Archiv für Januar 23rd, 2023

“Regierung-verschenkt”-Schlagzeile ist “Bild” nicht zu billig

Die Stromproduzenten in Deutschland haben 2022 laut “Bild” 62,05 Terawattstunden Strom ins Ausland exportiert, also etwas mehr als 62 Milliarden Kilowattstunden. Sie sollen dafür rund 12,5 Milliarden Euro bekommen haben. Das entspricht einem durchschnittlichen Preis pro Kilowattstunde von etwa 20 Cent.

Es muss allerdings auch immer mal wieder Strom nach Deutschland importiert werden. Laut “Bild” waren das im vergangenen Jahr 35,77 Terawattstunden. Der importierte Strom kostete im Schnitt pro Kilowattstunde circa 27 Cent.

Wer den exportierten Strom weder produziert noch gehandelt hat: die Regierung.
Was der exportierten Strom nicht wurde: verschenkt.

Und jetzt kann die “Bild”-Redaktion aus all diesen Informationen mal eine Schlagzeile für die Bild.de-Startseite basteln:

Screenshot Bild.de - Regierung verschenkt Energie ins Ausland - und wir zahlen drauf! Der große Strom-Skandal - Dazu zu sehen ein Foto von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck

Das stimmt so einfach nicht.

Auch mit dem Halbsatz “und wir zahlen drauf!” empört sich die “Bild”-Redaktion in ihrer Überschrift maximal missverständlich. Was sie zu meinen scheint, ist die Differenz zwischen den Preisen für importierten und exportierten Strom. Darauf kommt man aber auch nur, wenn man mit einem “Bild-plus”-Abo hinter die Bezahlschranke gucken kann. Für alle anderen dürfte es so klingen, als hätten “wir” dem “Ausland” nicht nur Energie “geschenkt”, sondern als hätten “wir” dafür auch noch irgendetwas zusätzlich zahlen müssen.

Ebenfalls nur mit “Bild-plus”-Abo erfährt man den Hauptgrund für den massiven Stromexport aus Deutschland in andere Länder:

Wir verkaufen Strom vor allem, weil wir es müssen! Denn: Es gibt nicht genügend Speicher und Leitungen für den Strom-Transport vom windreichen Norden in den Süden – und so wird er ins Ausland verscherbelt. (…)

Wenn erneuerbare Energieträger an wind- und sonnenreichen Tagen voll ausgelastet sind, ist Strom sehr billig. Wegen fehlender Infrastruktur kann der Strom an solchen tagen trotzdem nicht ausreichend in den Süden fließen.

Die Ursache liegt also nicht in einem altruistisch gesinnten Robert Habeck, der die Nachbarn kostenlos mit Energie versorgen will, sondern in mangelnden Speicherkapazitäten und fehlenden Nord-Süd-Leitungen innerhalb Deutschlands.

Inzwischen hat die “Bild”-Redaktion die Überschrift leicht angepasst. Aus “verschenkt” wurde “verscherbelt” …

Screenshot Bild.de - Regierung verscherbelt Energie ins Ausland - und wir zahlen drauf! Der große Strom-Skandal

… den Rest hat sie so gelassen.

Gesehen bei @MKreutzfeldt

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Alte Scholz-Rede, “Wie doof kann man sein?”, Kaffeesatzlesereien für 2023

1. “Berliner Zeitung” verkauft alte Olaf-Scholz-Rede als neu
(uebermedien.de Stefan Niggemeier)
Bundeskanzler Olaf Scholz hat beim Weltwirtschaftsforum in Davos eine Rede gehalten, die es scheinbar in sich hatte. So wusste die “Berliner Zeitung” von Passagen zur Gesundheitspolitik und zur Coronapandemie zu berichten, die geradezu aus der Zeit gefallen schienen. Das waren sie auch tatsächlich, denn der Autor – kein geringerer als der Herausgeber der “Berliner Zeitung” – hatte munter längst überholte Zitate einer Scholz-Rede aus dem vergangenen Jahr eingearbeitet. Dies sorgte im Netz für allerlei Aufregung und Konfusion.

2. Zu wenige Mitglieder da: RBB-Rundfunkrat verschiebt Sondersitzung
(sueddeutsche.de)
Weil dem öffentlich-rechtlichen RBB Verschwendung von Gebührengeldern vorgeworfen wird, hat der Sender 31 Anwälte von vier Rechtsanwaltskanzleien mit der Aufklärung der Verschwendungsvorwürfe beauftragt, was bislang über 1,4 Millionen Euro an Honoraren gekostet habe. Nun wollte sich der RBB-Rundfunkrat in einer Sondersitzung mit den Untersuchungsergebnissen beschäftigen. Doch die Sitzung konnte wegen mangelnder Beschlussfähigkeit nicht stattfinden. Zur Geldverschwendung kommt nun also auch die Zeitverschwendung, oder wie es Joachim Huber im “Tagesspiegel” ausdrückt: “Wie doof kann man sein?”

3. Wenn Google und NGOs für das Gleiche streiten
(netzpolitik.org, Ingo Dachwitz)
Ein “Lehrstück über die Tücken zielgenauer Regulierung und gut gemachten Lobbyismus” nennt Ingo Dachwitz den Streit um die Regulierung politischer Werbung durch die EU. Bereits um die Definition sei ein Streit entbrannt, bei dem sich die Zivilgesellschaft plötzlich an der Seite von Google wiederfinde.

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4. «Auto-Vervollständigung gibt uns nur Bullshit»
(infosperber.ch, Pascal Sigg)
Schweizer Medien hätten in den vergangenen Wochen und Monaten begeistert über Künstliche Intelligenz berichtet und es dabei an der notwendigen Distanz missen lassen. Pascal Sigg erklärt, warum Skepsis angebracht sei, und fasst dazu die fünf wichtigsten Aussagen des KI-Experten Gary Marcus zusammen.

5. Podcast, Video, Newsletter: die neue Dreifaltigkeit
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz hat sich den neuesten “Digital News Report” des Reuters Institute for the Study of Journalism angeschaut. Drei Themen seien aus Mediensicht im kommenden Jahr unverzichtbar: Podcast, Video und Newsletter. Jakubetz erklärt, warum es sich lohnt, sich in diesen Bereichen zu engagieren.

6. Glaskugelige Kaffeesatzlesereien 2023
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer hat turnusgemäß die Glaskugel aus dem Schrank geholt und einen Blick auf mögliche Medienentwicklungen des bevorstehenden Jahres geworfen. Wie immer geht er dabei auch selbstkritisch seine Prognosen des Vorjahres durch.