“Bild” und die Kinderporno-Ermittlungen (2)

Das Landgericht (LG) Köln hat die “konkrete identifizierende Verdachtsberichterstattung” der “Bild”-Medien über einen ehemaligen Profifußballer verboten. “Bild” und Bild.de hatten Anfang September exklusiv und riesengroß über einen “Kinderpornografie-Verdacht” berichtet. In der Pressemitteilung des Gerichts heißt es:

In Ihrem Beschluss hebt die Kammer (…) maßgeblich auf die durch die konkrete Gestaltung der Berichterstattung gegebene Vorverurteilung und den Umstand ab, dass es für eine derartige Verdachtsberichterstattung an einem Mindestbestand an Beweistatsachen fehle, die für die Richtigkeit des vermittelten Verdachts sprechen könnten.

Auch “Bild” berichtet heute online und in der gedruckten Ausgabe über die Gerichtsentscheidung:

Ausriss Bild-Zeitung - Verdacht der Verbreitung kinderpornographischer Schriften - Gericht verbietet Bild Berichte über M.
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Die Redaktion schreibt dazu:

Das Landgericht Köln hat BILD mit einer einstweiligen Verfügung verboten, über die Ermittlungen gegen Ex-Fußball-Nationalspieler [M.] identifizierend zu berichten.

Bei Androhung einer Geldstrafe von bis zu 250 000 Euro — “oder einer Ordnungshaft bis zu 6 Monaten” — wird es BILD verboten, “über den Antragsteller im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Hamburg wegen des Verdachts der Verbreitung kinderpornographischer Schriften in einer diesen durch Nennung seines Namens und Veröffentlichung seines Bildnisses identifizierenden Weise zu berichten”.

Aber verstößt “Bild” mit diesem Bericht über die einstweilige Verfügung nicht schon gegen die einstweilige Verfügung? Wir haben bei Medienrechtlern nachgefragt.

Zunächst stelle sich die Frage, ob die einstweilige Verfügung bereits ordnungsgemäß zugestellt wurde, erklärt Lucas Brost von der Kanzlei Höcker, denn erst dann sei sie für “Bild” bindend. Es sei beispielsweise denkbar, dass der Anwalt des früheren Fußballprofis die “Bild”-Redaktion vorab, etwa per E-Mail, über die Verfügung informiert hat, und “Bild” daher die Kenntnis habe. Allerdings, so Brost:

Für eine bereits erfolgte Zustellung könnte sprechen, dass die alten BILD-Beiträge offensichtlich bereits gelöscht wurden und die einstweilige Verfügung ausweislich der Pressemitteilung des LG Köln bereits am 19.09.2019 erlassen wurde.

Tatsächlich sind bei Bild.de alle alten Artikel zum Fall verschwunden.

Der Medienrechtler Dominik Höch sagt zum “Bild”-Bericht von heute:

BILD wird sich darauf berufen, dass es sich um einen Fall der sogenannten referierenden Berichterstattung handelt. Gerichte haben mehrfach entschieden, dass Medien über ein Verbot gegen sie selbst berichten dürfen, ohne gegen die einstweilige Verfügung zu verstoßen. Voraussetzung ist allerdings, dass für den Leser erkennbar ist, dass nur sachlich referiert wird, was nun untersagt wurde. Und: Es darf sich nicht um einen Vorwand handeln, um das Verbot zu umgehen und die Behauptung erneut aufzustellen.

Wäre er der Anwalt des Ex-Fußballers, so Höch, würde er ihm raten, “ein Ordnungsgeld wegen Verstoßes gegen die einstweilige Verfügung, so diese denn schon formal zugestellt ist, zu beantragen”:

Zwei Gründe: Alleine im Text der BILD wird fünfmal der konkrete Vorwurf (“Verbreitung kinderpornographischer Schriften”) erneut aufgestellt. Dazu kommt die eingeblendete Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft. Das geht weit über eine sachliche Mitteilung hinaus, was der BILD verboten wurde. Man hat den Eindruck, man wollte dem Antragsteller hier noch mal “einen mitgeben”. Zum Zweiten liefe der Anonymitätsschutz im Ermittlungsverfahren komplett leer, wenn auf diese Weise solche existenzvernichtenden Vorwürfe, deren Mitteilung gerade ein Gericht verboten hat, doch weiter ventiliert werden.

Auch Lucas Brost sieht in dem aktuellen “Bild”-Bericht einen Verstoß gegen die einstweilige Verfügung, “wenn wir die Zustellung annehmen”:

Denn das LG Köln hat in seiner Pressemitteilung festgestellt, dass es für eine identifizierende Berichterstattung an einem Mindestbestand an Beweistatsachen fehlt, das heißt auf Grund der derzeitigen Sach- und Rechtslage darf Herr [M.] unter Nennung seines Namens und der Ablichtung eines Bildnisses nicht mehr mit den Vorwürfen in Verbindung gebracht werden.

Die “Bild”-Redaktion kündigt in ihrem Bericht von heute an, dass sie gegen die einstweilige Verfügung juristisch vorgehen wolle. Dabei beruft sie sich auch auf eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Hamburg, die darin ebenfalls den kompletten Namen des Verdächtigen genannt hatte. “Bild” schreibt:

Dennoch besonders bizarr: BILD wurde nun vom Kölner Landgericht verboten, über den Fall zu berichten, obwohl die Hamburger Staatsanwaltschaft selbst die Öffentlichkeit darüber informiert hatte!

Erstens hat der Bundesgerichtshof längst festgestellt, dass die Mitteilung einer Staatsanwaltschaft nicht einem Persilschein für Redaktionen gleichkommt:

Zwar ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass den Verlautbarungen amtlicher Stellen ein gesteigertes Vertrauen entgegengebracht werden darf. Dies beruht auf der Erwägung, dass Behörden in ihrer Informationspolitik unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind und Amtsträger, wenn sie vor der Frage stehen, ob die Presse über amtliche Vorgänge informiert werden soll, die erforderliche Abwägung zwischen dem Informationsrecht der Presse und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht vorzunehmen haben. (…) Daher ist regelmäßig die Annahme gerechtfertigt, dass eine unmittelbar an die Grundrechte gebundene, auf Objektivität verpflichtete Behörde wie die Staatsanwaltschaft die Öffentlichkeit erst dann unter Namensnennung über ein Ermittlungsverfahren unterrichten wird, wenn sich der zugrunde liegende Tatverdacht bereits einigermaßen erhärtet hat. Auch das entlastet die Medien allerdings nicht von der Aufgabe der Abwägung und Prüfung, ob im Übrigen nach den Grundsätzen der Verdachtsberichterstattung eine Namensnennung des Betroffenen gerechtfertigt ist.

Und zweitens ist der zeitliche Ablauf in dem Fall interessant: Die Hamburger Staatsanwaltschaft veröffentlichte ihre Pressemitteilung samt Namen des Verdächtigen im Laufe des 4. September. Da lag die “Bild”-Ausgabe mit Foto und Namen des Verdächtigen auf der Titelseite längst an allen Kiosken Deutschlands. Der erste identifizierende Bericht von Bild.de erschien bereits am Vorabend.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

“Spiegel” ohne Beweise, Tabuthema Politikerposts, Zivilisationsbruch

1. Nach 5 Jahren Mauern: “Spiegel” räumt ein, keinen Beweis für Enthüllung zu haben
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Es ist ein deprimierendes und unwürdiges Trauerspiel. Und es ist Wasser auf die Mühlen all der “Lügenpresse”-Rufer: Nach fünf Jahren des Mauerns und Herumlavierens hat der “Spiegel” eine unhaltbare Geschichte aus dem Netz genommen. Der Autor, den der “Spiegel” sogar zum Chef des Investigativressorts machen wollte, führte einen Facebook-Chat als Beweis an. Einen Beweis, den er jedoch nicht vorzeigen konnte, was er laut “Süddeutscher Zeitung” so begründet: “Der Chat mit dem Wettbetrüger habe sich vor seinen Augen aufgelöst. Dass er gehackt worden oder in eine Interpol-Operation gegen die Wettmafia geraten sei oder dass das Chatprogramm einen Bug gehabt habe? Alles sei möglich. Screenshots, die er in den sich selbst löschenden Chat hinein noch gemacht habe, seien verloren gegangen, als sein Handy in eine Pfütze gefallen sei.” Stefan Niggemeier kommentiert: “Der Fall wirft natürlich Fragen danach auf wie sehr dem “Spiegel”-Star-Investigativjournalisten Rafael Buschmann zu trauen ist. Er wirft aber auch Fragen auf nach der Arbeitsweise des “Spiegel” quer durch die Hierarchie. Wenn zwei Ressortleiter, das Justiziariat und die (damalige) Chefredaktion ausdrücklich der Veröffentlichung eines solchen Artikels zugestimmt haben — welchen ähnlich zweifelhaften Veröffentlichungen haben sie noch zugestimmt? Inwiefern war es allgemein akzeptabel beim “Spiegel”, heikle Behauptungen zu veröffentlichen, von denen man weiß, dass man sie nicht belegen kann?”

2. Facebook will Politikerposts nicht auf Fakten checken und auch nicht löschen
(heise.de, Eva-Maria Weiß)
Facebook müsste laut eigenem Anspruch eigentlich alle Posts entfernen, die gegen die Regeln verstoßen oder “Fake News” sind. Doch bei Aussagen von Politikerinnen und Politikern macht das Netzwerk eine Ausnahme, es wolle kein “Schiedsrichter” sein. Man ziehe jedoch die Grenze “bei Reden, die zu Gewalt und Schaden führen können.”

3. Google zeigt nur noch Überschriften von Medien an
(golem.de, Friedhelm Greis)
Durch die neue Gesetzgebung von Googles Erlösen profitieren — die Verlegerallianz hatte es sich so schön erträumt … Doch daraus wird nichts, denn Google passt einfach die Suchergebnisse an und kürzt bei Pressepublikationen die Snippets durch eine Reduktion auf die Überschrift ein. Ab dem 1. Oktober in Frankreich und bald danach wahrscheinlich in den anderen EU-Staaten.

4. Gleich an zweiter Stelle
(taz.de, Alexander Graf)
Regisseure und Schauspieler genießen im deutschen Filmbusiness Respekt, Ruhm und Anerkennung, doch Drehbuchautorinnen und -autoren stehen eher im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung. Dieser Basiskonflikt zeigt gerade konkrete Auswirkungen: Der Verband Deutscher Drehbuchautoren und das Filmfest Hamburg zoffen sich. Vordergründig geht es um einzelne Formulierungen, doch dahinter steckt ein systemisches Problem.

5. Radiomachen 1200 Meter unter Tage
(faz.net)
Gestern wurden in der Hamburger Elbphilharmonie die Gewinner des Deutschen Radiopreises 2019 bekanntgegeben. Ein groß aufgezogenes Event mit rund 1400 geladenen Gästen und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als Ehrengast. Der (undotierte) Radiopreis wurde in zwölf Kategorien vergeben. Die Auswahl aus den mehr als 400 Einreichungen besorgte eine unabhängige Jury des Grimme-Instituts. Beim Lesen der Gewinnerproduktionen bekommt man augenblicklich Lust, den Sendungen hinterher zu googeln und den Audioplayer anzuwerfen.

6. Wie der vom Verfassungsschutz beobachtete Rapper Chris Ares die Charts erobert – und was AfD-Funktionäre damit zu tun haben
(br.de, Stefan Sommer)
Stefan Sommer nennt es einen “popkulturellen Zivilisationsbruch”: Der deutsche Rechts-Rapper Chris Ares hat es in die Amazon-Charts geschafft. Wie konnte das passieren? Das BR-Jugendradio “Puls” ist der Sache in einer Recherche nachgegangen.

Wachhund “taz”, Shopping mit Silke und Holger, Philosophia Nonsensis

1. taz ist “Wachhund der Öffentlichkeit”
(blogs.taz.de, Jony Eisenberg)
Die “taz” hatte nach dem Einzug der AfD in den Bundestag zu den Hintergründen der AfD-Abgeordneten und ihren Mitarbeitern recherchiert. Dagegen war ein mittlerweile ehemaliger Bundestagsmitarbeiter juristisch vorgegangen, dessen rechtsradikale Vergangenheit von der “taz” aufgedeckt worden war. Nachdem die “taz” in erster Instanz unterlag, kündigte das Oberlandesgericht nun an, ihr recht zu geben. Eine Entscheidung von herausragender Bedeutung für die Berichterstattung über die AfD und deren Bundestagesmitarbeiter, wie “taz”-Jurist Jony Eisenberg anmerkt.

2. Newsrooms: Notwendig oder nicht?
(politik-kommunikation.de, Kathi Preppner)
Parteien wollen gerne die Kontrolle über ihre öffentliche Wahrnehmung haben. Im Social-Media-Zeitalter liegt es nahe, eigene Medienkanäle zu schaffen und diese direkt zu bespielen. Manche Parteien haben dazu sogenannte “Newsrooms” eingerichtet, in denen sie an der journalistischen Aufarbeitung ihrer Botschaften basteln. “politik & kommunikation” hat sich bei den großen Parteien umgehört, wie sie in Sachen Kommunikation und Medienarbeit verfahren.

3. Provokant gefragt
(deutschlandfunk.de, Susanne Lettenbauer, Audio: 5:56 Minuten)
Der österreichische Milliardär und Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz ist auch Medienunternehmer und steckt direkt beziehungsweise indirekt hinter dem österreichischer Privatfernsehsender ServusTV und der Rechercheplattform “Addendum”. Mateschitz fiel in der Vergangenheit durch rechtspopulistische Äußerungen auf. Ist “Addendum” deshalb eine Art “Breitbart der Alpen”? Eher nicht, findet Susanne Lettenbauer im Deutschlandfunk.

4. “Philosphia Perennis” veröffentlicht irreführende Liste von Fällen, bei denen angeblich Ausländer Personen vor Züge stießen
(correctiv.org, Philip Steeg)
“Correctiv” hat einen Artikel des rechten Blogs “Philosophia Perennis” mit einer Liste “ausländischer Gleisschubser” auf seine Wahrhaftigkeit untersucht. Das Ergebnis: “Bei etwa der Hälfte waren die Täter entweder unbekannt oder deutsche Staatsbürger. Die Behauptung, dass ausschließlich Ausländer an den Delikten beteiligt seien, stimmt nicht.”

5. Rezo-Style als neues YouTube-Genre: Zerstörungsversuche vor den Wahlen in Österreich
(netzpolitik.org, Leonhard Dobusch)
Das Video “Die Zerstörung der CDU” des Youtubers Rezo war ein sensationeller Erfolg (16 Millionen Aufrufe), den nun auch andere wiederholen wollen: Anlässlich der bevorstehenden Parlamentswahlen in Österreich gehen gleich mehrere Youtuber mit ähnlichen Videos an den Start. Die Abrufzahlen sind derzeit eher bescheiden und ein Einfluss auf das Wahlergebnis erscheint unwahrscheinlich. Laut Leonhard Dobusch können diese und ähnliche Videos im Rezo-Style dennoch als “Indiz für eine breitere Politisierung von YouTube” gelten.

6. Silke und Holger kaufen sich eine Zeitung
(neues-deutschland.de, Tim Wolff)
Die DuMont-Mediengruppe hat ihren Berliner Verlag mitsamt Druckerei und “Berliner Zeitung” verkauft. Neue Eigentümer sind Silke und Holger Friedrich, ein in der Medienbranche bislang weitgehend unbekanntes Unternehmerpaar. Ex-“Titanic”-Chef Tim Wolff hat sich einige Äußerungen des medienunerfahrenen Pärchens angeschaut. Sein Befund: “Nein, hysterisch wird im Angesicht von Silke und Holger niemand, denn sie sind ein hervorragendes Beispiel dafür, was die beiden Deutschlands und die Weltläufte hervorgebracht haben: Menschen, die pathologisch beliebig Wörter von schwammiger Bedeutung aneinanderreihen und das Ergebnis mit so etwas wie »Haltung« verwechseln.”
Zusätzlicher Hörtipp: Silke und Holger Friedrich im ausführlichen Interview bei radioeins (radioeins.de, Jörg Wagner & Daniel Bouhs, Audio: 1:10:09 Stunden).

Bild.de erfindet den Rechtsstaat neu

Vor dem Landgericht Neubrandenburg hat heute der Prozess gegen einen Mann begonnen, der seine sechsjährige Stieftochter getötet haben soll. Dem Angeklagten wird Mord durch Unterlassen und Misshandlung von Schutzbefohlenen vorgeworfen. Der Pflichtverteidiger des Mannes sagt, dass sein Mandant die Tat bestreite.

Auch Bild.de berichtet über den ersten Prozesstag und erfindet dabei gleich mal den Rechtsstaat neu:

Was ist geschehen?

Als die Rettungssanitäter am Abend des 12. Januar eintreffen, liegt Leonie (6) tot in der Wohnung der Familie. Später wird klar: Das Kind starb an schweren Kopfverletzungen. Ihr Stiefvater David H. behauptet es handle sich um einen tragischen Unfall. Das muss er Staatsanwaltschaft und Richtern jetzt vor Gericht beweisen.

So grausam die Taten sein mögen, die David H. vorgeworfen werden, gilt auch für ihn die Unschuldsvermutung. Nicht er muss “Staatsanwaltschaft und Richtern jetzt vor Gericht beweisen”, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe; die Staatsanwaltschaft muss David H. den Mord nachweisen.

Die Richter aus der Bild.de-Redaktion haben ihr Urteil übrigens schon längst auf der Startseite gesprochen:

Screenshot Bild.de - Kleine Leonie (6) von Stiefvater ermordet - Feiger Kinder-Killer zeigt verzweifeltem Vater den Mittelfinger
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Mit Dank an Harald und @unalternativ für die Hinweise!

Nachtrag, 25. September: Mehrere Leserinnen und Leser haben uns darauf hingewiesen, dass der Mittelfinger, den der Angeklagte laut Bild.de dem Vater gezeigt haben soll, ja auch dem Fotografen gegolten haben könnte, dessen Foto die Redaktion verwendet. Und tatsächlich gibt es solche fragwürdigen Interpretationen, bei denen die “Bild”-Medien einen ausgestreckten Mittelfinger etwa als Verhöhnung des Gerichts auslegen, obwohl er vermutlich dem eigenen Fotografen galt.

In diesem Fall dürfte die “Bild”-Darstellung hingegen stimmen. Jedenfalls zeigt ein Video vom Prozessauftakt, das UM.tv bei Facebook gepostet hat, dass der Angeklagte den Mittelfinger zumindest in jene Richtung streckt, in der der Vater des verstorbenen Mädchens sitzt.

Nein, Fridays for Future hat sich nicht zu Brandanschlägen bekannt

Mal rein hypothetisch: Wenn eine Gruppe von Aktivisten einen Brandanschlag beginge und sich anschließend in einem angeblichen Bekennerschreiben auf Texte aus dem “Cicero” beriefe, dann wäre es ja irgendwas zwischen völlig verzerrend und diffamierend, sowas zu schreiben wie: Die “Cicero”-Redaktion hat sich gerade zu Brandanschlägen bekannt.

Nun.

Bei Cicero.de schreibt Antje Hildebrandt heute in einem Artikel über Greta Thunberg und deren Rede beim UN-Klimagipfel:

Aktivisten von Fridays for Future wollen jetzt Flughäfen blockieren, um Bürger daran zu hindern, von A nach B zu gelangen. Sie haben sich gerade zu Brandanschlägen auf die S-Bahn in Berlin bekannt und damit den öffentlichen Naheverkehr lahmgelegt.

Tatsächlich brannte es gestern in den frühen Morgenstunden in Kabelschächten der Berliner S-Bahn. Der S-Bahn-Verkehr kam im Osten der Hauptstadt zeitweise zum Erliegen. Noch am selben Tag bekannte sich die offenbar militant-autonome “Vulkangruppe Ok” auf der Onlineplattform “Indymedia” zu dem Anschlag (wobei Bekennerschreiben bei “Indymedia” immer mit Vorsicht zu genießen sind). Dabei verweist sie auf den Generalstreik von Fridays for Future:

Unmissverständlich hat “Fridays for Future” zu einem Generalstreik aufgerufen. (…)

Zu einem richtigen Generalstreik gehören auch Blockaden und feurige Sabotageaktionen.

Das wäre dann auch schon die ganze Verbindung zwischen Vulkangruppe Ok und Fridays for Future. Dass Gruppe A, die vermutlich für den Brandanschlag verantwortlich ist, nicht mehr mit Gruppe B zu tun hat, als dass sie sich auf deren Generalstreik bezogen hat, und dass man zu diesem Zeitpunkt noch gar keine gesicherten Erkenntnisse hat, wer tatsächlich hinter dem Anschlag steckt — das kümmert die “Cicero”-Redaktion offensichtlich nicht.

Sie hat in der oben zitierten Passage auch einen “Tagesspiegel”-Artikel verlinkt, quasi als Beleg. Doch auch darin steht direkt im ersten Absatz:

Militante Linksextremisten versuchen offenbar, die Fridays-for-Future-Bewegung zu instrumentalisieren. Am Montag bekannte sich die “Vulkangruppe Ok” auf der linksextremen Internetplattform “indymedia.org” zum Brandanschlag auf die Berliner S-Bahn.

Wenn Antje Hildebrandt einfach behauptet, die “Aktivisten von Fridays for Future” hätten “sich gerade zu Brandanschlägen auf die S-Bahn in Berlin bekannt”, dann schiebt sie der Bewegung einen Extremismus unter, den derzeit manch einer dort vielleicht gern finden möchte, der dort aber nicht existiert. Greta Thunberg würde bei so einer Form von Diskreditierung wohl nur schnauben: “How dare you?”

Die “Cicero”-Redaktion hat den Beitrag inzwischen hinter die Paywall gestellt und, ohne irgendeinen Hinweis, eine wesentliche Einschränkung in den Artikel geschummelt:

Aktivisten von Fridays for Future (FFF) wollen jetzt Flughäfen blockieren, um Bürger daran zu hindern, von A nach B zu gelangen. Sie haben sich gerade zu Brandanschlägen auf die S-Bahn in Berlin bekannt und damit den öffentlichen Naheverkehr lahmgelegt. Oder Trittbrettfahrer, die sich auf FF beziehen.

Ja, nun, tüdelü, dann waren es halt doch vielleicht nur “Trittbrettfahrer”. Aber wen interessieren schon solche Details?

Gesehen bei @abususu.

Nachtrag, 18:11 Uhr: Die “Cicero”-Redaktion hat auf unsere Kritik reagiert, die entscheidende Stelle noch einmal überarbeitet …

Aktivisten von Fridays for Future (FFF) wollen jetzt Flughäfen blockieren, um Bürger daran zu hindern, von A nach B zu gelangen. Linksextreme, die sich “Vulkangruppe Ok” nennen und sich auf den Generalstreik von Fridays for Future beziehen, haben sich gerade zu Brandanschlägen auf die S-Bahn in Berlin bekannt und damit vorübergehend den öffentlichen Naheverkehr lahmgelegt.

… und am Ende des Artikels nun diesen Hinweis veröffentlicht:

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes war davon die Rede, die Bewegung “Fridays for Future” habe sich zu einem Brandanschlag auf die Berliner S-Bahn bekannt. Das ist nicht korrekt. Wir bitten, das nicht beabsichtigte Versehen zu entschuldigen. Wir danken einem Leser für den Hinweis.

Gabalier-Fangespräch, “NZZ”-Drift, Denunzierportal der AfD offline

1. Mehr Fan als Journalist
(taz.de, Volkan Agar)
Volkan Agar hat sich die NDR-Radiosendung “Stars am Sonntag” mit Talk-Gast Andreas Gabalier angehört und ist verwundert, dass bestimmte Aspekte nahezu komplett ausgeklammert blieben: “Ein Interview mit einem Künstler zu führen bedeutet nicht unbedingt, dass man sich mit ihm und seinen Ansichten gemein macht. Wenn von einer halbstündigen Redezeit aber nur knapp zwei Minuten kritischen Fragen gewidmet sind, dann wirkt das bei einem Gaba­lier aber schon etwas komisch.”
Weiterer Lesehinweis: Gabalier-Interview für ORF abgebrochen – und nicht gesendet (derstandard.at).

2. Political Clickbait – Der Rechtsruck der NZZ
(kotzendes-einhorn.de, Daniel Decker)
Die “NZZ” setzt unter Chefredakteur Eric Gujer immer wieder auf rechtspopulistische Inhalte und erntet für ihre Provokationen online viele Klicks. Der Rechtsdrift habe Folgen, wie Daniel Decker kommentiert: “Der NZZ hilft dabei, dass in der Schweiz mit der SVP eine nationalistische rechtspopulistische Partei seit 1999 die grösste Fraktion in der Bundesversammlung bildet. Ton und Vokabular, das die AfD hier versucht zu normalisieren, ist in der Schweiz bereits Normalität.”

3. Lehrer-Mel­de­portal “Neu­trale Schule” off­line
(lto.de)
Die AfD in Mecklenburg-Vorpommern hat Schülerinnen und Schüler dazu aufgerufen, Lehrerinnen und Lehrer wegen angeblicher Verstöße gegen das Neutralitätsgebot anzuschwärzen. Um möglichst viele der Polit-Petzereien zu erhalten, hatte die Partei im Netz ein “Meldeportal” eingerichtet. Dagegen hat nun der Landesdatenschutzbeauftragte eine Verbotsverfügung erlassen. Die AfD hat zwar das Online-Formular aus dem Netz genommen, will aber juristisch gegen die Verfügung angehen.

4. Zeitungen, die nie ankommen
(reporter-ohne-grenzen.de)
Reporter ohne Grenzen hat den Themenbericht “Newspapers that never arrive” (PDF) veröffentlicht. Dort zeigt die Organisation, auf welch unterschiedliche Weise Regierungen, staatliche Institutionen, mächtige Oligarchen und Unternehmen den Vertrieb von Zeitungen behindern. Das reicht von der Drangsalierung und Behinderung von Druckereien und Zulieferern, der Beschlagnahme ganzer Ausgaben und dem Angriff auf Transportfahrer bis zur Ermordung von Zeitungsverkäuferinnen und -verkäufern. Bereits die deutsche Zusammenfassung des Berichts liest sich mehr als erschütternd.

5. “Wer kritische Fragen stellt, ist ein Feind”
(spiegel.de, Elisa von Hof)
Der “Spiegel” hat sich mit der Geschlechterforscherin und Soziologin Franziska Schutzbach über den Umgang mit rechter Rhetorik unterhalten. Schutzbach hat gerade ein Buch über “rechtspopulistische Diskursstrategien” veröffentlicht und kennt sich daher gut mit den Tricks und Strategien der Rechtsideologen sowie dem Vokabular der Szene aus.

6. Augen zu und feiern
(sueddeutsche.de, Jürgen Schmieder)
Jürgen Schmieder hat sich am vergangenen Wochenende die Emmy-Verleihung angeschaut und ist von der “unfassbar öden, verkrampft um gesellschaftliche Relevanz buhlenden, bisweilen peinlich um Lockerheit bemühten Veranstaltung” wenig begeistert: “Die Branche feiert ihr eigenes goldenes Zeitalter, doch es gelingt ihr nicht, diese Fete so interessant zu gestalten, dass die Leute zuschauen wollen.”

Franz Josef Wagner setzt “Hartz-IV-Familien” vor die Glotze

Bruce Springsteen hat heute Geburtstag, 70 Jahre ist der Musiker nun alt, und ist man so bekannt wie Springsteen, hat man das Pech, dass einem alle möglichen Leute gratulieren:

Ausriss Bild-Zeitung - Post von Wagner - Hi Boss (Bruce Springsteen)

1949, heute vor 70 Jahren, wurden Sie geboren, ein Junge aus New Jersey. Vater Busfahrer, Mutter Sekretärin, Bildungschancen keine, Schule abgebrochen. Für Ihre Eltern war es normal, nicht mehr zu wollen, als vor dem Fernseher zu sitzen.

Heute würden wir sagen, Bruce Springsteen stammt aus einer Hartz-IV-Familie.

Dieser Hartz-IV-Junge ist heute der gefeiertste Rockstar aller Zeiten.

Nun könnte man sicher sehr leidenschaftlich darüber debattieren, ob Springsteen wirklich “der gefeiertste Rockstar aller Zeiten” ist, doch hier soll es um Franz Josef Wagners herablassenden Hartz-IV-Unsinn gehen.

Kaum Bildung, keine Ambitionen und ständig vor der Glotze — das macht für den “Bild”-Briefonkel offenbar eine typische “Hartz-IV-Familie” aus. Diese Vorurteile passen bestens in das verächtliche Bild von faulen “Hartz-IV-Schmarotzern”, das die “Bild”-Redaktion seit Jahren verbreitet. Dass Springsteens Eltern als Busfahrer beziehungsweise Sekretärin beide arbeiteten, schreibt Wagner zwar selbst; dass sie mit ihrer Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienten und wohl kaum Hartz-IV-berechtigt gewesen wären, scheint ihn bei seinem Urteil hingegen nicht weiter zu interessieren.

Wagners Behauptungen zu den fehlenden Bildungschancen und zu Springsteens Schulabbruch sind übrigens schlicht falsch. Bruce Springsteen hatte durchaus Bildungschancen und nutzte diese auch, was ihm 1967 einen High-School-Abschluss brachte. Er soll zwar nicht zur Graduiertenfeier erschienen sein, die Schule hat er aber erfolgreich beendet — im Gegensatz zu Franz Josef Wagner, der seine Abiturprüfung nie bestanden hat.

Mit Dank an Manni für den Hinweis!

Klimaberichterstattung, Spenden-Schiff-Desaster, Künast-Beschluss

1. Die Homogenisierung der Klima-Berichterstattung ist ein Problem
(uebermedien.de, Axel Bojanowski)
Der Wissenschaftsjournalist Axel Bojanowski kritisiert auf “Übermedien” den Umgang mancher Redaktionen mit dem Thema Klimawandel: “Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich in den meisten Fällen nicht bestimmen lässt, wie wahrscheinlich die Risiken sind. Auch robuste Klimaszenarien für einzelne Regionen sind bislang nicht möglich, und Extremwetterphänomene zeigen häufig noch keinen Trend. Dem braven Umweltjournalismus gegenüber steht also ein hochkomplexer Wissenschaftszweig mit Tausenden multikausalen Wechselwirkungen, mit Widersprüchen und Wissenslücken.”
Weiterer Lesetipp: Wissenschaftler zum Klimapaket der Bundesregierung: Gute Nacht (spiegel.de, Susanne Götze).
Und außerdem: Der Klima-Podcast, der verschwand: “WDR und SWR planten einen ambitionierten Podcast zur Klimapolitik. Nach der ersten Ausgabe war Schluss. Eine Spurensuche.” (taz.de, Alexander Nabert).

2. Kein Schiff wird kommen
(addendum.org, Christoph Lehermayr)
Vor etwa einem Jahr sammelte der TV-Entertainer Klaas Heufer-Umlauf rund 300.000 Euro Spendengelder für die Seenotrettung ein. Es gehe darum, Schiffe zu chartern, erklärte er in seinem Spendenaufruf. Christoph Lehermayr hat recherchiert, was aus dem Projekt “Civilfleet” geworden und was mit dem Geld passiert ist. Es ist eine traurige Geschichte des Scheiterns mit missglückter beziehungsweise unterlassener Kommunikation sowie fehlender Transparenz. Das Team von “Civilfleet” hat auf den Artikel geantwortet.

3. Offener Brief an den Bundesrat: Warum wir gemeinnützigen Journalismus brauchen
(netzpolitik.org, Markus Beckedahl)
Gemeinwohlorientierter Journalismus genießt in Deutschland keine Vorteile, denn er gilt nicht als “gemeinnützig”. Nun hat sich Netzpolitik.org mit anderen Medien und Verbänden an den Bundesrat gewandt. In einem offenen Brief fordern die Plattformen, die “Förderung des Journalismus” in den Katalog der gemeinnützigen Zwecke aufzunehmen.

4. Heikle Verwirrspiele mit dem Publikum
(nzz.ch, Rainer Stadler)
Rainer Stadler beschäftigt sich mit einer leider immer noch verbreiteten Unsitte von Medienhäusern: dem Verschleiern von Werbeinhalten: “Bei der Beantwortung der Frage, ab wann eine Werbebotschaft genügend klar deklariert ist, nutzen die Verlage einen grossen Interpretationsspielraum aus. Sicher aber begeben sie sich systembedingt auf eine Gratwanderung, wenn sie von Dritten finanzierte Beiträge im Layout der redaktionellen Angebote zulassen. Man rechnet bewusst mit der Unaufmerksamkeit des Lesers, der erst im Nachhinein erkennt, dass er bei der Lektüre eines jeweiligen Beitrags den redaktionellen Sektor verlassen hat.”

5. Beschimpfungen – Künast will gegen Urteil vorgehen
(morgenpost.de, Philipp Siebert)
Die Bundestagsabgeordnete der Grünen und ehemalige Bundeslandwirtschaftsministerin Renate Künast ist auf Facebook auf das Übelste beleidigt und beschimpft worden, doch das Berliner Landgericht konnte daran nichts Rechtswidriges finden. Zum Entsetzen nahezu aller Beobachter … Nun will Künast Widerspruch gegen den Beschluss einlegen.
Weitere Lesetipps: Annette Ramelsberger kommentiert bei Süddeutsche.de: “Dieses Gericht hat seine gesellschaftliche Aufgabe verfehlt. Es hat keine Brandmauer eingezogen zwischen dem Müll, der aus dem Netz schwappt, und dem notwendigen, kritischen Diskurs. Es setzt den Persönlichkeitsschutz von Politikern auf null. Gegen sie darf man hetzen, wüten, ihre Worte verdrehen. Dieser Beschluss zeugt von einer Verachtung der politischen Klasse. Wer soll sich da noch für dieses Land engagieren wollen?”
Der Jurist Heinrich Schmitz erklärt auf “Die Kolumnisten” die einschlägigen Paragraphen und Urteile. Seine Prognose: “[D]er Rechtsstaat in Form des Berliner Kammergerichts hat nun die Gelegenheit, diesen Beschluss zu kippen. Das ist ja das Schöne am Rechtsstaatsprinzip, dass es immer mindestens eine zweite Instanz gibt, die falsche Entscheidungen revidieren kann. Und auch, wenn ich selten auf Gerichte wette, in diesem Fall bin ich sicher, dass es das auch tun wird.”

6. Was Bundesliga-Spieler wirklich sagen würden: Das ehrliche Sportlerinterview
(rnd.de, Imre Grimm)
Nach jedem bedeutenden Fußballspiel setzt eine Art ritualisiertes Schauspiel ein: Reporter bestürmen die verschwitzten und erschöpften Fußballspieler mit erwartbaren Fragen. Die Fußballspieler wiederum antworten darauf mit, nun ja, erwartbaren Antworten. Imre Grimm hat die Floskeln übersetzt.

Besonders witzig von jemand der in Twitter vor Fakten geflüchtet ist

Das Argument kommt schon seit Jahren, vor allem aus der rechten Ecke. Als sich Herbert Grönemeyer 2015 gegen die “verbale Brandstiftung” in der Flüchtlingskrise ausgesprochen hatte, giftete “Bild” auf der Titelseite über den “arroganten Auftritt” des Sängers:

Er gab sich die Rolle als Allwissender in puncto Flüchtlingskrise — aus der bequemen Perspektive des in London lebenden Millionärs.

Als sich Grönemeyer im Sommer dieses Jahres unter dem Motto “Kein Millimeter nach Rechts” für eine “solidarische, bunte Gesellschaft ohne Hass und Hetze” aussprach, twitterte AfD-Politiker Björn Höcke:

Tweet von Björn Höcke: Herbert Grönemeyer flüchtete aus dem »bunten« Bochum und vor dem Finanzamt.  Jetzt will er jene belehren, die mit den Konsequenzen seiner politischen Spinnereien leben und mit ihren Steuern alles bezahlen müssen.

So geht das seit Jahren immer wieder: Was mischt der sich eigentlich ein, der wohnt ja nicht mal in Deutschland, der zahlt hier nicht mal Steuern!

Blöd nur: Grönemeyer lebt seit über zehn Jahren wieder in Deutschland. Auch Steuern zahlt er in Deutschland, und zwar schon sein Leben lang, wie er immer wieder in Interviews erklärt:

Ich zahle auch mein Leben lang Steuern in Deutschland, selbst zu der Zeit als ich in England gewohnt habe, dort habe ich bis 2009 gewohnt.

Mein erster Wohnsitz ist Berlin. Inzwischen sind meine Kinder auch wieder in Deutschland. Und, Achtung, ich zahle meine Steuern in Deutschland. Schon immer.

Wer also sagt, Grönemeyer habe die Klappe zu halten, weil er ja in Deutschland weder lebt noch Steuern zahlt, ist entweder ein Lügner oder zu blöd zum Googeln. Und damit zum Chefredakteur der “Welt”-Gruppe.

Nachdem sich Grönemeyer vor ein paar Tagen bei einem Konzert in einer vielbeachteten Rede erneut gegen Rassismus geäußert hatte, twitterte Ulf Poschardt:

Tweet von Ulf Poschardt: Besonders witzig von jemand der in London vor unseren Steuersätzen geflüchtet ist

Viele Twitternutzer machten ihn schnell darauf aufmerksam, dass das nicht stimmt. Auch Grönemeyers Anwalt schaltete sich ein.

Nun hätte Poschardt natürlich einfach den Fehler einsehen, um Entschuldigung bitten und die Sache richtigstellen können. Aber: nee.

Tweet von Ulf Poschardt: BREAKING - ein weltberühmter, liberaler popstar hetzt mir seinen klugen anwalt auf den hals, wegen eines tweets. ohje, was soll ich machen, liebe follower*innen?

Und obwohl die lieben Follower*innen mit deutlicher Mehrheit für das Genießen des Rechtsstreits stimmten, zeichnete sich schon wenig später ab, dass Poschardt die lässig-bissige Kampfmasche doch nicht durchziehen würde.

Tweet von Ulf Poschardt: Ulf Poschardt @ulfposh die vielen kritischen anmerkungen von meinen follower*innen machen mich richtig nachdenklich und zerknirscht. vielleicht ist es wirklich gut, wenn es da eine schöne auflösung gibt. danke für die diskussion, insbesondere von den liberalen kritischen geistern.

Was wohl so viel heißt wie: Ich hab mich jetzt doch mal schlau gemacht und, uiuiui, das würde vor Gericht ganz schön in die Hose gehen, darum lege ich jetzt möglichst breit grinsend den Rückwärtsgang ein.

Auch hinter den Kulissen lenkte Poschardt ein und gab eine Unterlassungserklärung ab. Am Abend dann seine vorerst letzte Mitteilung in der Sache:

Tweet von Ulf Poschardt: RIchtigstellung In einem Tweet habe ich in Bezug auf Herbert Grönemeyer erklärt: 'Besonders witzig von jemand der in London vor unseren Steuersätzen geflüchtet ist" Hierzu stelle ich richtig: Herr Grönemeyer hat seinen steuerlichen Wohnsitz in Deutschland. Seine frühere 1/2
Tweet von Ulf Poschardt: 2/2 Entscheidung, nach London zu ziehen, hatte keinerlei steuerlichen Gründe. Ulf Poschardt

Die tatsächlichen Gründe für den Umzug erklärte Herbert Grönemeyer vor ein paar Jahren übrigens so:

Es gab mehrere Gründe. Wir zogen hin, als meine Frau schon sehr krank war und Angst hatte, dass die deutsche Presse das rauskriegt. Zudem wollten wir, dass unsere Kinder groß werden können ohne die Last des Namens. Für mich selbst war es auch gut. Man vergisst zuweilen, wer man ist. Im Ausland muss man sich ohne jedwede Vorteile behaupten. Das ist für den Charakter ganz gut.

Wenn er also vor etwas geflüchtet ist, dann nicht vor deutschen Steuern, sondern vor deutschen Journalisten. Wer kann es ihm verdenken?

Mit Dank an die Hinweisgeber!

Nachtrag, 2. Oktober: Wie die Kanzlei Schertz Bergmann bei Twitter schreibt, hat nun auch Björn Höcke eine Unterlassungserklärung abgegeben.

Bild.de sollte A$AP korrigieren

Immerhin haben sie nicht geschrieben, dass US-Präsidentin Dolly Parton Karotten-Experte Bugs Bunny zum neuen Sicherheitsberater gemacht hat, aber ansonsten ist an diesem Artikel von Bild.de so gut wie alles falsch:

Screenshot Bild.de - O'Brien befreite Rapper A$AP Rocky - Trumps Geisel-Experte wird Sicherheitsberater

Vielleicht erst einmal zu den involvierten Personen: US-Präsident Donald Trump dürfte bekannt sein. A$AP Rocky ist ein ziemlich erfolgreicher Rapper aus den USA, der im Juli und August mehrere Wochen in Schweden in Untersuchungshaft saß und wegen Körperverletzung dort vor Gericht stand. Und Robert O’Brien ist Jurist, war bisher Trumps Sondergesandter für Entführungsfälle und ist nun eben Nachfolger des gerade erst entlassenen Nationalen Sicherheitsberaters John Bolton.

Bild.de schreibt:

Robert O’Brien wurde Anfang August zum Helden US-amerikanischer Rap-Fans — nun wird er der Nationale Sicherheitsberater der USA!

Der US-Rapper A$AP Rocky (30) saß in Schwedens Hauptstadt Stockholm wegen einer Schlägerei in Untersuchungshaft. Dann schickte US-Präsident Donald Trump (73) seinen Sondergesandten für Geiselangelegenheiten nach Schweden: Robert O’Brien, der als Sonderbotschafter Diplomaten-Status genießt. (…)

Was Trump jedoch erreichte: Er machte aus einer Gerichtsverhandlung eine diplomatische Angelegenheit — und der Rapper wurde tatsächlich freigesprochen!

A$AP Rocky wurde allerdings gar nicht freigesprochen. Das Gericht in Stockholm hat ihn zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Er wurde auch nicht von O’Brien “befreit”, wie Bild.de in der Dachzeile behauptet. Es war eine Entscheidung des zuständigen Gerichts, den Rapper Anfang August, nach den Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung, bis zur Urteilsverkündung aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Und somit “erreichte” auch Donald Trump nichts in diesem Fall, im Gegenteil: Seine wiederholten Interventionsversuche bei Schwedens Regierungschef Stefan Löfven führten nur zu der peinlichen Situation, dass Löfven dem US-Präsidenten mehrfach die Unabhängigkeit der schwedischen Justiz erklären musste.

Die völlig falsche Zusammenfassung, dass Trump gemeinsam mit O’Brien dafür gesorgt habe, dass A$AP Rocky “freigesprochen” und “befreit” wurde, hätte sich die PR-Abteilung des Weißen Hauses nicht besser ausdenken können.

Mit Dank an @GregorxxxSamsa und @cobvl für die Hinweise!

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