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Wie “Bild” Wahlkampf in der Provinz macht

Sie ist schon ungewöhnlich, die Geschichte des Bürgermeisters von Selm, der bis 2009 gewählt ist, jetzt aber Bürgermeister von Greven werden will. Und natürlich darf man Jörg Hußmann (CDU) für diesen Schritt kritisieren und über seine Beweggründe spekulieren. Schon als Hußmann im vergangenen Oktober seine Kandidatur bekannt gab, sorgte das für Diskussionen. Die “Bild”-Zeitung schaffte es aber auch gestern noch, einen echten Aufreger daraus zu machen:

Jörg Hußmann ist bis 2009 als Bürgermeister gewählt. Aber jetzt will er ins Münsterland wechseln. BILD sagte er: "Selm ist mir zu langweilig"

Dass Hußmann nicht nur familliäre Gründe für den gewünschten Wechsel angibt (seine Frau arbeitet in der Nähe von Greven, seine Tochter geht dort zur Schule), sondern auch die größere berufliche Herausforderung, die Greven u.a. als aufstrebender Flughafen-Standort darstelle, ist bekannt. Die Durchschlagskraft entwickelt der ganzseitige “Bild”-Artikel allein durch die wörtlichen Zitate Hußmanns. Laut “Bild” hat er sich gegenüber der Zeitung unter anderem so über Selm geäußert:

“Hier reizt mich nichts mehr, es ist mir zu langweilig und wirtschaftlich uninteressant.”

Nur sagt Hußmann, er habe diesen Satz nie gesagt. Seine Wahlkampfleiterin erklärte gegenüber BILDblog, die Zitate seien “keine wörtliche Wiedergabe dessen, was Herr Hußmann dem ‘Bild’-Redakteur am Telefon gesagt hat”.

Wer hat Recht? Der Wahlkämpfer? Oder “Bild”-Autor Sven Kuschel und seine Kollegen? Zum Glück hat die Axel-Springer-AG, in der “Bild” erscheint, für solche Fälle einen praktischen Passus in ihren “journalistischen Leitlinien”:

Die Journalisten bei Axel Springer …
… tragen grundsätzlich, auch im Falle besonderen Termindrucks, dafür Sorge, dass Interviews vom Gesprächspartner mündlich oder schriftlich autorisiert werden.

Blöd nur, dass Hußmann sagt, die Zitate seien nicht autorisiert.

Und wenn “Bild” unter ein Foto des Kandidaten mit seiner stattlichen Bürgermeisterkette schreibt: “So lässt sich Jörg Hußmann gern fotografieren” und nicht nur Hußmann, sondern auch andere sagen, er habe diese Kette ungern und fast nie getragen, darf man der Zeitung — zwei Wochen vor der entscheidenden Stichwahl — schon eine gewisse böse Absicht unterstellen.

Vielen Dank an Oliver S.!

Ende eines Wahlkampfs

Am 28. August, drei Wochen vor der Bundestagswahl, erschien eine “Bild am Sonntag”, deren Titelseite so aussah:

Und heute, fünf Wochen danach, sieht die Titelseite der “BamS” so aus:

Und weil die Titelgeschichte der “BamS” damals, vor acht Wochen, natürlich im Blatt weiterging, steht das Wort Gegendarstellung heute ein zweites Mal auf Seite 4:

Mit anderen Worten: In der längst eskalierten Privatfehde zwischen der “Bild am Sonntag” und Oskar Lafontaine, aus der von Anfang an nicht ersichtlich war, wer denn nun Recht hatte (oder den Streit geschickter für den Wahlkampf zu nutzen wusste), hat sich der ehemalige “Bild”-Kolumnist das Recht erstritten, den Tatsachenbehauptungen der “BamS” seine eigenen entgegenzusetzen. Laut Lafontaine ist die “BamS”-Behauptung nämlich “falsch”, ein sog. “Protokoll der Privatjet-Affäre” des “BamS”-Korrespondenten Bernhard Keller würde belegen, dass Lafontaine die Unwahrheit gesagt habe, als er öffentlich bestritt, für die Anreise zu einem “BamS”-Interview einen Privatjet angefordert zu haben: Weder habe seine Mitarbeiterin für ihn “einen Privatjet gefordert”, noch habe er selbst “eine solche Forderung gestellt”.

Unmittelbar unter der Gegendarstellung steht:

“BILD am SONNTAG ist zum Abdruck der vorstehenden Gegendarstellung unabhängig von deren Wahrheit gesetzlich verpflichtet. Wir bleiben bei unserer Darstellung.”

Und unmittelbar neben der Gegendarstellung steht dies:

Denn die “BamS” hat Matthias Prinz, “Deutschlands bekanntestem Medienanwalt”, einfach mal so ein paar Fragen gestellt: “Herr Professor Prinz, was ist eine Gegendarstellung?” zum Beispiel, “Steht in einer Gegendarstellung immer die Wahrheit?” oder eben: “Beweist der Abdruck einer Gegendarstellung, daß eine Zeitung falsch berichtet hat?”

Auf die letzte Frage antwortet Prinz:

“Nein, und deswegen sieht man ja manchmal auch Gegendarstellungen mit Anmerkungen der Redaktion, in denen es heißt: ‘Die Redaktion bleibt bei ihrer Darstellung. Es liegen uns die folgenden Beweise vor, aus denen sich ergibt, daß die Gegendarstellung unwahr ist…'”

Und dem ist nichts hinzuzufügen – außer zweierlei.

Erstens: Es gibt auch Gegendarstellungen, unter die eine Redaktion schreiben muss: XY hat Recht.” Und zweitens: Der von Prinz angeführte Satz mit den “Beweisen” steht unter Lafontaines Gegendarstellung nicht.

Mehr dazu hier und hier.

Knapp (Wahlkampf X)

Vielleicht hätte “Bild” Hamburg am Montag gerne so etwas geschrieben wie:

Na, vielen Dank, liebe Leser. Wir haben Sie wirklich davor gewarnt, diesen Kommunisten und Penner Niels Annen zu wählen. In zwei riesigen Artikeln. Mit Überschriften wie: “Was bringt so einer im Bundestag?”. Und was machen Sie? Wählen den trotzdem! Wofür machen wir denn unsere Zeitung verdammtnochmal?

Aber sowas kann “Bild” ja als “überparteiliche” Zeitung nicht schreiben. Deshalb erschien in der Übersicht über die Ergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen stattdessen folgender Text:

Schwere Schlappe für den Dauer-Studenten und linken Ex-Juso-Chef Niels Annen (32). Auch wenn er in Eimsbüttel einen knappen Sieg einfahren konnte: Er bescherte der Partei schlimme Verluste. 2002 hatte sie hier noch 51,3 % der Erststimmen geholt.

Richtig ist, dass Annen mehr Stimmen verlor als die anderen SPD-Kandidaten in Hamburg. Sein “knapper Sieg” in Eimsbüttel besteht allerdings darin, dass Annen fast 16.500 Stimmen mehr bekam als der CDU-Kandidat und damit 11 Prozentpunkte vor ihm liegt. Und bei den Zweitstimmen liegt die SPD fast 14.400 Stimmen oder 9,8 Prozentpunkte vor der CDU.

Wenn es noch knapper geworden wäre, wäre es fast noch knapp geworden.

Vielen Dank an Fiete S. für den Hinweis und das Foto!

“Bild” fragt, Politiker antworten (Wahlkampf IX)

Darum ist eine Große Koalition Gift für Deutschland

Wen hat die “Bild”-Zeitung gefragt, um sich ihre seit Wochen wiederholten Warnungen vor einer Großen Koalition bestätigen zu lassen? “Große alte Männer”, “deren Wort Gewicht hat”, “eine Art Ältestenrat in Deutschland”. Ach ja, und alle drei sind Ehrenvorsitzende der FDP.

Noch überraschender als deren Urteil über eine Große Koalition ist nur diese Aussage, die “Bild” bemerkenswert genug fand, um aus ihr am Montag dieser Woche eine Seite-1-Schlagzeile zu machen:

Friedrich Merz & Christian Wulff: Merkel wird eine exzellente Kanzlerin!

Märchen (Wahlkampf VIII)

“Bild”-Kolumnist und Angela-Merkel-Unterstützer Hugo Müller-Vogg hat etwas Aufregendes herausgefunden: Die Menschen, die in einer SPD-Wahlwerbung abgebildet sind (mitsamt der Summen, die sie eine Unions-geführten Regierung angeblich kosten würde), diese Menschen sind gar nicht echt. Jedenfalls müssen sie ganz bestimmt nicht unter dem sogenannten “Merkel-Minus” leiden. Nicht nur, weil die SPD-Zahlen nach Müller-Voggs Berechnungen angeblich falsch sind. Sondern auch, weil es sich nicht um deutsche Familien und Rentner handelt, sondern um amerikanische Models.

Viele, viele Witze und bissige Bemerkungen hängt Müller-Vogg unter der Überschrift “Die heile SPD-Familie — ‘Made in the USA'” an der Tatsache auf, dass die SPD die Fotos einfach von der Agentur Getty Images bezogen hat, unter anderem auch die Schlusspointe, dass nicht nur die Rechnung der SPD, sondern auch die abgebildete “Familie” ein “Wahlkampf-Märchen” sei.

Apropos: Raten Sie mal, aus welchem Land dieses Baby stammt, mit dem die CDU in einem Wahlplakat ausgerechnet die Zeile “Deutschlands Zukunft sichern” bebildert hat. Und bei welcher Agentur die CDU es gekauft hat.

Wahlkampf VII

Diese Frage auf Seite eins der “Bild” von heute lässt sich – zumindest soweit es die Wahl zum deutschen Bundestag betrifft – leicht und eindeutig beantworten. Nämlich mit Nein.

Türken können die Bundestagswahl nicht entscheiden, weil sie nicht wahlberechtigt sind. Wahlberechtigt ist gemäß Paragraph 12 Bundeswahlgesetz (BWG), wer das 18. Lebensjahr vollendet hat und Deutscher “im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes” ist. Dort steht u.a.:

Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist (…), wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt

“Bild” scheint aber irgendwie Probleme mit dem Bundeswahlgesetz zu haben. Und ganz erhebliche mit dem Grundgesetz. Das zeigt nicht nur die irreführende Aufmacher-Frage auf der Titelseite, das zeigt auch der heutige Kommentar von “Bild”-Autor Dirk Hoeren auf Seite zwei, der Ausdruck eines beunruhigenden Demokratieverständnisses ist. Er ist folgendermaßen überschrieben:

Kein Wahlkampf mit Minderheiten

Das ist erstaunlich, schließlich stand bisher noch nie in “Bild”, dass es verwerflich sei, um die Stimmen alleinerziehender Mütter, Großfamilien, Behinderter oder anderer “Minderheiten” zu werben. Schauen wir uns also Dirk Hoerens Kommentar etwas genauer an. Darin steht u.a. folgendes:

Deutsch-Türken dürfen am Sonntag mitwählen.

Hoeren unterteilt die Wahlberechtigten also in “Deutsch-Türken” und andere. Es gibt aber im Wahlrecht keine solche Unterscheidung: Wählen darf, wer Deutscher ist, ganz gleich, ob er aus Antalya oder aus Bielefeld stammt.

Und weiter schreibt Hoeren:

Sie entscheiden möglicherweise darüber, wer in den kommenden Jahren Deutschland regiert und wer nicht.

Und es mag Herrn Hoeren überraschen, aber nach dem Grundgesetz entscheidet jeder Wähler darüber, wer das Land regiert und wer nicht. Das nennt man übrigens Demokratie.

Und dann schreibt Hoeren:

Kein Wunder also, daß SPD und Grüne gezielt bei den Türkischstämmigen auf Stimmenfang gehen. Motto: Deine Stimme für SPD und Grüne ist eine Stimme für erleichterte Einbürgerungen und den EU-Beitritt der Türkei.

Hoeren wirft also SPD und Grünen vor, dass sie ihr politisches Programm dazu benutzen, Wähler zu überzeugen, ihnen ihre Stimme zu geben. Ja was denn sonst?! Das Grundgesetz nennt das Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung. Doch darauf mag Hoeren sich offenbar nicht verlassen und schreibt im Anschluss:

Wer die deutsch-türkische Minderheit derart für Wahlkampfzwecke instrumentalisiert, erweist dem Zusammenleben von Deutschen und Türken einen Bärendienst.

Und dieser Satz hat es in sich, denn er sagt:

Wer um die Stimmen türkischstämmiger Wähler kämpft, macht nicht Wahlkampf, sondern er instrumentalisiert Wähler. Wer daraufhin SPD und/oder Grüne wählt, hat nicht frei seine Meinung gebildet, er hat sich instrumentalisieren lassen. Und Staatsangehörigkeit hin oder her, türkischstämmige Deutsche sind gar keine Deutschen, sie sind und bleiben — nach Ansicht von “Bild” — Türken.

Man kann Hoeren also so verstehen: Es geht nur dann in Ordnung, dass “Türken” in Deutschland wählen, wenn sie so wählen, wie es “Deutsche” tun — also mit, sagen wir, 40 Prozent Unions-Anteil. Und es geht nur dann in Ordnung, dass “Türken” in Deutschland wählen, solange “deutsche” Parteien davon absehen, ihre Interessen zu vertreten.

“Bild” wünscht sich also, im scharfen Kontrast zum Grundgesetz, dass die Interessen und die Stimmen türkischstämmiger Wähler in der deutschen Politik weniger zählen sollen als die deutschstämmiger Wähler. Vielleicht wünscht sich “Bild” aber auch nur, dass Angela Merkel gewinnt. Egal um welchen Preis.

Mit bestem Dank an Nils M.

Schwups (Wahlkampf VI)

Es gibt einen ganz einfachen Weg, Steuern zu senken: Man senkt ganz einfach die Steuern. Wenn man die Einkommensteuer abschaffen würde, hätten die Menschen zum Beispiel gleich viel mehr Geld in der Tasche! Auf die gleiche Art könnten zum Beispiel auch Museen ihre Attraktivität steigern: Sie halbieren einfach die Eintrittspreise! Und wenn Privatsender endlich aufhören würden, so viel Werbung zu zeigen, hätte man viel mehr Spaß beim Filmegucken!

Und wenn Sie jetzt sagen, dass das doch Milchmädchenrechnungen sind, weil die Einnahmeausfälle jeweils an anderer Stelle wieder ausgeglichen werden müssten, dann sind Sie vermutlich kein “Bild”-Redakteur. “Bild” glaubt nämlich, dass man nur die Ökosteuer abschaffen muss, schon kostet der Sprit weniger, und alle sind glücklich.

Glauben Sie nicht, dass das so schlicht da steht? Aber ja:

Von 1,31 Euro für einen Liter Super kassiert der Staat rund 84 Cent Steuern, knapp zwei Drittel.

Würde der Ökosteueranteil (inkl. MwSt. 17,75 Cent) wegfallen, blieben ihm immer noch rund die Hälfte.

Und schwups würde Sprit 1,13 Euro kosten …

Und schwups ist der Artikel zuende, und irgendwie kommt der Gedanke nicht mehr vor, dass die über 16 Milliarden Euro, die aus der Ökosteuer jährlich in die Rentenversicherung fließen, dann ja auf eine andere Art finanziert werden müsste und zum Beispiel — schwups — der Beitrag zur Rentenversicherung deutlich stiege.

“Bild”-Autor und Hobby-Wissenschaftler Dr. Paul C. Martin formulierte in einem “Bild”-Kommentar den Gedanken leicht abgeschwächt, aber ähnlich schlicht:

Dabei müßten nur Mineralöl- und Ökosteuer ein klein wenig und vorübergehend gesenkt werden, bis das Schlimmste ausgestanden ist.

…und schon bliebe Deutschland eine Art Hungersnot erspart (Martin bezeichnet Benzin als “Grundnahrungsmittel” wie früher Brot).

So einfach ist das also. Viel einfacher als, sagen wir, über viele Tage das Thema der explodierenden Benzinpreise in “Bild” mit persönlichen und politischen Angriffen auf Jürgen Trittin zu verbinden, ohne gleichzeitig der Wahrheit Gewalt anzutun.

Am 27. August druckte “Bild” ein Interview mit “Verhör” von Trittin. Der Umweltminister sagte darin auf die Frage nach Wegen aus der Preisspirale, dass die Industrie sparsamere Autos entwickeln müsse und dass alternative Antriebe gefördert würden. Er griff die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer durch die Union an. Und den Verbrauchern empfahl er vier Möglichkeiten: sparsamere Autos fahren, mit Erdgasautos fahren, spritsparender fahren sowie “ab und zu das Auto stehen lassen”.

“Bild” kündigte das Interview “Verhör”auf der Seite 1 so an:

Zwei Tage später war dies auch die einzige Aussage, die von den Vorschlägen Trittins übrig geblieben war. Alle anderen vergaß die “Bild”-Zeitung, um (wieder auf Seite 1) ihre These von der “Wut auf Trittin” zu belegen. Angeblich waren “Millionen Autofahrer empört” über die (von “Bild” verkürzte) Aussage des Umweltministers. Immerhin 18 davon empörten sich tatsächlich in “Bild” und sagten Sätze wie: “Der soll mal seinen Dienstwagen stehen lassen.” “Bild” selbst nannte Trittins (von “Bild” verkürzte) Äußerung einen “blanken Hohn” für Pendler.

Wiederum zwei Tage später titelte “Bild” auf Seite 1: “Benzin-Wut — Und die Politiker reden Müll”. Abgebildet waren als Beleg vier Politiker mit vermeintlich indiskutablen Zitaten — ausschließlich Mitglieder der rot-grünen Koalition, sicherlich ein Zufall, da ja auch CDU/CSU die Öko-Steuer nicht abschaffen wollen.

Inzwischen schien auch “Bild” allmählich der Kraftstoff auszugehen, denn der Artikel bestand tatsächlich fast ausschließlich aus alten Zitaten. Der Schluss allerdings hielt eine Überraschung parat:

Umweltminister Jürgen Trittin, hatte erst am Samstag im BILD-Interview allen Autofahrern geraten, ab und zu das Auto stehen zu lassen. Gestern präsentierte er auf BILD-Anfrage ein Drei-Punkte-Programm.

Sind Sie auch so gespannt, welche Punkte der Umweltminister nach Tagen der “Bild”-Attacke endlich aus der Schublade zog? Richtig: Es waren inhaltlich exakt die, die er “Bild” schon vier Tage zuvor diktiert hatte, die dem Blatt aber irgendwie unterwegs abhanden gekommen waren: keine Erhöhung der Mehrwertsteuer, alternative Treibstoffe, sparsamere Autos.

Nein, auch damit ist die Geschichte noch nicht zuende. Um zu belegen, dass Trittin Wasser predigt und Wein trinkt, begleiteten ein “Bild”-Reporter und ein “Bild”-Fotograf den Grünen-Minister am Dienstag einen ganzen Tag lang (die Umstände erläutert Trittin im “Tagesspiegel”). Akribisch schrieb der Reporter am Donnerstag auf, wie viele Kilometer Trittin mit seinem Dienstwagen zurücklegte, obwohl er doch das Ab-und-zu-Stehenlassen propagierte (und “Bild” druckte reichlich Fotos beim Ein- und Aussteigen in den Wagen).

Bilanz der Trittin-Wahlkampftour für diesen Tag: rund 600 gefahrene Kilometer, davon 380 Kilometer mit der Bahn, 215 Kilometer mit der Dienstlimousine, die zuvor 220 Kilometer aus Bonn zum Bahnhof in Bielefeld anfahren mußte, um den Minister abzuholen.

Der eifrige “Bild”-Mann hätte sich die Arbeit sparen können. Denn Trittins Dienstlimousine hat keinen Tropfen Benzin verbraucht. Sie ist, wie “Bild” unauffällig in einer Klammer vermerkt, “für 3400 Euro Aufpreis auf Erdgas umgerüstet” worden. Und Trittins Vorschlag lautete ja: Entweder mal den Wagen stehen lassen oder zum Beispiel auf einen Erdgas-Wagen umsteigen. Aber das komplette Zitat hatte der “Bild”-Mann sicher gerade wieder nicht zur Hand.

Niels Annen studiert (Wahlkampf V)

Niels Annen ist 32 Jahre alt, SPD-Direktkandidat für den Deutschen Bundestag im Wahlkreis Hamburg-Eimsbüttel und studiert. Und “Bild” fragte in großer Aufmachung (am Samstag in der Hamburg-Ausgabe, am Montag in Berlin):

"Weiß dieser junge SPD-Politiker wirklich, was Arbeit ist?"

Wer’s nicht gelesen hat, kann das seit gestern nachholen, weil “Bild” noch einen zweiten, inhaltlich recht ähnlichen Artikel über “das SPD-Milchgesicht” veröffentlicht hat. Die Hauptfrage diesmal:

"Was bringt so einer im Bundestag?"

Und man könnte den Eindruck haben, die unabhängige und überparteiliche “Bild” ließe sich hier in ihrer Berichterstattung von der Opposition instrumentalisieren. Aber wir wollen nicht spekulieren. Halten wir uns lieber an die Fakten – und Fakt ist: “Bild” schrieb über Annen:

“Wenn er es jetzt in den Bundestag schaffen sollte, verdient er ca. 10.600 Euro!”

Weiter hieß es in “Bild”:

“Um die 10.600 Euro monatlich, die er dann verdienen würde, werden ihn seine Mitstudenten sicherlich beneiden.”

Auch im zweiten Annen-Text ist in “Bild” von der “Aussicht auf 10.600 Euro Diäten im Monat” die Rede – und das stimmt wieder nicht: Annen wird (wenn es ihm gelingt, am 18. September in seinem Wahlkreis mehr Wähler als die Direktkandidaten anderer Parteien davon zu überzeugen, ihm ihre Erststimme zu geben) wie jedes Mitglied des Bundestages, gemäß Artikel 48, Abs. 3 des Grundgesetztes eine “Diäten” genannte Abgeordnetenentschädigung von monatlich 7.009 Euro gezahlt bekommen. So will es das Gesetz. Zusätzlich dazu steht jedem (in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählten) MdB eine Kostenpauschale zu, über die es auf der Website des Bundestages heißt:

“Weil ein ‘MdB’ auch im Wahlkreis keinen Arbeitgeber hat (der ein Büro stellt, Reisekosten abdeckt und Kilometergeld bezahlt) […] gibt es die Kostenpauschale. Sie beträgt zur Zeit 3.589,00 Euro […]. In vielen Fällen reicht die Pauschale nicht aus. Höhere Ausgaben werden jedoch nicht erstattet, und sie können auch nicht steuerlich abgesetzt werden; denn für den Abgeordneten gibt es keine ‘Werbungskosten’.”

Man könnte also spekulieren, dass “Bild” einfach Abgeordnetenentschädigung und Pauschale zusammenaddiert hat. Aber wie gesagt: Das wollen wir ja nicht.

Mit Dank an Fiete S. und derpraktikant für die Hinweise.

Nachtrag, 25.8.2005:
Und wir sind gespannt, wann “Bild” sich in ähnlich großer Aufmachung über Philipp Mißfelder hermacht. Schließlich ist Mißfelder 26 Jahre alt, CDU-Direktkandidat im Wahlkreis 122 und studiert ebenfalls.

Mit Dank an Sven M. für den Hinweis.

Keine Extrawurst (Wahlkampf IV)

Mal angenommen, einem großen Konzern ginge es plötzlich wirtschaftlich ganz furchtbar mies. So mies sogar, dass er betriebsbedingte Kündigungen aussprechen müsste. Nehmen wir weiter an, rund 4.200 Mitarbeiter wären von der Entlassung bedroht. Das wäre schlimm für diese 4.200 Mitarbeiter. Oder?

Offenbar kann man das auch anders sehen, nämlich so wie “Bild” es sieht, wenn es um Bundestagsmitarbeiter geht:

Und im Text heißt es:

Ihre Arbeitsverhältnisse enden mit Ablauf der Legislaturperiode — wegen der geplanten Neuwahlen jetzt ein Jahr früher als erwartet.

Doch sie fallen weich!

Besonders langjährige Mitarbeiter werden großzügig versorgt: Wer zwei volle Legislaturperioden im Bundestag gearbeitet hat und älter als 30 Jahre ist, bekommt vier Monate sein volles Gehalt weiter. Über 50jährige werden sechs Monate weiterbezahlt. Wenn sie drei Legislaturperioden im Bundestag beschäftigt waren, sogar neun Monate.

Das mag man als großzügig empfinden. Zumindest, was die Unter-50-Jährigen angeht, unterscheidet sich die Praxis im Bundestag aber kein bisschen von dem, was in der freien Wirtschaft üblich ist. Auch dort bekommen Mitarbeiter nämlich für gewöhnlich, beispielsweise bei betriebsbedingten Kündigungen, eine Abfindung. Die beträgt pro Jahr Betriebszugehörigkeit ein halbes Monatsgehalt. Bei acht Jahren Betriebszugehörigkeit ergäbe sich so beispielsweise eine Summe, die vier Monatsgehältern entspricht. Die über 50-jährigen allerdings, die könnten im Bundestag wohl auf etwas mehr Geld hoffen, als in der Wirtschaft üblich.

Aber vielleicht meint “Bild” mit “Mehr Geld” ja auch dies hier:

Nach neuesten Plänen der SPD sollen nun auch Fraktions- und Abgeordnetenmitarbeiter mit weniger Dienstjahren zwei Monate lang ihr Gehalt weiterbekommen.

Das ist zwar bislang nur eine Idee, und auch deren Umsetzung würde wohl keine gravierenden Unterschiede zur Wirtschafts-Praxis ergeben. In Einzelfällen ist es aber durchaus möglich, dass Bundestagsmitarbeiter mehr Geld bekommen, als in der Wirtschaft üblich. Aber muss man deshalb, wie “Bild”, komplett unterschlagen, dass es sich bei Abfindungszahlungen nicht um eine Sonderregelung für den Bundestag handelt?

Aber kommen wir zum so genannten “Luxus-Arbeitsamt”. Dazu schreibt “Bild”:

Übrigens: Auch von der Bundesagentur für Arbeit bekommen die betroffenen Mitarbeiter eine Extrawurst serviert: Für sie wird eigens ein Büro im Bundestag eingerichtet – sie müssen dann nicht auf überfüllten Amtsfluren stundenlang auf einen Termin warten …

Und dazu kann man nun ganz und gar nicht stehen, wie man will: Dass es sich dabei um eine “Extrawurst” handeln soll, ist schlicht falsch. Es ist nämlich gängige Praxis der Bundesagentur für Arbeit (BA) bei Großkonzernen, in denen Massenentlassungen anstehen, Informationsveranstaltungen direkt im betroffenen Betrieb durchzuführen. Das, und noch ein wenig mehr, kann man übrigens einer Pressemitteilung des Deutschen Bundestags entnehmen.

Aber vielleicht kam es “Bild” ja gar nicht so sehr darauf an, ihre Leser möglichst vollständig und zutreffend zu informieren. Sondern auf etwas ganz anderes.

Bastelstunde (Wahlkampf III)

“Hartz IV-Empfänger bekommen zuviel Geld”

Mit dieser brisanten Überschrift versucht Bild.de heute eine “These” des Berliner SPD-Politikers Thilo Sarrazin zusammenzufassen. Der Internet-Ableger der “Bild”-Zeitung beruft sich dabei auf die heutige Ausgabe ihrer Berliner Schwesterzeitung “B.Z.”, die anlässlich einer am Montag gehaltenen Rede “vor 170 Wirtschaftsbossen” über Sarrazin berichtet.

Wie in der “B.Z.” zitiert Bild.de den SPD-Mann zunächst so:

“Wie jeder weiß, liegt der Marktlohn für ungelernte Tätigkeiten in Berlin gegenwärtig bei 4 bis 5 Euro.”

Anschließend aber heißt es in der “B.Z.”:

“Ein Hartz-IV-Empfänger müßte nach der Logik des Arbeitsmarktes aber darunter liegen, so Sarrazin.”
(Hervorhebung von uns.)

Bei Bild.de jedoch steht:

“Nach Meinung des Politikers müßte ein Hartz-IV-Empfänger darunter liegen.”

Das ist ein Unterschied. Aber noch nicht alles. Denn abgesehen davon, das Bild.de in die Meldung (mit den Worten “Sarrazin weiter:”) noch ein weiteres Zitat montiert, das der Politiker zwar am selben Tag aber an anderem Ort (laut “B.Z.” nämlich “im Senat”) gesagt hat, folgt in der Online-Version von “Bild” ein dritter O-Ton Sarrazins. Er lautet:

“Das geht los mit dem Auto. Das muß weg, das muß kleiner werden. Es geht weiter mit den Wohnungen. Die muß sich auch ein bißchen verkleinern. Und beim Essen gibt es weniger Wurst.”

Und, ja: Auch das hat Sarrazin gesagt – allerdings nicht vor den “Wirtschaftsbossen”, nicht im Senat, nicht am Montag. Das Zitat stammt auch nicht aus der “B.Z.”, zumindest nicht aus der von heute. Gesagt hat Sarrazin das vielmehr in einer TV-Talkshow des damaligen SFB vom 11.11.2002. Außerdem ging es damals, vor zweieinhalb Jahren, überhaupt nicht um Hartz IV, wie man beispielsweise in der “B.Z.” vom 13.11.2002 nachlesen kann — im Hause “Bild” aber nicht.

Mit Dank an Ron für die Anregung.

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