Archiv für Juni 11th, 2021

“It may also be wrong data”, aber “Bild” ist sich schon sicher

Vergangene Woche kramten die gedruckte “Bild” und Bild.de einen China-Besuch der Bundeskanzlerin aus dem Archiv:

Ausriss Bild-Zeitung - Asien-Reise im September 2019 - Als Merkel Wuhan besuchte, war die Seuche schon im Anflug

Damals, im September 2019, hatten die allermeisten Menschen auf diesem Planeten wohl noch nie etwas von Coronaviren gehört, die Begriffe “Corona” und “Astra” vermutlich vor allem mit Biermarken in Verbindung gebracht. “Bild” fragt sich nun:

Grassierte Corona schon, als die Kanzlerin in Wuhan war?

Kurze Antwort: Es ist kompliziert. Manche Wissenschaftler sind der Ansicht, dass es schon deutlich früher Fälle von Corona-Infektionen gegeben haben könnte als allgemein bekannt. Eine italienische Studie, die nahelegt, das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 sei schon im September 2019 in Italien unterwegs gewesen, ist unter Wissenschaftlern umstritten. Peter Forster, der an einer phylogenetischen Analyse des Virus beteiligt gewesen ist, ist laut Deutsche Welle der Ansicht, dass es “zwischen Mitte September und Dezember 2019 zu einer erfolgreichen Ausbreitung beim Menschen gekommen sein muss”. Auch Forsters Untersuchung ist unter Wissenschaftlern umstritten.

Während die Wissenschafts-Community also noch diskutiert, sind sie sich bei “Bild” schon sicher: Im September 2019 habe sich “eine 61-jährige Frau in Wuhan” mit Corona infiziert – “nur 1500 Meter vom virologischen Institut entfernt”, schreibt die Redaktion.

Sie bezieht sich dabei auf einen Text aus dem britischen Boulevardblatt “Daily Mail”. Denn das berichtet von einem Interview der chinesischen Zeitschrift “Health Times” mit einem chinesischen Wissenschaftler, das kurz nach der Veröffentlichung von der staatlichen Zensur kassiert worden sein soll. Die “Daily Mail” erwähnt in ihrem Artikel drei mögliche Corona-Fälle, die in diesem Interview zur Sprache kommen sollen: zwei im November 2019, einer im September desselben Jahres. Zum Fall im September geht aus dem Text der “Daily Mail” allerdings weder das Geschlecht der betroffenen Person noch deren Wohnort oder Alter hervor.

Es scheint, als hätte die “Bild”-Redaktion den Text der “Daily Mail” schlicht nicht richtig gelesen: Darin ist durchaus die Rede von einer 61-jährigen Patientin, die angeblich in der Nähe eines Labors in Wuhan lebte. Dabei handelt es sich laut “Daily Mail” aber um einen der Fälle aus dem November 2019. Diese Patientin vermischt “Bild” einfach mit dem angeblichen Verdachtsfall aus dem September 2019. Inhaltlich also schon mal falsch, aber dafür laut “Bild” ganz sicher:

Am Wochenende enthüllte die britische Zeitung “Daily Mail”, dass sich bereits am 29. September eine 61-jährige Frau in Wuhan mit Corona infizierte. Nur 1500 Meter vom virologischen Institut entfernt.

Was bei “Bild” mit keinem Wort zu lesen ist: Die “Daily Mail” schreibt bei allen drei Fällen von “suspected cases”, Verdachtsfällen also, bei denen nicht gesichert ist, ob es sich tatsächlich um Corona-Fälle handelt. Besonders deutlich wird das beim angeblichen Fall aus dem September 2019, aus dem die “Bild”-Redaktion ihre Schlagzeile ableitet, und zu dem die “Daily Mail” den chinesischen Wissenschaftler mit der Aussage zitiert, dass die infizierte Person nicht getestet worden sei. Und: “The data has not been confirmed”. (Übrigens, kurzer Exkurs: Bild.de und auch bz-berlin.de betiteln weitere Texte zum “Daily-Mail”-Bericht mit: “China wusste schon seit September 2019 von Corona”. Nur gibt der “Daily-Mail”-Artikel eine derartige Schlussfolgerung gar nicht her – sondern sagt lediglich, dass ein Wissenschaftler nachträglich einen Verdachtsfall im September 2019 identifiziert haben soll.)

Und auch die “Daily Mail” lässt eine wichtige Aussage des chinesischen Wissenschaftlers weg. Das Blatt bezieht sich in seinem Artikel auf ein Mitglied der Recherchegruppe “Drastic”. Dieser Blogger sagt, er habe zumindest Teile des inzwischen zensierten Interviews der chinesischen Zeitschrift sichern können (Hinweis: Die Echtheit des Interviews beziehungsweise der Übersetzung durch das “Drastic”-Mitglied können wir nicht verifizieren). Darin auch eine nicht ganz unbedeutende Einordnung, die weder in der “Daily Mail” noch bei “Bild” zu lesen ist: “It may also be wrong data”, zitiert die chinesische Zeitschrift laut “Drastic” den Wissenschaftler, der damit die Daten der möglicherweise infizierten Person aus dem September 2019 meint.

Im “Bild”-Artikel kommt außerdem noch der renommierte Nano-Physiker Roland Wiesendanger (der sich allerdings bis zur Coronapandemie noch nie wissenschaftlich mit Viren befasst hat) zu Wort, der davon ausgeht, dass sich das Coronavirus schon im September 2019 in Wuhan verbreitet hat. “Bild” verweist auf eine Veröffentlichung Wiesendangers, die allerdings umstritten ist, weil sie, so der Vorwurf, nicht wissenschaftlichen Standards entspreche und beispielsweise keinen Peer-Review durchlaufen hat. Wiesendanger greift in seinem Paper die sogenannte Labortheorie auf, die davon ausgeht, das Coronavirus komme aus einem Labor in Wuhan. Das Dekanat der Uni Hamburg, an der auch der Physiker tätig ist, distanzierte sich von dem Papier und sprach sich dagegen aus, es überhaupt als “Studie” zu bezeichnen, sondern eher als “nichtwissenschaftlichen Aufsatz oder Meinungsäußerung”.

Das heißt nicht, dass die Labortheorie widerlegt wäre. Es gibt aber momentan eben keine handfesten Beweise dafür (und plausibel klingende Argumente dagegen). Um mehr Klarheit zu schaffen, hat US-Präsident Joe Biden unlängst die US-amerikanische Intelligence Community beauftragt zu untersuchen, ob das Virus aus einem Labor stammt. Die “Bild”-Redaktion ist sich hingegen schon jetzt ziemlich sicher:

Doch nun wurde bekannt: Corona wütete bereits lange VOR den offiziellen Meldungen in Wuhan.

Weil das Virus offenbar nicht – wie von Peking behauptet – plötzlich vom Tier auf den Menschen übersprang, sondern aus dem Labor kam.

Die US-Geheimdienste sind sich über den Ursprung des Virus hingegen nicht im Klaren, wie Joe Biden in einer Presseerklärung bekannt gab. Aber vielleicht ist die “Bild”-Redaktion der CIA ja auch einfach zwei Schritte voraus.

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Unglaubliche Podcast-Umfragen, Staatstrojaner, Kreml unsportlich

1. Russland verweigert ARD-Journalist Zugang zu EM-Spielen
(sueddeutsche.de)
Dem ARD-Journalisten Robert Kempe wurde nach Angaben des WDR die Zulassung zu den Fußball-EM-Spielen in St. Petersburg entzogen. Anscheinend ist man im Kreml äußerst nachtragend: Kempe hatte in der Vergangenheit kritisch über die WM 2018 in Russland und über das Wirken des Internationalen Olympischen Komitees berichtet. Für den Reporter sei es nicht das erste Mal, dass ihm die Berichterstattung bei Sportereignissen erschwert beziehungsweise unmöglich gemacht wird. Vor ein paar Jahren habe ihm Bahrain die Einreise und den Besuch eines anderen Fußball-Events verweigert.

2. RSF strebt Verfassungsbeschwerde an
(reporter-ohne-grenzen.de)
Reporter ohne Grenzen (RoG) hat Verfassungsbeschwerde gegen den gestern im Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition genehmigten Einsatz von Staatstrojanern angekündigt: “Ungeachtet aller Warnungen der Sachverständigen wollen die Regierungsfraktionen nun allen Nachrichtendiensten die Möglichkeit zum Hacking vertraulicher Kommunikation und Daten einräumen. Journalistinnen und Journalisten schließen sie dabei als potenzielle Ziele bewusst nicht aus”, so RoG-Geschäftsführer Christian Mihr: “Einen so massiven Angriff auf die Vertraulichkeit journalistischer Recherchen und die Anonymität von Quellen dürfen wir nicht hinnehmen.”

3. Unglaubliche Umfragen und trickige Schlüsse
(verdi.de, Kai Rüsberg)
Der Podcastmarkt ist schwierig einzuschätzen und noch schwieriger zu messen, da es verschiedenste Verbreitungswege und Plattformen gibt. Der Erfolg von Podcasts werde daher gerne über Umfragen von Meinungsforschungsinstituten wie YouGov abgefragt. Kai Rüsberg sind dabei interessante Dinge aufgefallen: Die “Wirtschaftswoche” habe in ihrer Kolumne “Digitale Welt” wortwörtlich YouGov-Formulierungen verwendet, und das sei in diesem speziellen Fall besonders bemerkenswert, so Rüsberg: “Wer ist Autor? Unglaublich: Philipp Schneider, Kolumnist der Wiwo ist Marketing-Chef bei YouGov.”

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4. “Natürlich wird es satirische Angebote weiterhin geben”
(deutschlandfunk.de, Sebastian Wellendorf, Audio: 7:59 Minuten)
Am 1. Januar 2023 soll der neue Medienstaatsvertrag in Kraft treten. Dirk Schrödter (CDU) war als Chef der Staatskanzlei in Schleswig-Holstein von Anfang an beteiligt am Gesetzentwurf und sei “für mehr Information, Bildung und Kultur und weniger Unterhaltungsangebote”. Der Deutschlandfunk hat mit Schrödter über die anstehenden Änderungen des Staatsvertrags gesprochen.

5. “Klima Update”: RTL arbeitet für neues Format mit Klimainitiative zusammen
(rnd.de)
Der Privatsender RTL strahlt ab dem 8. Juli zweimal wöchentlich das Format “Klima Update” aus. Das Format soll in Partnerschaft mit der Zeitschrift “Geo” und der im August 2020 gegründeten Initiative “Klima vor acht” entstehen. Letztere hatte sich bei der ARD lange Zeit vergeblich für ein eigenes Klimaformat eingesetzt.

6. Wo keine Villa ist, ist auch kein Weg
(uebermedien.de, Olivier David)
Nach langem Kampf sollen ab dem 1. Juli alle ZDF-Praktika mit 350 Euro pro Monat vergütet werden. Immer noch zu wenig, findet Olivier David: “Liebe Kolleg*innen des ZDF, ich habe eine schlechte Nachricht für euch: Wer Vielfalt will, sollte bereit sein mehr zu zahlen als die Miete eines 13 Quadratmeter großen Zimmers in Mainz-Bretzenheim.”