Archiv für Dezember 17th, 2020

“Bild” findet heraus: Menschen schlafen nachts

Mit drei Fotos will die “Bild”-Redaktion zeigen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) entgegen anderslautender Versprechen gar nicht “rund um die Uhr” arbeiten, obwohl sie doch über die Zulassung des Corona-Impfstoffs in der EU entscheiden müssen. Gestern Abend auf der Bild.de-Startseite:

Screenshot Bild.de - Angeblich arbeitet die EU-Arzneiaufsicht rund um die Uhr - Licht aus bei der EMA! Behörde ist für die Zulassung des Corona-Impfstoffs zuständig

Und auch heute in der Zeitung kann man den Versuch beobachten, eine Institution zu diskreditieren und Verunsicherung zu verbreiten:

Ausriss Bild-Zeitung - Impfstoff-Zulassung - Licht aus bei der EMA - Dabei arbeitet sie angeblich rund um die Uhr

Weil auf den Fotos die meisten Büros, die um 21 Uhr noch hell erleuchtet waren, um 23 Uhr dunkel sind, urteilt die “Bild”-Redaktion: “‘Rund um die Uhr’ ist dann doch etwas anderes …”. Dass Menschen, die derart bedeutende und weitreichende Entscheidungen treffen müssen und von denen viele offenbar mindestens von 8 Uhr morgens bis 21 Uhr abends arbeiten, auch mal schlafen sollten, zählt offenbar nicht. Dass manche von ihnen sich Arbeit mit nach Hause genommen haben könnten oder sich gänzlich im Homeoffice befinden (schon vor der Corona-Pandemie fand bei der EMA ein beachtlicher Teil der jeweiligen Zualssungsverfahren per Videokonferenzen statt), zählt offenbar auch nicht. Stattdessen:

Am Dienstagabend brannte bis kurz vor 23 Uhr noch in einigen Büros Licht. Dann war alles dunkel. Die letzten Mitarbeiter offenbar auch zu Hause. Um 7 Uhr morgens kehrten die ersten zurück in die Büros. “Rund um die Uhr” ist dann doch etwas anderes …

Es stimmt natürlich nicht, dass “alles dunkel” war, und “die letzten Mitarbeiter offenbar auch zu Hause” waren. Man sieht auf der 23-Uhr-Aufnahme schließlich noch Licht in manchen Büros. Bild.de änderte den Absatz später klammheimlich in:

Am Dienstagabend brannte bis kurz vor 23 Uhr noch in einigen Büros Licht. Dann sind fast alle Lichter aus. Ab 7 Uhr gehen in vielen Büros die Lichter wieder an. Und es wird weiter an der Zulassung des Corona-Impfstoffs gearbeitet…

Ralf Schuler, Leiter des “Bild”-Parlamentsbüros, findet, die EMA-“Entscheider” sollten sich ein Beispiel an den “Autobahn-Bauern” nehmen: “Autobahn-Bauer arbeiten nachts, die Entscheider in der Krise nicht”, schreibt Schuler bei Twitter. Nun sind die Autoahn-Bauer, die nachts arbeiten, ja in der Regel nicht dieselben, die auch schon tagsüber gearbeitet haben. Auch diese Nachtarbeiter haben mal Pause und dürfen irgendwann mal schlafen. Und allein das Einführen eines Schichtbetriebs mit beispielsweise zwei Schichten bringt nicht von selbst eine Verdoppelung der Arbeitsleistung. Wenn die eine Hälfte tagsüber zwölf Stunden arbeitet, und die andere Hälfte nachts zwölf Stunden arbeitet, dann ist zwar die ganze Zeit das Gebäude erleuchtet, und “Bild” könnte nicht polemisieren, am Ende haben aber immer noch alle zwölf Stunden gearbeitet. Man müsste schon die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhöhen, um auch die Arbeitsleistung zu erhöhen.

Außerdem haben eine ganze Reihe von Abteilungen der EMA überhaupt nichts mit der Zulassung des Covid-19-Impfstoffs zu tun. Oder sollte aus “Bild”-Sicht etwa auch der Ausschuss für Tierarzneimittel in der aktuellen Lage besser nachts die Stellung im Büro halten?

Aber zurück zu den Fotos vom EMA-Gebäude. Die Perspektive, die die “Bild”-Medien gewählt haben, zeigt die Ostseite des sogenannten Vivaldi Buildings. Neben einer schmaleren Nord- und einer schmaleren Südseite gibt es natürlich auch noch eine Westseite, die bei “Bild” nicht zu sehen ist. Sie ist größer als die Ostseite, denn um das Gebäude herum liegt eine Art Hufeisen – allerdings nur auf der Westseite. Dort befinden sich laut Grundriss (PDF) beispielsweise auch alle großen Konferenzräume. Ob auf der Westseite am Dienstag um 23 Uhr noch die Lichter brannten, wissen wir selbstverständlich auch nicht. Es zeigt sich aber, wie unvollständig das Bild ist, das die “Bild”-Medien für ihre Artikel nutzen.

Hinzu kommt: Bei der 23-Uhr-Aufnahme, die auf der Bild.de-Startseite zu sehen war, hat die Redaktion getrickst, damit das Gebäude noch dunkler aussieht. In den unteren Stockwerken brannte durchaus großflächig Licht. Das ist im Bild.de-Artikel klar zu erkennen. Bei der Version auf der Startseite hat die Redaktion offenbar selbst nachgedunkelt. Hier der Vergleich:

Screenshot Bild.de - zu sehen sind zwei Aufnahmen des EMA-Gebäudes um 23 Uhr, eine von der Bild.de-Startseite, eine aus dem Bild.de-Artikel.
(links von der Bild.de-Startseite, rechts aus dem Bild.de-Artikel)

Bei einem Foto, bei dem es ausschließlich darum geht, wie viele Büros erleuchtet sind und wie viele dunkel, selbst per Photoshop Büros abzudunkeln – den Willen, auf so eine Idee zu kommen, muss man erstmal haben.

Mit Dank an Moritz K. für den Hinweis!

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Geheimdienst-Überwachung, Corona trifft Medien, “Tagesschau”-Beta

1. Bundesregierung beschließt Geheimdienst-Überwachung wie zu Snowden-Zeiten
(netzpolitik.org, Andre Meister)
Die Bundesregierung will die Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes ausweiten, trotz vielfacher Kritik von Thinktanks, Journalistinnen und Journalisten, Pressefreiheits-NGOs, Internet-Verbänden und dem Bundesdatenschutzbeauftragten. Der Auslandsgeheimdienst dürfe eigentlich keine Deutschen überwachen, doch das neue Gesetz eröffne dafür vielfältige Möglichkeiten. Andre Meister kommentiert: “Als Edward Snowden nachwies, dass Geheimdienste so handeln, war das ein weltweiter Skandal. Heute legalisiert die Bundesregierung dieses Treiben. Und weitet es aus: Im Snowden-Jahr 2013 bekam der BND noch 531 Millionen Euro Steuergelder, nächstes Jahr bekommt er erstmals mehr als eine Milliarde Euro.”

2. Rums ist Preisträger des #Netzwende-Award
(vocer.org)
Der von der Rudolf Augstein Stiftung, der “Zeit”-Stiftung und dem Medien-Thinktank “Vocer” vergebene Netzwende-Award geht dieses Jahr an das lokaljournalistische Digitalangebot “Rums” aus Münster (Transparenzhinweis: BILDblog-Autor Ralf Heimann ist dort federführend tätig). Der erstmals vergebene Netzwende-Konzeptpreis geht an das Hamburger Newsletter-Magazin “Flip”.

3. Wirtschaftlich unbedeutend
(kontextwochenzeitung.de, Minh Schredle)
Der mit der “Badischen Zeitung” verbundenen Wochenzeitung “Der Sonntag” lag unlängst ein zwölfseitiges Blättchen namens “Stadt im Blick” bei. Erst im Impressum tauchte der Hinweis auf, dass die AfD hinter der Beilage stecke. Minh Schredle hat sich das Blatt näher angeschaut und dabei ein Interview mit Dubravko Mandic entdeckt: “Der Mann, der seit Mai 2019 für die AfD im Gemeinderat sitzt, ist in Freiburg und darüber hinaus kein Unbekannter. Umso sonderbarer erscheint die Entscheidung des Badischen Verlags, dem wohl bekanntesten Rechtsextremisten der Region eine Plattform in gut getarnter Anzeigenform zu geben. Weniger verwunderlich ist dagegen der Shitstorm, den sich die Zeitung bei ihrem Publikum eingehandelt hat.”

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4. Es gibt deutlich zu viele Mitläufer.
(planet-interview.de, Jakob Buhre)
Jakob Buhre führt sein Gespräch mit dem Journalisten Stephan Anpalagan fort, das er bei web.de begonnen hat. Anpalagan setzt sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus ein und engagiert sich als Mitgründer bei der Initiative Demokratie in Arbeit. Im Interview geht es um den medialen Umgang mit der AfD, um Antifa-Methoden und -Verdienste sowie um die teils menschenverachtende Sprache von manchen Politikerinnen und Politikern.

5. Die Corona-Krise trifft Europas Medien hart
(de.ejo-online.eu)
Die Corona-Pandemie hat erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf Medien in ganz Europa. Die einbrechenden Werbeeinnahmen führen vielfach zu Kurzarbeit und Entlassungen. Beim “European Journalism Observatory” hat man sich angeschaut, wie sich die Krise in den Ländern Deutschland, Georgien, Großbritannien, Italien, Lettland, Polen, Portugal, Spanien und der Ukraine auswirkt, und wie es für die Medien dort weitergehen könnte.

6. Ein frischer Anstrich und mehr Börsen-Nachrichten für tagesschau.de
(blog.tagesschau.de, Juliane Leopold)
Die “Tagesschau” überarbeitet ihre Onlinepräsenz: “Heller, luftiger und optimiert für die mobile Nutzung”, heißt das Motto. Außerdem wolle man das Angebot von boerse.ARD.de integrieren und die Wirtschaftsberichterstattung ausbauen (was allerdings gleichzeitig heißt, dass das einst eigenständige Börsen-Portal geschlossen wird). Wer neugierig ist: Einen ersten Eindruck liefert die Beta-Version unter beta.tagesschau.de. Ein wie immer aufmerksamer Beobachter ist anscheinend der Bundesverband der Digitalpublisher und Zeitungsverleger, wie Daniel Bouhs auf Twitter kommentiert: “Dem @BdzvPresse ist ‘auf den ersten Blick’ aufgefallen, dass Audio/Video entweder gleichberechtigt mit den Texten dargestellt werde oder ‘bloß Beiwerk’ sei. Vom Verband heißt es, man sehe sich das nun näher an: ‘Das werden unsere Mitglieder prüfen und dann sicher auch das Gespräch mit der ARD suchen.'”