugzeug verschaffen, bat dafür mehrere ausgewählte Passagiere, die Maschine gegen eine Geldzahlung zu verlassen, darunter auch David Dao. Als der sich weigerte, wurden Sicherheitsleute handgreiflich. Handyvideos, auf denen Dao über den Gang des Flugzeugs geschleift wird, gingen um die Welt. Dao musste ins Krankenhaus, es gibt Aufnahmen von ihm, auf denen er aus dem Mund blutet. Ein riesiges PR-Desaster für “United Airlines”.

Doch anstatt sich weiter auf das unfassbare Verhalten der Airline zu konzentrieren, verschoben einige Medien, darunter auch deutsche, ihren Fokus: Auf einmal ging es auch um David Daos Vergangenheit, ein Gerichtsverfahren gegen ihn, den Verlust seiner Zulassung als Arzt.

Damit angefangen hatte die in Kentucky ansässige Zeitung “Louisville Courier-Journal”. Recht schnell nahmen größere Medien die Meldung von Daos früherer Verurteilung auf. In Europa dürfte das Onlineportal des britischen Knallblatts “Daily Mail” zu den Ersten gezählt haben.

Am vergangenen Dienstag stiegen auch Medien aus Deutschland, der Schweiz und Österreich in die Schmierenkampagne gegen ein eigentliches Opfer ein. Bild.de berichtete über Daos “dunkle Vergangenheit”:

Stern.de machte mit:

Das Schweizer Portal blick.ch veröffentlichte einen Artikel:

Genauso derstandard.at aus Österreich:

Allein schon in der Wahl des Themas, das nichts mit dem Vorfall an Bord der “United”-Maschine zu tun hat, steckt der Subtext: Ja, klar, das ist schon ganz schön heftig, was David Dao passiert ist. Aber ein lieber Kerl war er nun auch nicht gerade. Oder etwas stärker zugespitzt: Es hat vielleicht gar nicht mal den Falschen getroffen.

Die Medien, die David Daos “dunkle Vergangenheit” für berichtenswert halten, diskreditieren mit ihren Artikeln ein Opfer einer komplett unnötigen Gewaltanwendung, indem sie einen Fall rauskramen, der über zehn Jahre zurückliegt. Dao hat damals eine Strafe bekommen, die er abgesessen hat. Er ist als Arzt wieder zugelassen. Wäre er wegen Randalierens an Bord eines Flugzeugs verurteilt worden — okay, dann könnte man das in der Berichterstattung vielleicht erwähnen. Stünde er auf einer No-Fly-List — dito. Aber nichts dergleichen ist der Fall. David Dao wurde schlicht per Zufallsprinzip von “United” als einer der Passagiere ausgewählt, die im Flugzeug Platz machen sollten. Er wurde schlecht behandelt. Er hat die Situation am Sonntag nicht selber herbeigeführt. Jetzt muss er aushalten, dass ihn Zeitungen und Onlineportale weltweit diffamieren.

Zwischenzeitlich gab es sogar das Gerücht, dass die Medien beim Wühlen nach früheren Vergehen Informationen über den falschen David Dao veröffentlicht haben. Es gibt nämlich einen anderen Arzt namens David Dao aus New Orleans. Inzwischen scheint allerdings klar zu sein: Immerhin diesen Fehler haben die Redaktionen nicht begangen. Doch es bleibt dabei: Für die Berichterstattung über das Geschehen am vergangenen Sonntag ist es völlig irrelevant, ob David Dao früher etwas Schlimmes getan hat oder nicht — niemand verdient es, so behandelt zu werden.

Bekennerschreiben, Wissenschaftsbashing, Netzwerkdurchsetzung

1. dpa-Eilmeldung: Das Problem mit Indymedia als Quelle
(flurfunk-dresden.de, Andreas Szabo)
Nach dem Anschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund tauchte im linken Szene-Portal “Linksunten Indymedia” ein angebliches “Bekennerschreiben” auf, das von der Nachrichtenagentur “dpa” aufgegriffen wurde. Andreas Szabo von “Radio Dresden” hält das für problematisch: “Einen irgendwo ins Internet geschriebenen Text (mit kurzer Nachfrage bei Polizei) allerdings als Quelle für eine Eilmeldung zu nutzen, die bundesweit für viel Aufsehen sorgt und den Ermittlungsbehörden noch mehr Arbeit beschert, ist fahrlässig. Zu jedem Journalismus-Seminar gehört in den ersten Stunden der Grundsatz: 2-Quellen-Prinzip.”

2. Jeder Beitrag könnte der letzte sein
(correctiv.org, Marta Orosz)
In der Türkei wurden mehr als 140 Journalisten inhaftiert mit der Begründung, sie hätten angeblich terroristische Gruppen unterstützt. Trotz dieser massiven Einschüchterung gibt es Journalisten, die auch weiterhin kritisch aus dem Land berichten. Eine dieser mutigen Personen ist Zübeyde Sarı, die für “#ÖZGÜRÜZ” arbeitet, das türkisch-deutsche Onlinemedium von Can Dündar und Correctiv.

3. Flüchtlinge als Quotenbringer
(taz.de, Bettina Figl)
Letzte Woche fand im italienischen Perugia das 11. Internationale Journalismusfestival statt. Ein Schwerpunkt war der Umgang europäischer Medien mit dem Thema Flucht. Bettina Figl hat für die “taz” einige Panels besucht und berichtet von ihren Eindrücken und Erkenntnissen.

4. kontertext: Wissenschaftsbashing
(infosperber.ch, Ariane Tanner)
Die Historikerin Ariane Tanner erklärt, mit welchen Techniken gearbeitet wird, um wissenschaftliche Tatsachen oder längst Erwiesenes in Zweifel zu ziehen. Sie geht dazu in die 1950er Jahre zurück. In dieser Zeit hatte sich ein Zirkel interessierter Personen zusammengeschlossen, um den bereits bekannten Zusammenhang zwischen Rauchen und Gesundheitsschäden zugunsten der Tabakbranche zu verschleiern. Aber auch in der Jetztzeit wird gegen unangenehme Wahrheiten agitiert wie das Thema Klimawandel beweist. Tanner beschreibt die “Strategie des Anzweifelns” und wie das Medienphänomen “false balance” entsteht.

5. Facebook will Fake-Accounts schließen
(zeit.de)
Facebook kommt nicht umhin, sich dem Thema Fake News zu widmen und hat dazu eine Anzeigenkampagne gestartet. Eine Facebook-Managerin hat im Blog angekündigt, man wolle nicht nur gegen Falschmeldungen vorgehen, sondern auch verdächtige Nutzerkonten (Fake Accounts) löschen. In Frankreich sei das soziale Netzwerk so bereits bei 30.000 Fake-Konten vorgegangen.

6. Netzwerkdurchsetzungsgesetz
(neusprech.org, Martin Haase)
Martin Haase denkt über den Begriff “Netzwerkdurchsetzungsgesetz” nach und kommt zum Schluss: “Wenn aber schon die Bezeichnung eines Gesetzes Murks ist, dann gilt das oft auch für den Inhalt. Das N. ist ein Beleg für diese Theorie.”

Bild.de hat das Urteil bereits gesprochen

Die Polizei fahndet aktuell bundesweit nach einem Mann, der in der Nähe von Hannover eine Frau umgebracht haben soll. Soll. Es handelt sich erst einmal nur um einen Tatverdächtigen, einen mutmaßlichen Mörder, endgültig bewiesen ist noch nichts. Und so schreiben die meisten Medien auch, dass die Fahndung nach dem “mutmaßlichen Täter” laufe oder dass ein “Verdächtiger noch flüchtig” sei.

Nur für Bild.de stand bereits gestern Abend fest: Der Gesuchte ist kein mutmaßlicher Mörder, er ist ein “Killer”. Die Tatsachenbehauptung prangte dick und fett auf der Startseite:

Polizei fahndet nach diesem Krankenpfleger - Nach der Pilgerfahrt wurde er zum Killer
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Da die Fahndung öffentlich ist, und die Polizei selbst ein Foto sowie den kompletten Namen des Mannes herausgegeben hat, ist nichts dagegen einzuwenden, dass auch Bild.de diese Informationen verbreitet. Dass die Redaktion aber jemanden zum “Killer” macht, bevor ein Gericht darüber entschieden hat, ob der Verdächtige schuldig ist, oder dieser ein Geständnis abgelegt hat, missachtet die Unschuldsvermutung. Wenn die Mitarbeiter von Bild.de das Gefühl haben, jemand hat ein Verbrechen begangen, dann sprechen sie ihr Urteil. Dass noch nichts bewiesen ist, scheint bei der Suche nach einer klickversprechenden Überschrift irrelevant zu sein.

Heute morgen veröffentlichte das Portal einen weiteren Artikel zu dem Fall. Inhaltlich ist er sehr ähnlich, es gibt kaum etwas Neues. Dieses Mal muss man allerdings ein “Bild plus”-Abo haben, um den Text lesen zu können.

In der zugehörigen Teasergrafik auf der Startseite ist Bild.de etwas vorsichtiger geworden — nun “soll” der Mann “gemordet” haben, hinter dem “Killer” steht ein Fragezeichen:

Kurz danach soll er gemordet haben - Pilgerten diese Frauen mit einem Killer?
(Unkenntlichmachung des Mannes durch uns, Unkenntlichmachug der Frauen durch Bild.de.)

Sowohl für den Artikel von gestern Abend als auch für den von heute gilt übrigens: Einen Zusammenhang zwischen der Pilgerreise des Gesuchten und dem Mord nahe Hannover scheint es nach aktuellem Kenntnisstand nicht zu geben.

Mit Dank an Tobi für den Hinweis!

Parteipostillenwerbung, Gegenrede, Jim Pandzko

1. Volkswagen, E.ON, DHL: So viel zahlen Lobbyisten für Werbung in Parteizeitungen
(abgeordnetenwatch.de, Marthe Ruddat)
Parteien generieren teilweise beträchtliche Einnahmen durch Anzeigenverkauf in ihren Mitgliedermagazinen. Millionensummen, bei denen die genaue Herkunft oftmals nicht oder nur schwer nachvollziehbar ist. Die Plattform “abgeordnetenwatch.de” listet auf, wieviel Unternehmen und Verbände für Werbeanzeigen in Parteizeitungen zahlen. Die vorherrschende Intransparenz der zum Teil horrenden Einnahmen aus dem Politsponsoring würde sogar von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisiert.

2. “Früher wurde ich beneidet”
(br.de, Michael Schramm, Video, 4:19 Minuten)
Als Michael Schramm vor sieben Jahren nach Istanbul ging, um das dortige ARD-Studio zu übernehmen, wurde er von Kollegen beneidet. Istanbul galt damals als einer der hipsten Städte in Europa überhaupt, voller Erasmus-Studenten und Touristen. Die Situation hat sich mittlerweile bekanntermaßen dramatisch geändert. Michael Schramm zeichnet die Entwicklung der letzten Jahre nach. Beginnend mit der gewaltsamen Niederschlagung der Gezi-Demonstrationen vor vier Jahren, die er rückschauend als den Wendepunkt für die türkische Politik bezeichnet, bis zur demnächst stattfindenden Abstimmung über die Einführung eines Präsidialsystems.

3. „Flüchtlingsthemen ziehen den Hass an wie Scheiße die Fliegen“
(t3n.de, Andreas Weck)
Hannes Ley hat auf Facebook die geschlossene Gruppe Ich bin hier gegründet. Die Idee dahinter: Gruppenmitglieder sollen sich in Wut-Diskussionen mit einem sachlichen, faktentreuen und höflichen Post einschalten und dort den #ichbinhier-Hashtag hinterlassen. Auf diese Weise kann der Kommentar von anderen Gruppenteilnehmern identifiziert werden und mit Hilfe von Likes unterstützt werden. Besonders häufig schalten sich die Mitglieder bei Themen über Geflüchtete ein. Weitere Themen seien Ausländerkriminalität, Politik-Bashing und Medienschelte sowie sexistische und homophobe Inhalte. Im Interview spricht Ley über seine Erfahrungen und welchen Anfeindungen er und seine Co-Moderatoren ausgesetzt seien.

4. “Daily Mail” zahlt Melania Trump Schmerzensgeld
(sueddeutsche.de)
Das britische Boulevardblatt “Daily Mail” hat Melania Trump als früheres Escort-Girl bezeichnet und wurde dafür nun zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt, die laut AP-Angaben bei 2,7 Millionen Euro liegen soll. Die amerikanische Präsidentengattin hatte 141 Millionen gefordert.

5. Weniger Programm, mehr Übernahmen
(deutschlandfunk.de, Wolfgang Stuflesser, Audio, 4:10 Minuten)
Wenn US-Präsident Donald Trump seinen Haushaltsentwurf durchbekommt, stehen den mehr als 1.400 öffentlichen lokalen Fernseh- und Radiosendern in den USA schwierige Zeiten bevor: Trump will die staatlichen Zuschüsse streichen. Wolfgang Stuflesser hat sich für den Deutschlandfunk beim Sender Valley PBS in der kalifornischen Stadt Fresno nach den möglichen Auswirkungen umgehört.

6. Böhmermann-Satire startet durch
(horizont.net)
Jan Böhmermanns führt die Musikindustrie mit seiner Songsatire vor. Nun klettert der von Schimpansen zusammengehauene Song in die Charts. Böhmermanns Traum: Das Ding auf Platz eins zu hieven, um 2018 einen Echo-Preis dafür abzuräumen.

Julian Reichelt berichtigt mit falschen Fakten

Am Montagabend lief eine neue Folge “Hart aber fair”. Thema der Sendung: “Giftgas gegen syrische Kinder — werden wir schuldig durch Wegschauen?” Als Talk-Gast mit dabei: “Bild”-Chef-Chef Julian Reichelt. Und der muss, schaut man sich eine Nachbesprechung der Sendung an, einen richtigen guten Job gemacht haben. Denn Reichelt lieferte laut TV-Kritik “erst mal Fakten”. Später habe er einiges geradegerückt. Muss ein guter Mann sein, dieser Reichelt. Von wem stammt noch mal gleich das Doppel-Lob im “Hart aber fair”-Nachgang? Ach, hier: von Julian Reichelts eigenem Portal Bild.de.

Worauf der Bild.de-Autor in seiner Kritik nicht eingeht: Dass sein Chef sich im TV-Studio immer wieder so verhielt, wie sonst nur bei Twitter. Er unterbrach ständig andere Leute, musste von Moderator Frank Plasberg zur Räson gerufen werden, wurde persönlich, fand Aussagen anderer Studiogäste “dumm”.

Fast immer war Ulrich Scholz, ein früherer NATO-Planungsstabsoffizier, Ziel von Reichelts Angriffen — in einem Punkt durchaus zurecht: Scholz konstruierte eine Version des jüngsten Giftgasangriffs in Syrien, die stark an die des Kreml erinnerte, die wiederum in der Sendung durch einen Einspieler von der “Hart aber fair”-Redaktion widerlegt wurde. In einem anderen Punkt war Reichelts, nun ja, Kritik aber völlig unangebracht: Scholz sagte, dass der frühere US-Präsident Bill Clinton 1998 Raketen auf Afghanistan schießen ließ. Das war ein Punkt, bei dem Julian Reichelt mal wieder etwas geraderücken musste. Er sagte:

Ich finde es schon bezeichnend, bei allem, was Sie sagen, wie viele falsche Fakten da drin sind. Es gibt keinen Frieden zwischen Israel und Assad [Anmerkung: Scholz hatte sich zuvor versprochen und anstatt Sadat “Assad” gesagt]. Bill Clinton hat 1998 nicht Afghanistan, sondern den Sudan bombardiert.

Rumms! Endlich sorgt mal einer für Klarheit. Nur: Reichelts Zurechtweisung ist inhaltlich falsch. Die USA haben im August 1998 Ziele im Sudan und in Afghanistan bombardiert. Die “Operation Infinite Reach”, ein Vergeltungsschlag nach Bombenangriffen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania, ist gut dokumentiert.

Später in der Sendung, nachdem das “Hart aber fair”-Team die Sache recherchiert hatte, ergänzte auch Moderator Frank Plasberg, dass Ulrich Scholz mit seiner Aussage zu Bill Clinton Recht hatte. In die TV-Kritik bei Bild.de hat es Julian Reichelts Berichtigung mit falschen Fakten leider nicht geschafft.

Mit Dank an Wolf T. und Sascha W. für die Hinweise!

Heilige Scheiße, Schmier-TV, Theatertheater

1. Provinzblatt gewinnt Pulitzer
(taz.de, Maike Brülls)
„Heilige Scheiße, wir haben gewonnen“… Man kann sich das ungläubige Gesicht des Redakteurs des Lokalblatts “The Storm Lake Times” (Auflage: 3.000 Expl.) vorstellen, als bekannt wurde, dass er die wichtigste Auszeichnung im US-amerikanischen Journalismus bekommen hatte: den Pulitzer-Preis. Das Komitee würdigte damit die Leitartikel von Redakteur Art Cullen, in denen er über die in Iowa agierenden großen Landwirtschaftsunternehmen wie Monsanto, Cargill oder Koch Brothers schrieb. Und zeichnete symbolhaft den regional wichtigen, aber im Rahmen des US-Zeitungssterben gefährdeten Lokaljournalismus aus.

2. Die Sendung mit der Maus
(faz.net, Anna Vollmer)
Was Anna Vollmer da über das italienische Fernsehen zusammengetragen hat, ist schon erschütternd. Das Programm wirke nicht nur auf unangenehme Weise gestrig, sondern vermittle ein sexistisches Frauenbild: “Wer italienisches Fernsehen schaut, fühlt sich häufig um zwei, drei Jahrzehnte zurückversetzt: zu grell, zu bunt, zu laut. Die Moderatoren, oft Männer mittleren bis fortgeschrittenen Alters, machen schmierige Onkelwitze, während leicht bekleidete Frauen blinkende Treppenaufgänge hinauf und hinabstolzieren. Man wundert, ärgert sich seit Jahren, doch geändert hat sich wenig – bis jetzt.” Eine besonders missglückte Sendung des öffentlich-rechtlichen Programms hat nun allerdings einen Proteststurm ausgelöst, der Folgen haben könnte.

3. Der Freischreiber-Newsletter
(freischreiber.de)
Immer einen Blick wert: Der Newsletter von “Freischreiber”, dem Berufsverband freier Journalistinnen und Journalisten. In der aktuellen Ausgabe gibt es Lesenswertes über die Ende des Monats anstehende Verleihung des Himmel- und Höllepreises. Damit zeichnet der Verband vorbildliches beziehungsweise tadelnswertes Verhalten von Medienunternehmen im Umgang mit Journalistinnen und Journalisten aus. Außerdem führt der Newsletter zu vielen interessanten Beiträgen rund um den Journalismus. Nicht nur für Profis lesenswert, sondern auch für den am Mediengeschehen interessierten Laien.

4. “Woher wissen Sie das?”
(sueddeutsche.de, Karoline Meta Beisel)
Die Wahrheit hat es in den USA gerade nicht leicht: Immer mehr Fake News geistern durchs Netz und mittlerweile wird mit ihnen sogar Politik gemacht. Der Twitter-Account des amerikanischen Präsidenten Donald Trump gilt vielen als eine Fundgrube falscher Behauptungen, Verdrehungen und Lügen. Doch wie mit dem Thema umgehen? Erreicht man mit Faktenchecks sein Ziel? Nur eingeschränkt, denn das Misstrauen gegenüber den amerikanischen Medien ist groß. Außerdem erreichen Faktenchecks oft nur diejenigen, die sich eh gut auskennen.

5. Werben mit Google: Ist die taz Schmuddelkram?
(blogs.taz.de, Martin Kaul)
Die “taz” hat vor Jahren über den Streit zwischen Google und einer Webseite berichtet, auf der sich Youtube-Filmchen als MP3-Dateien herunterladen lassen. Nun hat die Zeitung eine Mail von Google bekommen, die ernsthafte Konsequenzen androht, wenn die Zeitung den Beitrag so stehen lasse. Der Artikel verstoße gegen die “Programmrichtlinien” heißt es diffus. Da der “taz” nicht klar ist, was genau bemängelt wird bzw. wie Abhilfe geschaffen werden soll, hat man bei Google nachgefragt. Bislang ohne Erfolg.

6. Schreiben Sie das jetzt!
(nachtkritik.de, Dirk Pilz)
Theaterkritiker Dirk Pilz wird in letzter Zeit immer öfter aufgefordert, Theaterevents bereits im Vorfeld zu betrommeln. Nun wendet er sich mit deutlichen Worten an Intendanten, Pressesprecher und Marketingbeauftragte: “Es gibt einen Unterschied zwischen Presse- und PR-Arbeit. Nein, Theaterkritiker sind nicht die Außenposten der Öffentlichkeitsarbeit, sie sind auch keine Angestellten der Theaterkunst. Nein, es ist nicht die Aufgabe von Theaterkritik, schöne Festivals, tolle Regisseure, Schauspieler oder Autoren zu bewerben. Und kommen Sie mir bloß nicht mit dem Hinweis, dass wir doch alle im selben Boot säßen und gegen die böse Kulturpolitik und ihre steten Kürzungsgelüste gemeinsam zu streiten hätten. Den Kampf hat schon verloren, wer vorderhand das demokratische Grundrecht der Pressefreiheit preist, hintenherum aber alles für die eigenen Belange instrumentalisiert.”

Bild.de pfeift auf Polizei-Bitte und spekuliert zu Explosionen in Dortmund

Vor dem Champions-League-Spiel des BVB gegen den AS Monaco gab es am Mannschaftsbus der Dortmunder Fußballer offenbar drei Explosionen.

Die Polizei Dortmund bat bei Twitter darum, “Gerüchte und Spekulationen” zu unterlassen:

Dabei richtete sich die Polizei nicht explizit an Medien. Aber warum soll diese Bitte nicht (und gerade auch) für Redaktionen gelten?

Und was machen die Mitarbeiter von Bild.de? Sie pfeifen auf die Bitte der Polizei und spekulieren:

Bomben-Explosion am Dortmund-Bus! Spiel abgesagt! Dortmund-Boss Watzke: 'Sprengstoff-Anschlag auf den Bus. Mannschaft in Schockstarre' - BVB-Spieler Bartra leicht verletzt und auf dem Weg ins Krankenhaus - Polizei bestätigt: Drei Sprengsätze am Mannschaftsbus - Schock nach Bombenattacke: Was steckt hinter dem Anschlag?

In ihrem Artikel “Was steckt hinter dem Anschlag?” rät die Redaktion rum, wie es zu den Explosionen gekommen sein könnte (auf einen Link verzichten wir bewusst — wir wollen die Spekulationen von Bild.de ja nicht noch stärker weiterverbreiten als wir es durch unsere Zusammenfassung sowieso schon tun):

Dortmund unter Schock. Kurz vor Beginn der Champions-League-Partie gegen Monaco wurde der BVB-Mannschaftsbus angegriffen. BILD erklärt, was hinter der Attacke stecken könnte.

… ohne genauere Informationen dazu zu haben. Es sind schlicht Spekulationen: vielleicht sei etwas ferngezündet worden, was “für Erfahrung beim Bau und Auslösen von Sprengsätzen” spräche; vielleicht sei eine Lichtschranke “(wie zum Beispiel beim Anschlag auf Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen)” oder “eine Druckplatte auf der Straße” benutzt worden; vielleicht habe aber auch jemand “die Sprengsätze (zum Beispiel Granaten) von Hand auf den Bus” geworfen. Bild.de weiß nichts und schreibt viel.

Das Portal schließt aus der eigenen Rumraterei, dass viele der Punkte dafür sprächen, dass es sich um ein “Werk von Profis” handele. Das kann natürlich sein. Es kann aber auch ganz anders sein. Unter anderem deswegen bat die Polizei Dortmund, keine Spekulationen zu verbreiten oder — noch schlimmer — sie selbst in die Welt zu setzen. Aber seit wann interessiert die “Bild”-Medien schon, was die Polizei will?

Pulitzers Panama, Himmel-Hölle, Realityshow Krieg

1. Pulitzer-Preis für Panama Papers
(sueddeutsche.de)
Der internationale Journalistenzusammenschluss “ICIJ” (International Consortium of Investigative Journalists) hat für die Berichterstattung rund um die “Panama Papers” den Pulitzer-Preis bekommen. Damit geht die wohl bekannteste und prestigeträchtigste Auszeichnung im Journalismus indirekt auch an Journalisten der “Süddeutschen Zeitung”. Das deutsche Medium hatte die 11,5 Millionen vertraulichen Dokumente des panamaischen Offshore-Dienstleisters Mossack Fonseca von einer anonymen Quelle zugespielt bekommen, mit dem “ICIJ” geteilt und anschließend mitaufgearbeitet.

2. Freischreiber nominieren Jakob Augsteins Freitag und Süddeutsche Zeitung für den Höllepreis
(meedia.de)
Die Journalistenvereinigung “Freischreiber” vergibt jedes Jahr den “Höllepreis”, eine Art Goldene Zitrone der Medienbranche. Dieses Jahr zählen zur Nominiertenliste der “Freitag”, die “SZ”, die “Deutsche Presse-Agentur”, “Travel House Media” sowie der Zeitungsverlegerband “BDZV”. Doch es gibt auch einen “Himmelpreis”, mit dem Medienunternehmen für besonders vorbildhaftes Verhalten ausgezeichnet werden. Auf der Nominierungsliste stehen Verlegerin Sandra Uschtrin, die ihr widerrechtlich zugeflossene VG-Wort-Einnahmen nach dem BGH-Urteil klaglos und in voller Höhe zurückerstattet und die August Schwingenstein Stiftung für ihre Verdienste um den Medienwandel.

3. Warum CORRECTIV ein „Schwarzbuch AfD“ veröffentlicht
(correctiv.org, Markus Grill)
Das Recherchezentrum “correctiv” stellt sein “Schwarzbuch AfD” vor: “Wir finden, es reicht langsam. Es reicht, dass viele Medien fortwährend über das Stöckchen springen, das die AfD ihnen hinhält und über deren gezielte Provokationen berichten. Wir wollen selbst bestimmen, was wir über die AfD berichten und wann. Deshalb dieses „Schwarzbuch AfD“. Es beschreibt Dinge, die die AfD lieber nicht über sich lesen will: Die Verbindungen einiger ihrer Protagonisten ins rechtsextreme Milieu, die dubiose Finanzierung der Partei, die unsozialen Punkte ihres Parteiprogramms, die Intrigen ihrer Führungsfiguren.”

4. Geflüchtete beim Kaninchenzüchter
(taz.de, Natalie Mayroth)
Natalie Mayroth berichtet in der “taz” vom Crowd-Funding-Projekt „Newscomer“, das Geflüchtete in Kontakt mit Lokalredaktionen bringen will. Die Idee dabei: Als Tandem sollen zehn Zweierteams aus Lokaljournalisten und Menschen mit Fluchtgeschichte in Lokalmedien aus ihrem Alltag in Deutschland berichten. Das Projekt hat bereits einige Unterstützung erfahren, doch nun fehlen mindestens 10.000 Euro, mit denen u.a. die Kosten für Workshops abgedeckt werden.

5. Mehr Empathie, weniger Klischees
(deutschlandfunk.de, Audio, 4:17 Minuten)
Der Deutschlandfunk hat sich in den internationalen Presseabteilungen der Bahnhofsbuchläden nach regionalen Ausgaben ausländischer Zeitungen umgesehen, die ihren Redaktionssitz in Deutschland haben. Drei Medien hat man sich genauer angeschaut, die italienische “Corriere d´Italia”, die russische “Russkaja Germanija” und die türkische “Hürriyet”. Einwanderer würden ausländische Zeitungen oft parallel, selten ausschließlich, lesen. Insgesamt würden Einwanderer, egal welcher Herkunft, deutschsprachige Blätter bevorzugen. Von einer medialen Abkapselung könne damit also nicht die Rede sein. (Für Audiobeitrag im Bild des Beitrags rechts unten auf die Schaltfläche “Hören” klicken.)

6. Krieg geht immer
(spiegel.de, Marc Pitzke)
“Krieg geht immer” konstatiert Mark Pitzke in seinem Kommentar über Trumps Militärschlag in Syrien und den Widerhall in den Medien. Der amerikanische Präsident inszeniere seinen Militärschlag gegen Syrien wie eine billige Realityshow und die US-Medien würden willig anbeißen.

Zuckermelonen, die hupend Muscheln sammeln

Im Dezember vergangenen Jahres, Sie erinnern sich vielleicht, wollte die “Bild”-Zeitung eine “große Debatte um das Frauenbild von Flüchtlingen” anstoßen:

Natürlich haben viele Männer ein schiefes Frauenbild — egal ob Flüchtling, Deutscher oder wasauchimmer. Und die “Bild”-Medien arbeiten mit ihren unzähligen Brüste-Hintern-Schlüpferlos-Artikeln nicht gerade dagegen an. Deswegen wollen wir uns hier im BILDblog immer mal wieder das Frauenbild der “Bild”-Redaktionen anschauen.

Seit der letzten Ausgabe im Januar ist ein bisschen was zusammengekommen. Zum Beispiel dieses lustige Wortspiel in der Bildunterschrift aus der vergangenen Woche über Leila Lowfire und Sophia Thomalla:

Klar, warum nicht einfach mal Frauen mit größeren Brüsten oder tieferem Ausschnitt mit dem Wort “ficken” in Verbindung bringen? Was ziehen die sich auch so aufreizend an?!

***

Bleiben wir bei Sophia Thomalla. Denn um sie handelt es sich bei dieser “fruchtigen Aussicht”:

Bild.de schreibt dazu:

Dann schauen wir mal, wir sehen: schöne Füße, wohlgeformte Beine, flacher Bauch, zwei Kokosnüsse — und zwei Zuckermelonen …

Melonen? Hat hier jemand “Melonen” gesagt?

Wenn man häufiger bei Bild.de vorbeischaut (was keine Empfehlung unsererseits sein soll), bekommt man das Gefühl, dass die Redakteure, die dort arbeiten, an keinem Bikini-Foto vorbeikommen. Wenn irgendwo eine halbwegs prominente Frau zwischen 15 (ja, 15!) und 40 Jahren (oder Liz Hurley) in Bademode auftaucht — zack, ein neuer Artikel bei Bild.de.

***

Oder wenn irgendwo mal ein Millimeter eines Nippels zu sehen ist. Und wenn gerade keine Kokosnuss und auch keine Melone in der Nähe ist, dann geht es dieses Mal eben um “Hupen”:


(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Und auch sonst veröffentlich Bild.de gern Fotos, bei denen irgendwelche Paparazzi Frauen in den Ausschnitt oder unter den Rock fotografiert haben:

***

Doch zurück ans Wasser. Denn dort kann man Frauen immer noch am besten auf ihr Äußeres reduzieren:




***

Das Frauenbild der “Bild”-Medien begrenzt sich aber nicht nur auf plumpes Titten-Glotzen und Ärsche-Gucken. Es lässt Frauen neben Männern oft klein aussehen. Die Begleitung von Schauspieler Ryan Gosling bei der “Oscar”-Verleihung war für Bild.de nicht “seine Begleitung” oder gar einfach eine “Frau an seiner Seite”, sondern “die heiße Blondine von Ryan”:

Während Casper “Rap-Star” ist, ist Lisa Volz nicht eine Schauspielerin, sondern eine “Schönheit”:

Während Andreas Bourani “Sänger” ist, ist Toni Garrn nicht ein erfolgreiches Model, sondern “Single”:

Und während es völlig zurecht als Problem gesehen wird, wenn Flüchtlinge Frauen als reine Objekte betrachten, soll der Sexismus der “Bild”-Medien Journalismus sein.

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